Der Film des Monats: Erst ließ er die Nazis bluten, nun schießt er Sklavenhalter zu Brei: Quentin Tarantino wildert wieder in der Geschichte und erhebt Jamie Foxx in «Django Unchained» zum überlebensgroßen Racheengel.
Quentin Tarantinos Fans sind sich in dieser Frage uneinig, der Meister unter den postmodernen Autorenfilmern hat sich dagegen mit Eifer entschieden, welcher seiner Filme sein Meisterwerk darstellt. Der cinephile Kultregisseur erachtet seine geschichtsrevisionistische Zweiter-Weltkriegs-Fantasie «Inglourious Basterds» als sein alles überstrahlendes Magnum Opus, was er bereits durch einen die Kinoleinwand transzendierenden, vergnügt selbstgefälligen Dialogfetzen statuierte. Genauer gesagt nicht nur mit irgendeinem Dialogstück, sondern mit dem Satz, der Tarantinos mutige Mischung aus Kriegsexploitation, Spaghettiwestern, Comicbuchlogik und eloquentem Charakterstück abschließt. Von seiner europäische Geschichte umdeutenden Träumerei beflügelt, öffnet der Ex-Videothekar mit «Django Unchained» ein zweites Mal ein alternatives Geschichtsbuch – und es wäre kein Tarantino-Werk, würden nicht erneut munter Genregrenzen durchbrochen, filmische Gattungen gekreuzt und Versatzstücke aus obskurem, vergessenem sowie popkulturell unsterblichem Filmmaterial zu etwas völlig Neuem verbaut.
Um die Heldenreise Djangos nicht zu untergraben, verzichtete der Kultregisseur auch auf viele der für ihn typischen Stilmittel der Distanzierung. Von wenigen kurzen Rückblenden abgesehen ist «Django Unchained» strukturell schlicht geraten, weder erzählt Tarantino seine Geschichte in chronologisch bunt gemischten Abschnitten, noch blickt er zu deutlich von einer Metaebene auf den Inhalt herab. Selbst von der Einteilung in semi-unabhängige Kapitel, die noch «Inglourious Basterds» ausmachte, sieht der Oscar-Preisträger ab. Stattdessen befolgt er, so regelkonform wie es einem Kinoanarchisten wie Tarantino möglich ist, eine klassische Drei-Akt-Struktur. Mit dieser wiederum zieht «Django Unchained» eine beeindruckend ungezügelte Schneise durch das cineastische Erbe, in deren Tradition diese Produktion steht.
Stellt der Spaghettiwestern das Fundament von «Django Unchained» dar, mischt der keine Unterschiede zwischen Hoch-, Pop- und Undergroundkultur machende Drehbuchautor mit vermeintlicher Sorglosigkeit Verweise auf bleilastige Asia-Action wie John Woos «A Better Tomorrow II», filmhistorische Urwerke wie «Die Geburt einer Nation» oder den modernen Gangsterfilm unter Djangos Werdegang vom Unterjochten zur nahezu surreal fähigen Heldenfigur. Es ist Tarantinos sicherer Hand zu verdanken, dass man keinerlei Vorwissen braucht, um diesen Wust an Referenzen zu genießen, denn die eigentliche Handlung ist mitreißend und unterhaltsam genug, um auf eigenen Beinen zu stehen – zudem unterstützen die Stilwechsel stets das originäre «Django Unchained»-Material. Ist die Gewalt eingangs abstoßend übertrieben, steigert sie sich bis zu Djangos großem heroischen Moment in eine comichaft aufgesetzte, sich selber zelebrierende Orgie von Blut, die obendrein akustisch von sattem Gangsterrap begleitet wird.
Auch ein inszenatorisches Wunderkind wie Quentin Tarantino käme mit seinen Spielereien niemals durch, stünde ihm kein fähiges Ensemble zur Verfügung. «Django Unchained» bietet zwar keine derart coolen Performances wie «Pulp Fiction» oder die ausgereiften Kernfiguren eines «Inglourious Basterds», dessen ungeachtet bietet auch Tarantinos Neuster einige denkwürdige Darbietungen. Dabei sind die Nebendarsteller die wahren Stars des Films: Christoph Waltz schenkt dem Kinopublikum nach dem erschreckend charmanten Fiesling Hans Landa aus «Inglourious Basterds», dessen Charisma man sich mit aller Macht verwehren wollte, eine Figur, die man mögen darf. King Schultz ist eine aufgeblasene Laberbacke, doch der deutsche Kopfgeldjäger hat das Herz am rechten Fleck und lässt nur jene unter seinem arroganten Witz leiden, die es verdient haben. Django gegenüber tritt er als liebevoller Mentor auf und es sind die gemeinsamen Szenen mit Waltz, in denen Jamie Foxx seiner Rolle die meisten Facetten abgewinnen kann. Gegenüber Waltz wächst Django vom erschöpften, geschundenen Mann mit starkem Willen zum coolen Revolverhelden, um dann zu ungeduldig zu werden und mühevoll wieder den Weg zurückzufinden. Wenn Foxx auf sich gestellt ist, kommt sein Titelheld zu einseitig selbstbewusst daher – umso genüsslicher und komplexer sind dagegen die beiden Fieslinge, denen er sich stellen muss.
Sind die Figurenentwürfe und deren Umsetzungen unterm Strich auf gewohnt hohem Tarantino-Niveau, unterliegen die Dialoge dem kunstvollen Umgang mit Sprache aus «Inglourious Basterds». War der dreisprachige Kriegsfilm ein Glanzstück an sprachlicher Raffinesse, gelingen «Django Unchained» keine erstaunlichen Kunststücke. Trotzdem kommen auch in diesem Film den Figuren wieder einmal ausführliche, magnetische Monologe über die Lippen, die in diesem Fall vor allem Waltz und DiCaprio für sich pachteten. Ebenso begnügt sich die Kameraführung auf Referenzen und atmosphärische, einprägsame Bilder, während «Inglourious Basterds» zahlreiche vielsagende Bildmetaphern bot, wie etwa ein auf Rauch projiziertes Bild einer sich in ihrer Rache suhlenden Jüdin, die auf in einer tödlichen Falle gefangene Nazis herabblickt. Solch visuelle Geschichtskommentare beschränken sich in «Django Unchained» darauf, dass Kameramann Robert Richardson blutbespritzte Baumwolle auf Zelluloid bannt.
Allerdings ist dieses fast schon opernartige Übertreiben Teil des Hintergrundgedanken von «Django Unchained», die Geschichte eines einzelnen Ex-Sklaven wird konsequent überhöht. Nicht umsonst zollt Tarantino im Laufe des Films sogar deutscher Sagenkultur seinen Tribut. Django, der geborene Rächer, dem man seinen filmischen Freiraum erlauben muss. Nach cineastischem Lehrbuch ein Fauxpas, doch Tarantino darf das. Als Nachfolgewerk zu Tarantinos selbst erkorenem Meisterwerk erlaubt sich «Django Unchained» ein erhöhtes Maß an ungeschliffenen Ecken und Kanten, was durch die Willenskraft aller am Film Beteiligten mehr begeistert, denn verärgert. Anders gesagt: Ungehobelt, makelbehaftet, überdimensional, faszinierend. «Django Unchained» ist tatsächlich die Rückkehr des Spaghettiwesterns.