Uwe Walter: Keine Angst vor Emotionen

Warum ist «X Factor» in den USA ein Erfolg, nicht aber hier in Deutschland?

In einer Zeit, in der „scripted“ eines der meistgedruckten Wörter in deutschen Fernsehzeitungen ist, macht man mit einer Sache garantiert Quote: mit echten Gefühlen.

Soweit die Theorie. Denn in Deutschland schaffen wir es fast durchgängig, durch Kameraführung, Schnitt, Voice Over und mangelndes Storytelling genau dort Distanz zu schaffen, wo Nähe entstehen könnte. Wie z.B. bei «X Factor». Dass die Quote immer mehr nach unten geht, ist kein Geheimnis. Warum unsere Fernsehmacher lizensierte Formate aber auf Biegen und Brechen eindeutschen und damit erkalten lassen, das ist schon irgendwie schwer zu verstehen. Und das, obwohl man einfach nur genau hinschauen müsste, wie das englischsprachige Original seine Zuschauer in den Bann zieht.

1. Kameraführung und Schnitt
Kameraführung bei «X Factor Deutschland» – das ist in der Phase vor den Live Shows eine Mischung aus «Popstars» in seinen ganz schlechten Zeiten und dem «ZDF Fernsehgarten». Während die aktuelle Staffel von «X Factor US» Schwenks nutzt, um die atemberaubende Szenerie zu zeigen und damit den Gesang der Kandidaten emotional zu stützen, filmen wir stumpf das Studiopublikum ab.

Die Sänger bekommen extrem wenig Close Ups und Kamerazeit. Frontal ins Gesicht filmen, um die Gefühle der Kandidaten zu zeigen? Das geht nur in den USA und in England. In Deutschland zoomt man lieber zackig ans Publikum oder auf den erstarrten Juror. Wir bleiben Beobachter und schauen nochmal zu, wie die Kamera ranfährt und dann hoffentlich schnell wieder weg. Wir haben keine Chance, den Song oder die Situation mitzufühlen. Nah am Kandidaten und seinem Erlebnis bleiben? Warum denn? Schließlich ist eine Castingshow ein eingekauftes Konzept, das ja woanders auch funktioniert hat. Aber: nur die zielgerichtete, konzentrierte Führung des Zuschauerauges lässt eine Identifikation mit den Kandidaten zu. Konzentriert und still deshalb, weil genau diese Kameraführung den Tunnelblick eines Kandidaten in solch einer Situation nachahmt. Wir halten die Luft an und suchen das Gesicht der Juroren nach Hinweisen ab – als würde es um unser Leben und unsere Zukunft gehen.

2. Voice Over – Die Erzählstimme
In Deutschlands Fernsehlandschaft werden Voice Over schon seit Jahren völlig beliebig eingesetzt. Wenn es bei «X Factor» heißt

"Bereits seit Kindertagen stand XY auf der Bühne und hat Erfahrungen gesammelt."

heißt es bei «Bauer sucht Frau»

„Bereits in Kindertagen stand XY im Stall und hat beim Melken geholfen.“

Was bei «X Factor» die „lebenslustige Anna“ ist, ist bei Bauer sucht Frau der „sportliche Jungbauer“. Doch selbstreferentielles Fernsehen, das von Regeln lebt wie „Mach halt ein Voice Over, wenn Du keinen guten O-Ton hast“ oder "Vor jeden Namen gehört ein charakterisierendes Adjektiv", überlebt sicher nicht mehr lange.

Schauen wir nochmal zur aktuellen US-Staffel. Das Voice Over ist zugunsten der Erzählstimme gestrichen. Die Juroren sprechen über ihre Erlebnisse und gewähren uns ihre Innensicht. Diese an Nähe kaum zu überbietende Stimme wird durch intime Gespräche der Kandidaten untereinander zusätzlich aufgeladen. Wenn man so arbeitet, muss man die Zuschauer nach der Werbung nicht mit „Willkommen zurück bei «X Factor»“ neu orientieren. In Deutschland leider schon.

Amerikanische Fernsehmacher beherrschen die Kunst, O-Töne einzufangen, die man nachher über vorhandenes Bildmaterial legen kann. Warum nur tun sich deutsche Produktionsfirmen damit so schwer - und betexten sicherheitshalber jedes Bild, das emotional sein könnte, um auch das letzte bisschen Intimität zwischen Zuschauer und Format zu zerstören?

3. Storytelling und Formatkosmos
Besonders deutlich wird der Unterschied zwischen Deutschland und den USA bei den Backstories der Kandidaten. In den USA wird in dieser Phase die Story der Entwicklung der Kandidaten innerhalb des Formats erzählt – also vom Casting bis heute. In Deutschland fahren wir visuell lieber mit polnischen Kandidatinnen in ihr Heimatland. Weniger Formatkosmos und mehr örtliche Entfremdung geht kaum.

Laut Wikipedia ist Intimität "ein Zustand tiefster Vertrautheit. Intimität herrscht in der Intimsphäre – einem persönlichen Bereich, der durch die Anwesenheit ausschließlich bestimmter oder keiner weiteren Personen definiert ist und Außenstehende nicht betrifft."

Das erklärt nicht nur, warum die USA ihre Kandidaten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr durch polnische Fußgängerzonen laufen lässt, sondern auch warum sie sechs Kandidaten in die privaten Anwesen der Juroren schickt. In Deutschland sind wir im Juryhaus, wo Vorsingen und Entscheidungen wieder vor viel Publikum stattfinden - von Intimität keine Spur. Während in den USA echte Zweifel und Ängste gezeigt werden, sich Beziehungen, Nähe und Konkurrenz entwickeln, sitzt bei uns der diensthabende Moderator zwischen Teenies, versucht so jung auszusehen, wie sie, und wippt fleißig im Takt mit.

Wo in Amerika die Show als in sich geschlossenes Ökosystem funktioniert, macht Grundy uns bestenfalls zum gelangweilten Zufallszu- und gleich wieder -abschalter. Ein bisschen fragt man sich da schon: Wann ist sie gekommen - die Zeit in der deutsche Fernsehmacher scripted nicht für die Zukunft halten, die Post Production nicht für Gott und keine Angst mehr vor echten Emotionen haben? Viele Zuschauer würden sich wünschen: so bald wie möglich.

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01.11.2012 10:15 Uhr  •  Uwe Walter Kurz-URL: qmde.de/60101