Die Kino-Kritiker: «Marvel's The Avengers»

Das Superhelden-Spektakel «Marvel's The Avengers» ist eine überwältigende Zerstörungsorgie mit viel Witz und tollen Charaktermomenten.

„Treffen sich ein selbstverliebter, erfinderischer Milliardär in einer fliegenden Rüstung, ein genialer Wissenschaftler, der sich bei Stress in ein Monstrum verwandelt, ein vorbildlicher US-Supersoldat aus dem Zweiten Weltkrieg, eine russische Agentin, ein Scharfschütze mit Vorliebe für Pfeil und Bogen und der nordische Gott des Donners ...“ Das könnte der Anfang eines sehr schrägen Witzes sein. Oder die Grundidee für ein ausgesprochen sonderbares Disney-Zeichentrickmusical – eigentlich wollte der Regisseur eine moderne Nacherzählung der Bremer Stadtmusikanten auf die Beine stellen, doch dann kamen die Ergebnisse der Marktforschung dazwischen ...

Jeder, der auch nur über einen Funken Comicwissen verfügt, weiß aber, dass das geschilderte Szenario weder einen langen Witz eröffnet, noch das Ergebnis einer verworrenen Disney-Trickproduktion ist. Viel mehr hört diese Gruppe auf den Namen „The Avengers“ und ist die Zusammenkunft einiger der größten Helden aus dem Marvel-Universum. Damit sich auch weniger comicaffine Kinogänger dessen bewusst sind, bauten die Marvel Studios in den vergangenen fünf Jahren ein komplexes Universum fünf ineinander verwobener Filme auf. Sie deuteten die bevorstehende Gründung dieser Heldentruppe an, schürten Vorfreude und sollten darauf hinarbeiten, dass nicht nur eifrigen Comicfans beim Gedanken an das obig beschriebene, skurrile Treffen erwartungsvoll die Kinnlade herunterfällt.

Was in «Iron Man 1 & 2», «Der unglaubliche Hulk», «Thor» und «Captain America – The First Avenger» betrieben wurde, war aber nicht allein Promotionarbeit, sondern auch eine passionierte Form der Weltenbildung. Die Aufgabe, in dieser vorab abgesteckten Sandkiste unter der Verwendung bereits von den Filmproduzenten und anderen Regisseuren ausgesuchter Elemente etwas möglichst frisch wirkendes zu bewerkstelligen, erteilten die Marvel Studios dem Nerd-Favoriten Joss Whedon («Buffy – Im Bann der Dämonen», «Firefly»). Damit kam ihm eine schöpferische Schwerstleistung zu, muss Whedon doch nicht bloß die geliebten Comicvorlagen achten und kinotauglich umsetzen, sondern ebenso fünf bereits veröffentlichte Kinofilme berücksichtigten. Darüber hinaus galt es, die Maxime „Masse statt Klasse“ zu verdrehen, und bei einem Mehr an Helden, Gefahren, Handlungsfäden und Effekten weiterhin ein unterhaltsames Produkt zu erstellen.

Die Handlung, mit der Drehbuchautor/Regisseur Joss Whedon und Story-Autor Zak Penn dies zu verwirklichen versuchen, wird in Gang gesetzt, als die Geheimorganisation S.H.I.E.L.D. den Tesserakt, ein energiegeladenes Objekt außerirdischen Ursprungs, in den Labors ihres Stützpunkts untersucht. Ein Dimensionstor öffnet sich und bereitet so dem aus Asgard verstoßenen, halunkischen Gott Loki (Tom Hiddleston) eine Möglichkeit, erneut die Erde heimzusuchen. Loki, der noch eine Rechnung mit seinem Bruder Thor (Chris Hemsworth) offen hat, schloss zwischen den Dimensionen einen Pakt mit einer gewaltigen Streitmacht, um von ihr unterstützt die seiner Auffassung nach minderwertige Menschheit zu unterwerfen. Kaum auf der Erde angelangt, kann Loki auch schon einige S.H.I.E.L.D.-Mitglieder in seinen Bann ziehen und den Tesserakt stehlen, was ihn in eine bedrohliche Position bringt. Um seine Machtergreifung des Planeten zu verhindern, sehen sich S.H.I.E.L.D.-Direktor Nick Fury (Samuel L. Jackson) und seine rechte Hand Maria Hill (Cobie Smulders) gezwungen, die Avengers-Initiative zu aktivieren.

Während der erst kürzlich aus seinem Schlummer im ewigen Eis erwachte Supersoldat Captain America (Chris Evans) bereits zum Abruf bereit steht, muss Agent Phil Coulson (Clark Gregg) den Milliardär, Playboy und Erfinder Tony Stark a.k.a Iron Man (Robert Downey Jr.) erst noch von der Dringlichkeit des Einsatzes überzeugen. Derweil erhält die russische Agentin Black Widow (Scarlett Johansson) den Auftrag, den Wissenschaftler Bruce Banner (Mark Ruffalo) ausfindig zu machen. Aber bloß, weil es S.H.I.E.L.D. letztlich gelingt, alle ersehnten Personen in einen Raum zu schaffen, bedeutet das noch lange nicht, dass sich dadurch auch ein unschlagbares Team formiert hat, denn neben ihren Superfähigkeiten bringen diese Helden auch Super-Egos mit, wodurch die Mission gefährdet wird ...

Das aus Marketingsicht so bestechende Experiment Marvels verfügt über potentielle künstlerische Risiken. Dadurch, dass man die Charakterexposition der prominentesten Avengers in separate Filme auslagerte, hätte man Gefahr laufen können, in «The Avengers» auf jegliche Figurenzeichnung zu verzichten. Was wiederum in eine den Charme der vergangenen Marvel-Comicadaptionen missen lassende Zerstörungsorgie gemündet hätte. Genauso denkbar wäre ein Szenario, in dem «The Avengers» den Zähler zunächst auf Null zurücksetzt, um Nicht-Kenner der Vorgängerfilme nicht auszuschließen, wodurch aber Fans der vorhergegangenen Marvel-Produktionen mit lästigen Wiederholungen genötigt würden.

So weit zumindest die ernüchternde Theorie. In der Praxis ist Joss Whedon entgegen aller möglicher Stolpersteine das Kunststück gelungen, den bisherigen Aufbau dieses Comicspektakels zu seinem Vorteil zu nutzen, ohne sich an dieser Last zu verheben oder «The Avengers» zu einem inhaltslosen Actionfilm ohne jegliche Persönlichkeit zu degradieren.

Mit Bravour jongliert Whedon das ansehnliche Figurenarsenal dieses überdimensionalen Superhelden-Stelldicheins. Jede Figur bekommt ihre eigenen, verdienten Charaktermomente, welche diesem Actionspektakel letztlich erst eine Seele verleihen. So klärt Tony Stark seinen Kollegen Bruce Banner über die Hintergründe seiner Iron-Man-Rüstung auf und zeigt Verletzlichkeit, um so sein mit sich selbst im Unreinen liegendes Gegenüber dazu zu ermutigen, seine eigene Heldenbürde in einem neuen Licht zu betrachten. Solche Sequenzen gehören zu den besten Momenten von «The Avengers» und führen dazu, dass die megalomanischen Actionsequenzen (die zeitlich den größten Raum einnehmen) über eine reine Materialschlacht hinauswachsen. Denn durch Whedons ausgeklügelt choreographierter, vom Oscar-nominierten Kameramann Seamus McGarvey («Abbitte») beeindruckend eingefangener Action zieht sich ein charakterlich motivierter Spannungsbogen. Jeder der Marvel-Helden darf seine Stärken ausspielen und muss sich bei der Schlacht um das Schicksal der Erde ebenso seine Schwächen eingestehen. Der energiereiche, so manche denkwürdige Melodie einführende Score von Komponist Alan Silvestri rundet die beeindruckenden Bilder klangvoll ab.

Aufgelockert wird das sich konstant zuspitzende, mit aufwändigen (3D-)Effekten versehende Leinwandgeschehen durch den bereits aus den Vorgängerfilmen bekannten Humor. Neben spritzigen Dialogwechseln kommt dabei auch eine gesunde Dosis Slapstick zum Einsatz, ebenso wie eine notwendige Prise Selbstironie, welche das nüchtern betrachtet doch so haarsträubende Konzept niemals bloßstellt, sondern gekonnt kommentiert.

Bei all den zu jonglierenden Figuren und Referenzen auf die Vorgängerfilme gibt es allerdings auch manche ungalantere Parts. Weshalb Thor nach dem Ende seines Einzel-Kinoabenteuers wieder auf die Erde zurückkehren kann, wird in einer keinesfalls befriedigenden Erklärung abgehandelt. Dass über die Astrophysikerin Jane Porter (Natalie Portman), in die sich der Donnergott während «Thor» verguckt hat, immerhin gesprochen und ihre Abwesenheit im Filmgeschehen erläutert wird, zeugt unterdessen davon, dass man dennoch um Kontinuität innerhalb des so genannten „Marvel Cinematic Universe“ bemüht ist. Portmans Abwesenheit ist dennoch bedauerlich und zeigt auch obendrein eines der Probleme auf, welches sich Marvel mit seinem prominent besetzten, dicht verwobenen Filmuniversum schuf.

Trotzdem überwiegen die Vorteile dieser bislang beispiellosen Taktik, alle Großproduktionen miteinander zu verbinden, weil Produzent Kevin Feige und sein Team die Einzelfilme vorab minutiös mit dem Ziel dieses Crossovers abstimmten. Iron Man, Thor, Captain America wurden als Helden etabliert und lernten in ihren Einzelfilmen, wie sie Fähigkeit und Verantwortung für sich selbst auszubalancieren haben. Makellose Helden wurden sie in den jeweiligen Kinoproduktionen aber nicht, weswegen das große Heldentreffen sehr viel Konfliktpotential mit sich birgt. Teils aufgrund divenhafter Egos, teilweise, weil jeder dieser Superhelden eine andere Weltanschauung und Vorstellung von Heldentum mit sich bringt.

Den Hulk formierten die Filmemacher in der Truppe der bekannteren Avengers dann sogar zu einer Wildcard: Das für Interpretationen offene Ende von «Der unglaubliche Hulk» und der nie explizit ausgesprochene zeitliche Abstand zwischen den Filmen wird dazu genutzt, Banners Charakterhaltung neu zu deuten. Er unterdrückt sein inneres Monstrum, ist zu Beginn des Films als medizinischer Wohltäter in Krisengebieten unterwegs und lernte zudem, über seine Vergangenheit zu scherzen. Gemeinsam mit dem Darstellerwechsel (zuletzt verkörperte Edward Norton den Comichelden) kann dieser Sprung anfangs befremdlich sein. Doch Ruffalo harmoniert großartig mit seinen Leinwandkollegen, wird genutzt um zusätzliche Anspannungen innerhalb der Avengers zu schaffen und ist als Hulk auch Grundlage für einige exzellente visuelle Gags, weshalb die charakterliche und darstellerische Umbesetzung leicht hinzunehmen ist.

Banners klar umrissener Charakterbogen ist letztlich einer der Mitgründe, weshalb «The Avengers» auch für bisherige Marvel-Kinofilm-Jungfrauen funktioniert. Neben Banner dienen noch Black Widow, der Scharfschütze Hawkeye (Jeremy Renner) und Agent Phil Coulson als „Abholer“ für weniger treue Comicfilm-Kinogänger. Sie werden als greifbare Schlüsselfiguren genutzt, die inmitten all dieser überlebensgroßen Persönlichkeiten noch zu den normalsten gehören. Vor allem Coulson hat Menschlichkeit und Witz, und spricht so auch ein Publikum an, das mangels Kenntnis der anderen Filme noch nicht Fan der ganz großen Marvel-Figuren ist.

Das ist womöglich die erstaunlichste Leistung Joss Whedons und Marvels: Das mitgebrachte Vorwissen spielt bloß eine sekündäre Rolle. Alle auf «The Avengers» hinleitende Filme zu kennen, wird in dieser 220-Millionen-Dollar-Produktion dadurch entlohnt, dass man kleine Randgags versteht, unter den Helden bereits seine Favoriten ausmachen konnte und auch ein Auge für die unausgesprochenen Verbindungen oder Differenzen der Figuren entwickelte. Für Kenner aller Filme weist «The Avengers» somit mehr Gravitas auf. Sofern man sich als Unwissender allerdings nicht gegen das Grundkonzept sträubt, lässt sich die Handlung von «The Avengers» problemlos verstehen und genießen, weil das notwendigste entweder erläutert wird, oder sich von selbst erklärt. Bloß der Antrieb von Lokis Verbündeten bleibt dem unerfahrenen Publikum nebulös, aber dieser inhaltliche Schwachpunkt gilt genauso für diejenigen, die ihre Kenntnisse der Marvel-Welt allein aus den bisherigen Filmen generierten. Hier ist dann schon fortgeschrittenes Comicwissen von Nöten.

Ahnungslose werden «The Avengers» also mit anderen Augen erleben als Film- oder Comic-Anhänger, trotzdem bietet diese Produktion genug Eigendramatik, um selbstständig zu existieren. Und würden manche Erklärungen nicht mit stärkerer Verzögerung nachgeschoben, wäre der Unterhaltungsfaktor gewiss noch größer.

«The Avengers» überflügelt hinsichtlich dieses Sehspaßes sogar seine Vorgängerfilme. Einerseits profitiert er davon, dass alle Helden zusammenfinden und ihre Darsteller allesamt enorme Spielfreude aufbringen, darüber hinaus zieht Regisseur Whedon aber auch die Zügel der Dramaturgie deutlich straffer. Obwohl «The Avengers» mit über 140 Minuten den bislang längsten Teil des „Marvel Cinematic Universe“ markiert, kommt es zu keinerlei Durchhängern. Das rasante Intro setzt die Marke hoch an, es folgt eine dank der Darsteller und Gags sehr kurzweilige Phase, in der die Story und die Figurenkonstellation formiert werden. Zwei Action-Wendepunkte liefern wieder Schauwerte, führen aber auch nonverbal die inhaltlichen Konflikte vor, wenngleich Fans in dieser kurzen Phase deutlich stärker bedient werden, als der ahnungslose Betrachter. Und ehe es sich das Publikum versieht, beginnt ein mörderischer zweiter Akt, den das Finale noch übertrumpft.

Fazit: „Masse mit Klasse“ – «Marvel's The Avengers» hat mehr Helden, mehr Action, mehr Humor, mehr Effekte und dennoch auch mehr Qualitäten als seine Vorgängerfilme. Regisseur Joss Whedon erzählt die lang vorbereitete Helden-Zusammenkunft mit minutiöser Liebe für seine Figuren. Dadurch führt er Michael Bay und Konsorten vor, dass zerstörerische Non-Stop-Action deutlich besser unterhält, wenn sich darin Helden mit Persönlichkeit tummeln.

«Marvel's The Avengers» ist ab dem 26. April 2012 in zahlreichen deutschen Kinos zu sehen.
24.04.2012 00:00 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/56294