«Big Brother» in den USA – ein Zuschau-Experiment

Auch in der 15. Staffel ist «Big Brother» in den USA ein Sommerhit. Was macht die Faszination aus, wie spannend ist das Format? Redakteur Jan Schlüter begab sich auf die Suche nach Antworten und verfolgte das US-«Big Brother». Ein Selbstversuch…

Quoten von «Big Brother» USA

Zuletzt sahen rund sieben Millionen des Gesamtpublikums zu, damit lag man rund 15 Prozent über den Werten des Vorjahres. Beim werberelevanten Publikum erreicht das Format derzeit acht Prozent Marktanteil, einen Punkt mehr als 2012. Seit acht Jahren bewegen sich die «Big Brother»-Zahlen in den USA auf konstant gutem Niveau zwischen rund 6,5 und 8 Millionen Zuschauern im Schnitt. Die Reality-Show wird jährlich im Sommerprogramm von CBS gezeigt.
Es ist das große Container-Fernsehen namens «Big Brother», das derzeit in den USA wieder einmal für starke Einschaltquoten sorgt – man könnte auch sagen: Es ist der altbekannte TV-Sommerhit, den die amerikanischen Zuschauer mal wieder abfeiern. Als leidenschaftlicher Fernsehzuschauer und –redakteur (und als Versuchsobjekt) will ich dieses Phänomen ergründen; bewusst habe ich mich vorab kaum über die amerikanische Variante des weltweit beliebten Franchise informiert. Was ich jedoch weiß: «Big Brother» wird dort mehrmals pro Woche gesendet, in der Primetime – also anders als im deutschen Fernsehen, wo RTL II nur montags auf eine große Abendshow setzte und die sogenannten Tageszusammenfassungen jeweils am Vorabend zeigte.

Außerdem ist das amerikanische «Big Brother» in diesem Sommer nochmals erfolgreicher als 2012. Irgendeine Faszination muss dieses Format doch ausüben können inmitten der fast flächendeckend sinkenden Quoten für das amerikanische Reality-Fernsehen: Frühere Hits wie «The Biggest Loser» oder «The Apprentice» haben längst ihren Glanz verloren, selbst Castingshows wie «American Idol» verlieren Millionen Zuschauer – der „Große Bruder“ bleibt die positive Ausnahme. Aber warum?

Im Selbstversuch schaue ich zwei aktuelle Folgen des US-«Big Brother», unvoreingenommen und möglichst objektiv: In dieses Experiment gehe ich nicht als eingefleischter «Big Brother»-Fan, der ich ohnehin nie war. Dieses Reality-Franchise und ich, wir waren nie enge Freunde. Selbstredend habe ich die erste deutsche Staffel im Jahr 2000 verfolgt, aber wer hat das nicht? Auch die zweite Runde hatte mich noch als Zuschauer, dann wieder die fünfte im Jahr 2004, als die Staffel erstmals über 365 Tage ging – und das Haus in drei Wohnbereiche einteilte (reich, normal und arm), zwischen denen die Bewohner wechselten. Sogenannte Challenges, mit denen man in bessere Wohnbereiche aufsteigen konnte, wurden damals bedeutender.

Rund acht Jahre ist es also her, dass ich bewusst vor dem Fernseher gesessen und «Big Brother» geschaut habe. Nach der elften Staffel im Jahr 2011 legte RTL II das Format vorerst auf Eis; seit rund zwei Jahren ist hierzulande keine Container-Staffel mehr ausgestrahlt worden. Mittlerweile hat sich Sat.1 die Rechte gesichert, zeigt im September eine Promi-Variante. Das originale, echte «Big Brother» aber, das ich aus früheren Staffeln kenne und das ich gern wiedersehen würde – ich hoffe es in der amerikanischen Version zu finden.

So also startet mein Selbstversuch, die Faszination von «Big Brother» in den USA zu ergründen. Ich beginne mit Episode 14, es ist das Ende der fünften Woche im Container. Im Vorspann wird mir nähergebracht, was zuletzt passierte: Bewohnerin Aaryn scheint ein intrigantes Spiel zu spielen, sie versucht andere in ihre Pläne einzuweihen. Worum es geht? Um Nominierungen, eine wichtige Währung im «Big Brother»-Universum. Schon immer war es so, dass die Bewohner sich untereinander nominieren, einer von den Meistnominierten muss am Ende der Woche das Haus verlassen – wer das letztlich ist, entscheiden in den USA ebenfalls die Bewohner selbst.

Aaryn also ist offenbar die zentrale Person in der aktuellen Phase dieser «Big Brohter»-Staffel. Sie hat sich in einer Challenge den Titel als „Head of Household“ – also als eine Art Hausvorsteher – erspielt und darf gemäß der Regeln derzeit nicht nominiert werden. Brisanz mit dieser bildschönen, aber wohl hinterhältigen College-Studentin ist also vorerst garantiert…

Und einen weiteren Vorteil hat der Hausvorsteher: Er darf dem US-Konzept zufolge zwei Bewohner nominieren, die sich der Abstimmung stellen müssen – und ist damit die mächtigste Person in der ganzen Show. Diese Macht verleitet zum hinterlistigen Spiel, wie Aaryn es praktiziert: Sie schloss in der Vorwoche einen Deal mit ein paar anderen Bewohnern, um selbst im Haus zu bleiben. Wenn die Bewohner sie nicht rauswählen, dann muss Aaryn als Hausvorsteherin deren Nominierungswünsche befolgen. Die Situation ist nun eingetreten – und allmählich spricht sich überall herum, dass einige Bewohner einen Deal gemacht haben.

Schnell erkenne ich als neuer «Big Brother»-Zuschauer, dass sich im Haus längst ein sozialer Mikrokosmos gebildet hat – mehrere Feindlinien, mehrere Grüppchen, die gegeneinander intrigieren. Es fallen Sätze wie: „Wir sind Feinde“ oder „Ich hoffe, dass ich keinen Pakt mit dem Teufel eingegangen bin“. Das Konzept erscheint mir anfangs komplex, erschließt sich aber schnell. Und es bietet viel Freiraum für die Bewohner, untereinander mit Stimmen und Nominierungen zu handeln. Ein großer Vorteil der US-Version ist, dass die Bewohner nicht nur die Nominierten bestimmen, sondern später auch denjenigen, der endgültig das Haus verlässt. In der deutschen Version entschieden dies beispielsweise die Zuschauer per Telefon-Abstimmung, sodass der Handlungsspielraum für die Bewohner selbst eingeschränkt war.

Etwas anderes fällt durch seine Abwesenheit auf: In der US-Version gibt es keine formal getrennten Wohnbereiche, keine Bewohnergeheimnisse oder ähnliches. Es scheint, als hätte das amerikanische «Big Brother» deutlich mehr von der Ursprungsidee erhalten können als das deutsche Pendant. Hierzulande machte das Format Schlagzeilen mit C-Promis, Pornodarstellern und nackten Tatsachen – kurz: mit Provokationen. Keine Spur davon ist in der Variante zu erkennen, die ich gerade schaue.

Im Gegenteil scheint man hier Wert auf eine ausgewogene Mischung an normalen Kandidaten zu legen, die nicht ins «Big Brother»-Haus einziehen, um eine Starlet-Karriere zu starten. Da gibt es besagte College-Studentin, einen jungen Professor, eine Polit-Beraterin, einen Arbeitslosen, einen Pizzaboy. Erstmals fällt mir auf, als ich diese Zeilen niederschreibe: Dieses «Big Brother» ist angenehm unaufgeregt, sympathisch, überraschend unskandalös. Und trotzdem spannend. Ich habe tatsächlich Spaß beim Zuschauen.

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Zurück zu Aaryn, zurück zu Episode 14 von «Big Brother»: Als Hausvorsteherin muss sie am Abend (öffentlich!) die Nominerungen entscheiden, und sie sollte sich an ihre geheim getroffenen Abmachungen halten. Das Problem: Da sich die Dealerei herumgesprochen hat, versuchen nun mehrere Bewohner, auf Aaryn einzuwirken, um sich vor einer Nominierung zu schützen. Aaryn merkt, wie schwer es ist, in diesem Spiel zu bestehen: Hält sie die vorherige Abmachung ein, macht sie sich gleich mehrere Feinde und spaltet die Hausgruppen vielleicht endgültig. Entscheidet sie anders, bricht sie ihren Deal – und macht sich wohl damit wohl komplett unglaubwürdig. Aaryn wiegt ab und will die für sie beste Entscheidung treffen, das heißt: die Entscheidung, mit der sie selbst ihr langfristiges ‚Überleben‘ im Haus sichert. Der Druck auf Aaryn wächst, am Ende aber nominiert sie wie im Deal vereinbart. Sie hat ihre Integrität bewahrt, vorerst. Aber ist sie nicht nur eine Marionette im Plan derjenigen, die den Deal mit ihr vereinbart haben?

Zur Abwechslung zeigt «Big Brother» auch mitunter ganz alltägliche Szenen: Yoga-Übungen der Bewohner, Essensgespräche, kleine Liebeleien. Und es gibt Aufgaben, bei denen zwei Gruppen gegeneinander antreten. Die Verlierergruppe wird in der Folgewoche sanktioniert, beispielsweise mit kaltem Duschwasser. Einen prominenten Platz nehmen diese Challenges aber nicht ein, auch wenn sie von prominenten Paten per Videoschalte präsentiert werden. In Folge 14 war Poppy Montgomery («Unforgettable») dabei.

Die nächste Episode, die ich mir anschaue, zeigt die Bewohner nach den Nominierungen – und da Aaryn ihr Wort gehalten hat, bleiben neue Streitereien zunächst aus. Vielmehr gibt es tröstende Worte für die Nominierten und anerkennenden Zuspruch für Aaryn. Und die Gespräche zwischen den Bewohnern beginnen: Wer von den Nominierten soll rausgewählt werden, wer schadet dem Haus am meisten? Als Ziel wird schnell Howard auserkoren, ein Jugendberater. Er hat im Haus eine Allianz geschmiedet, diese ist jedoch offenbar längst gebröckelt.

Zwei weitere konzeptuelle Kniffe erschließen sich in Folge 15: Zunächst gesellt sich zu den zwei Nominierten ein Dritter, der von den Zuschauern bestimmt wird. Und zweitens gibt es eine Veto-Challenge, bei der alle Bewohner mitmachen. Der Gewinner darf einen der drei Nominierten schützen – dieser kann dann nicht mehr aus dem Haus gewählt werden. Die Challenge besteht diesmal daraus, in einem steinzeitlichen Garten Teile einer Skulptur zu finden und diese richtig zusammenzusetzen. Harmlose, aber spaßige Spiele finden sich hier – offenbar setzt «Big Brother» selbst bei den Challenges nicht auf einen Action- oder Ekel-Faktor. Das Spiel selbst gewinnt nicht Howard, sondern Spencer, der ebenfalls auf der Nominierungsliste steht – und sich per erspieltem Veto selbst sichert.

Nach diesen zwei Folgen «Big Brother» ist mein Selbstversuch beendet. Ich erfahre, dass Howard am Ende der nächsten Episode tatsächlich aus dem Haus gewählt wird – und ich ertappe mich dabei, dass ich an dieser Show interessiert bleibe: Daran, wie die Bewohner nominieren; daran, welche neuen Abmachungen getroffen werden; daran, ob Aaryn mit ihrer Taktik weiter erfolgreich ist. Die Faszination, die «Big Brother» seit Jahren in den USA ausübt, erschließt sich mir ein wenig: Es ist nahezu das ursprüngliche Konzept selbst, das auch heute noch funktioniert. Es wurde kaum verwaschen mit konzeptuellen Spielereien, die Dramaturgie und Schlagzeilen produzieren sollen, wie man es in Deutschland versuchte. Nein, es ist tatsächlich ein wenig das ursprüngliche «Big Brother» aus dem Jahr 2000, an das ich mich hier erinnert gefühlt habe.

Einen Nachteil hat die US-Variante durch ihre nicht tägliche Primetime-Ausstrahlung: Der Live-Charakter des Konzepts entfällt fast gänzlich; als Zuschauer hat man nicht das Gefühl, mitzuerleben, was die Bewohner heute oder gerade treiben. Durch die drei Ausstrahlungen pro Woche werden Geschichten gestrafft. Diese Entbehrungen nehme ich aber gern in Kauf dafür, dass hier erstaunlich bodenständiges, leises und klassisches Reality-Fernsehen gezeigt wird – offenbar ohne Hang zum Skandal oder zur Schlagzeile. Vielleicht hätte ich es ahnen können: Schließlich sind auch hierzulande skandalträchtige Reality-Sendungen in den USA viel harmloser, beispielsweise «Das Supertalent» («America’s Got Talent») oder «Deutschland sucht den Superstar» («American Idol»).

Warum gerade deutsches Reality-TV so krawallig ist – und deswegen so in Verruf geraten –, bleibt die Frage, die sich mir nun am ehesten stellt. Wieder einmal. Denn für US-Zuschauer ist ruhiges Reality-Fernsehen wie «Big Brother» wohl normal, für mich als deutschen Zuschauer war es völlig überraschend – aber im positiven Sinne: Dieses Zuschau-Experiment ist auf ganzer Linie geglückt.
05.08.2013 11:48 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/65326