Die Kino-Kritiker: «Life of Pi - Schiffbruch mit Tiger»

Der junge Pi kann sich nach einem Schiffsunglück auf ein Beiboot retten. Doch darin lauert ein Tiger.

Ang Lee einem speziellen Genre zuzuordnen ist äußerst schwierig, Spuren eines Dramas lassen sich jedoch in jedem seiner Werke wiederfinden. Vor mittlerweile 17 Jahren begann der gebürtige Taiwaner seine US-Karriere mit der Adaption des Jane Austen-Romans «Sinn und Sinnlichkeit». Weniger dramatisch, dafür aber umso actionreicher ging es im Fantasyspektakel «Tiger & Dragon» zu, bevor sich Lee im Jahr 2003 an die filmische Umsetzung der Hulk-Comics machte, die sträflich unterschätzt wurde.

Beirren ließ sich der Filmemacher dadurch allerdings nicht und lieferte zwei Jahre später mit «Brokeback Mountain» sein zurecht oscarprämiertes Meisterwerk ab. Nach einem Ausflug nach Woodstock nahm sich der 57-jährige Regisseur nun erneut einem Roman an und kehrt zum Drama zurück. «Life of Pi» ist der erste Versuch Lees, seine Visionen mit der aktuellen 3D-Technik zu erzählen. Dies gelingt ihm gerade auf der Bildebene nahezu oscarreif.

Pi Patel (Suraj Sharma) ist der Sohn eines indischen Zoodirektors. Eine Katastrophe führt dazu, dass er mitten auf dem Ozean, abgeschnitten von der Außenwelt, in einem Rettungsboot dahintreibt. Dieses teilt er sich mit dem einzigen anderen Überlebenden: einem furchteinflößenden bengalischen Tiger namens Richard Parker, zu dem er eine wundersame und unerwartete Verbindung aufbaut.

Pi nutzt seinen ganzen Einfallsreichtum, um den Tiger zu trainieren, seinen Mut, um den Elementen zu trotzen, und schlussendlich seinen Glauben, um die Kraft aufzubringen, sie beide zu retten. Die schicksalhafte Reise des Teenagers wird dabei zunehmend ein episches Abenteuer voller gefährlicher Entdeckungen und Erlebnisse.

Buntgefiederte Vögel, exotische Tiere und eine malerische Kulisse: «Life of Pi» beginnt mit einer Schwärmerei in harmonischen und friedseligen Bildern. Ein Tenor, den Regisseur Ang Lee stets beibehält, weil er sich bewusst ist, welche Wirkung seine Bildsprache haben wird. Doch auch in Passagen, in denen Dialoge und für die Handlung wichtige Gespräche im Vordergrund stehen, setzt Lee auf die richtigen Mittel. Besonders die einleitende Unterhaltung zwischen dem namenlosen Schriftsteller (Rafe Spall aus «Prometheus – Dunkle Zeichen» und «Anonymous») und dem erwachsenen Pi gerät schnörkellos und deswegen authentisch und freundlich. Wir sitzen im Haus von Pi mit beiden im Wohnzimmer und lauschen den Worten des Inders, die von Irrfan Khan («The Amazing Spider-Man») bedacht und ruhig vorgetragen werden.

Die schwierige Aufgabe, die erfolgreiche Buchvorlage von Yann Martel in ein Spielfilmskript umzusetzen, fiel dem Drehbuchautoren David Magee («Wenn Träume fliegen lernen») zu, der den Original-Roman selbst las und sich im Nachhinein fragte, wie er das eben Gelesene für die Leinwand umschreiben solle. Glücklicherweise hat er es dennoch versucht und liefert ein großartiges Ergebnis ab. Er nimmt sich Zeit, die Charaktere gewissenhaft einzuführen, so dass Pis Taten und Gedanken nachvollziehbar werden.

Im ersten Akt findet der Junge zu sich und Gott, indem er gleich drei Religionen ausübt. Das wiederum ruft bei einem familiären Abendessen Pis Vater auf den Plan, der seinem Sohn rät, sich für eine Glaubensrichtung zu entscheiden. Ebenso humorvoll (der Name Pi hat rein gar nichts mit der berühmten Kreiszahl zu tun, sondern mit einem Schwimmbad) wie eindringlich (die erste Begegnung mit dem Tiger Richard Parker) ist die Findungsphase, die einen optimalen Zugang zum eigentlichen Abenteuer gewährleistet.

Auf hoher See tobt sich Ang Lee dann wahrhaftig aus, was Tricktechnik, opulente Bilder und Emotionen angeht. Gedreht wurde im größten Wellentank der Welt, zu sehen ist davon im Film rein gar nichts mehr. Da ist nichts als endloses nasses Blau, auf dem ein kleines Rettungsbötchen mit einem Tiger und einem Menschen an Bord umherschaukelt. Auch wenn einige Aufnahmen mit lebendigen bengalischen Tigern angefertigt wurden, entstand das Tier hauptsächlich am Computer. Der Spannung und Glaubwürdigkeit tut das jedoch keinen Abbruch, die Reaktionen und das Interagieren zwischen Tiger und Pi sind so flüssig, dass nicht auseinander zu halten ist, was nun real und was Trickserei ist. Außerdem darf man nicht vergessen, dass Suraj Sharama in der Titelrolle sein Schauspieldebüt gibt und sich mit seiner Performance ganz klar für weitere Projekte empfiehlt.

Lee verpackt die Überlebensgeschichte auf dem Meer in magischen Impressionen. Wenn die Nacht hereinbricht, die leuchtenden Quallen im ganzen Ozean das Schiff umgeben und ein riesiger Wal aus dem Wasser emporsteigt, sorgt die Inszenierung für traumhaft schöne Momente. Die Annäherung zwischen Pi und seinem fauchenden Gefährten bildet das mitreißende Pendant. Auf einer nur von Erdmännchen bevölkerten Insel, die ein tödliches Geheimnis birgt, merken Pi als auch Parker, dass sie ohne den jeweils anderen längst gestorben wären.

«Life of Pi» ist einerseits eine moderne «Robinson Crusoe»-Variante, andererseits eine vielschichte Erzählung über wahre Freundschaft und den Glauben an eine höhere Macht. Letztere wird stellenweise und vor allem gen Ende etwas zu dick aufgetragen und mit dem moralischen Zeigefinger präsentiert. Zur Weihnachtszeit mögen nicht ganz so gläubige Zuschauer darüber vielleicht hinwegsehen und sich dafür an der faszinierenden Bilderflut und abenteuerlichen wie berührenden Geschichte erfreuen. Ob die Academy-Jury das mit einer goldenen Statue belohnt, werden wir Ende Februar wissen.

«Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger» startet am 26. Dezember in den deutschen Kinos. Der Film ist sowohl in 2D als auch in 3D zu sehen.
25.12.2012 11:45 Uhr  •  Janosch Leuffen Kurz-URL: qmde.de/61111