Die Kritiker: «37 Grad: Mensch Gottfried»

Inhalt:
Regelmäßig fährt Gottfried mit dem Rad zum Tango-Abend. Die Paare duften nach Deo und Parfüm, Bauer Gottfried riecht nach Gottfried und Natur. Manche Frauen würden gerne mit ihm tanzen. Doch Gottfried weigert sich, nach Essenzen zu riechen - und Schuhe braucht er ebenso wenig.

Gottfried lebt auf einem Hof in Niedersachsen. Der 57-Jährige ist Selbstversorger wie die Menschen vor Jahrhunderten. Seine Kleidung wäscht er mit Bachwasser und Asche. Sein Geschirr leckt er ab, anschließend spült er es in einer Regenwasser-Molkemischung. Er verzichtet auf fließend Wasser, statt einem WC benutzt er einen Blecheimer.

Gottfried lebt so, wie er es für natürlich hält, und ist stolz darauf, dass es ihm gelingt, in einem funktionierenden Kreislauf zu leben - mit nicht mehr als drei Liter Abwasser täglich. Das alles hat aber auch einen Preis und schafft Konflikte. Es gibt nicht viele Menschen, die gerne bei Gottfried essen. Für häufigere Besuche würde er aber sein Spülsystem niemals aufgeben. Er zahlt den Preis der selbstbestimmten Ausgrenzung aus Überzeugung. Es geht nicht um Romantik. Nach Gottfrieds Ansicht verbrauchen die Menschen zu viel Wasser. Das macht ihn traurig und wütend. Der Realist in ihm weiß, dass er die Menschen nicht ändern kann. Er kann aber seinen eigenen Vorstellungen treu sein. Nichts anderes tut er, dies aber konsequent. Vor einigen Jahren sind seine Frau und die beiden jüngsten Söhne Piet (17) und Jelle (15) ausgezogen. Sie wollten anders leben. Geblieben sind zwölf Hühner, eine Ziege, eine Kuh, ein Rind, ein Bullenkalb, 19 Schafe und eine Katze.

Gottfried will ohne Geräte auskommen, die Strom oder Diesel verbrauchen. Seine Kühe sind wohl die einzigen in Deutschland, die handgemähtes Heu bekommen. Er lebt so ursprünglich, weil er, wie er sagt, dann mit sich im Reinen ist und nur so seinen Kindern ein Vorbild und ein guter Vater sein kann. Der Kontakt zu den Kindern ist auch nach der Trennung der Eltern intensiv und herzlich.

Kritik
Die meisten Ausgaben von «37°» wirken mittlerweile festgefahren in einer gewollten Belanglosigkeit, die sich oft nur noch fast banaler Themen annimmt, welche dann mit so wenig gesellschaftlicher Relevanz wie möglich behaftet sind. Wenn man schon im Vorspann die Schwangerenbäuche und Putzfrauen so penetrant in Szene setzt wie hier, weiß man, wo man gelandet ist: beim Wohlfühlfernsehen für die Mittelschicht, das sich jegliche Art von Anspruch aus dem Konzept definiert.

Doch es gibt noch Ausnahmen in dieser Reihe. «Mensch Gottfried» ist eine davon. Immerhin ist das Thema ein interessantes, das viele Möglichkeiten zur Betrachtung öffnet. Regisseur und Kameramann Gregor Bialas verzichtet dabei auf eine Einordnung oder Analyse, lässt das Geschehene für sich sprechen und begnügt sich in seiner redaktionellen Arbeit mit der Selektion. Dadurch entsteht eine sehr authentische Wirkung.

Aber die Grenzen der Möglichkeiten innerhalb des «37°»-Konzepts werden schnell sichtbar: Da man ausschließlich die Lebenssituation eines einzelnen Menschen portraitiert und somit natürlich sehr stark personalisiert, ist es unmöglich, einen übergeorgneten Zusammenhang herzustellen. Das ist viellicht auch nicht der Sinn der Sache, mag man anführen. Aber man hätte dadurch das Thema klarer herausarbeiten und somit einen leichteren Zugang herstellen können und wäre im Stande gewesen, präziser und möglicherweise auch relevanter zu erzählen.

Dennoch: «37° – Mensch Gottfried» ist ein interessanter Einblick in das Leben eines Aussteigers, wenngleich man leider sehr an der Oberfläche bleibt – hauptsächlich auch, da Bialas Fragen nicht unbedingt die besten sind, weil ihnen der nötige Tiefgang häufig fehlt. Das Grundkonzept mag damit recht spannend sein und hier und da ergeben sich auch durchaus interessante Momente. In seiner Gesamtheit bleibt die Sendung im Kleinen jedoch das, was die Reihe im Großen ist: belanglos.

3sat zeigt «37° - Mensch Gottfried» am 3. Juli 2012 um 23.55 Uhr.
27.06.2012 10:48 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/57556