Charlie Sheen und «Anger Management»: Alles bleibt anders

Ganz vergessen lässt Charlie Sheen seine alte Paraderolle aus «Two and a Half Men» nicht: In der neuen Sitcom «Anger Management» spielt der Hollywood-Star einen sexbesessenen, frivolen, aber auch gezähmten Charakter – und wird seine Fans damit zufrieden stellen. Welcome back, Mr. Sheen!

„You can’t fire me. I quit! Think you can replace my with some other guy?”, schreit Verhaltenstherapeut Goodson bei der ersten Szene der neuen Sitcom «Anger Management» direkt in die Kamera. Die Figur Charlie Goodson zeigt ihren Patienten damit einen Weg zum Aggressionsabbau. Der Schauspieler Charlie Sheen spielt auf einer Meta-Ebene aber natürlich sehr plakativ auf seinen Rauswurf bei «Two and a Half Half Men» an. Willkommen bei «Anger Management».

Sheen verdeutlicht seinem Publikum in dieser ersten Szene gleichzeitig, dass es genau den Charakter erwarten darf, welchen es bereits kennt: Schon in seiner Paraderolle als Charlie Harper bei «Half Men» spielte er die Version seines eigenen Ich in angepasster, überspitzter TV-Form – Sexbesessenheit, viel Alkohol und eine simple Weltsicht inklusive. Im neuen «Anger Management», wo Sheen einen Anti-Aggressionstherapeuten verkörpert, ist dies nicht viel anders. Und doch fügt der Hollywood-Star seinem serienübergreifenden Charlie-Metauniversum neue Komponenten hinzu: Der neue Charlie Goodson glänzt mit Empathie, mit Intelligenz, mit Seriosität – und kommt ganz ohne Bowling-Hemden aus.

Die frischen Elemente der Hauptfigur lassen fast vergessen, dass «Anger Management» eigentlich nichts anderes ist als eine ganz gewöhnliche, klassische Sitcom. Treue Zuschauer des alten «Two and a Half Men» dürften sich schnell heimisch fühlen – die erste Episode des neuen Sheen-Formats wirkt weniger wie eine Pilotfolge, die bei Sitcoms oft starr und bemüht ist. Nein, sie fühlt sich durch die professionelle Leichtigkeit der Schauspieler wie eine Sitcom an, mit der man irgendwie schon ein wenig vertraut ist. Die Pointen sitzen, das Timing der Gags ist perfekt. Charlie ist in seinem Element.

Und so verwundert es nicht, dass schon nach wenigen Minuten die erste Bettgeschichte mit dem leidlich begabten Therapeuten und seiner Liaison folgt. Aber: In einer vorherigen Szene spricht Charlie fürsorglich mit seiner Tochter Sam über ihre College-Zukunft. Der Zuschauer erfährt, dass Vater Goodson geschieden und ein ehemaliger Baseball-Profispieler ist, der aufgrund seiner Aggressionen den Dienst quittieren musste – und daraufhin sein Leben umkrempelte, indem er zum Anti-Aggressionstrainer wurde. Hier ist also der neue softe Charlie, da der alte sexbesessene. Der neue kümmert sich um seine Tochter, setzt sich für sie und ihr College-Studium ein. Der alte kämpft immer wieder darum, seine früheren Aggressionsprobleme nicht aufkommen zu lassen, besonders nicht bei seiner Ex-Frau und ihrem Freund. Diese Mischung zwischen Empathie und Eskapade ist spannend – und führt dazu, dass Aggressionsberater Charlie selbst wieder eine Therapie braucht. Das große Problem: Er schläft mit seiner Therapeutin. Genau dieser Interessenskonflikt dürfte in den kommenden Episoden für weitere Lacher sorgen.

Nach Folge eins von «Anger Management» hat man also einen ambivalenten Charlie kennengelernt, einen durchweg lustigen und charakterlich vergleichsweise komplexen. In der Pilotepisode geht dies aber auf Kosten der zahlreichen Nebenfiguren, die man einführt: Nicht nur seine Ex-Frau, seine Tochter und seine Geliebte macht man mit dem Publikum bekannt, sondern auch die zwei (!) Therapiegruppen, die Charlie betreut. Besonders letztere bieten viel Comedy-Potenzial, spiegeln sie doch ein herrlich absurdes und überspitztes Ensemble vielfältiger Charaktere wider – vom Nerd über die Tussi, den Opa, den Schwarzen oder den Homosexuellen ist jeder vertreten. In ihren kurzen Szenen haben einige dieser Charaktere gute und lustige Auftritte, nehmen sich aber gegenseitig Sendezeit weg und bleiben zwangsweise völlig oberflächlich. Weniger wäre hier mehr gewesen.

Letztlich aber dreht sich ja sowieso alles um Charlie: um die Figur Goodson, die trotz der Anleihen bei «Half Men»-Harper als eigenständiger Charakter überzeugen kann, aber auch um den Schauspieler Charlie Sheen: Dieser benutzt mit «Anger Management» wieder einmal eine Fernsehserie als große Bühne, um das eigene vermeintliche Lotterleben selbstreferentiell in audiovisueller Form zu verarbeiten. Genau das macht diesen Darsteller Charlie Sheen so besonders und so sehenswert.
30.06.2012 09:03 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/57615