Die Kritiker: «Das Kindermädchen»

Story
Joachim Vernau ist ganz oben in der Berliner Gesellschaft angekommen: Der Anwalt steht kurz davor, in die wohlhabende und einflussreiche Familie der von Zernikows einzuheiraten. Außerdem möchte ihn sein zukünftiger Schwiegervater Utz in dessen renommierte Kanzlei aufnehmen. Sein Aufstieg ist nur noch eine Frage der Zeit und des Wohlverhaltens.

Doch dann passiert das Unerwartete: Eine alte Frau steht eines Tages vor der Tür des Familienanwesens. In der Hand ein offizielles Formular in russischer Sprache. Die Fremde will von Utz Zernikow eine Unterschrift. Vernau wimmelt sie ab, bittet aber seine alte Studienfreundin, die Anwältin Marie-Luise Hoffmann, das Schreiben zu übersetzen. Kurz darauf entdeckt er durch eine Zeitungsmeldung, dass die Unbekannte tot aus dem Landwehrkanal gezogen wurde. Die Umstände kommen Vernau merkwürdig vor. Ein tragischer Unfall?

Das russische Schreiben erweist sich als brisant: Es kommt von einer Natalja Tscherednitschenkowa aus Kiew. Jene Natalja soll angeblich während des Krieges als Kindermädchen bei den Zernikows gearbeitet haben und will nun eine Entschädigung für diese Zeit. Etwas naiv glaubt Vernau, die hochangesehenen, politisch immer korrekten Zernikows zur Unterschrift bewegen zu können. Und erhält eine eisige Abfuhr: Niemand will sich erinnern. Selbst Utz, den mehr mit Natalja verbunden hat, als er zugeben will, blockt rigoros ab.

Joachim Vernau beginnt, unangenehme Fragen zu stellen und rührt damit an ein unrühmliches Kapitel der Familiengeschichte: der Vergangenheit der Zernikows in den 40er Jahren. Selbst Sigrun, seine zukünftige Frau, stellt sich gegen ihn. Genauso wie der Rest der Familie.
Gemeinsam mit Marie-Luise versucht Vernau, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Denn es gibt noch mehr Ungereimtheiten: Ausgebombt in den letzten Kriegstagen, wurden die Zernikows in der Villa von Freunden in Grünau untergebracht. Im Keller dieses Hauses muss etwas gewesen sein, das nach über sechzig Jahren immer noch vertuscht werden soll.

Jeder der Zernikows und auch ihrer Freunde hat gute Gründe, das Kindermädchen zu verleugnen. Je mehr Vernau herausfindet, desto unbequemer wird er und verliert mangels "Wohlverhalten" schließlich alles: Seinen Job, seine Wohnung, seine große Liebe.

Sogar Sigrun, die eigentlich am wenigsten von der Vergangenheit belastet ist, bewahrt lieber den schönen Schein. Um sie zurückzugewinnen, bohrt er weiter. Schließlich gräbt er den Schlüssel zu dem Geheimnis aus: Es gibt zwei verschiedene Grundrisse dieses alten Hauses. Etwas wurde eingemauert, und der verloren gegangene Raum birgt weit mehr als die Erinnerungen an die letzten Kriegstage. Das Motiv für einen Mord? Als Vernau Utz endlich dazu bringt, sich an das junge Mädchen Natalja von damals zu erinnern und an das, was in jenen Bombennächten geschah, weckt er auch das Böse wieder auf. Joachim Vernau kommt dem Geheimnis des Kellers auf die Spur. Doch niemand hat damit gerechnet, in welche Gefahr er sich am Ende begibt.

Darsteller
Jan Josef Liefers («Rossini») ist Joachim Vernau
Stefanie Stappenbeck («Niemand ist eine Insel») ist Marie-Luise Hoffmann
Natalia Wörner («Die Säulen der Erde») ist Sigrun Zernikow
Matthias Habich («Ein halbes Leben») ist Utz von Zernikow
Inge Keller («Aimée und Jaguar») ist Irene Freifrau von Zernikow
Chulpan Khamatova («América») ist Milla Tscherednitschenkowa
Wanda Colombina («Katie Fforde – Harriets Traum») ist Conny

Kritik
Wenn man sich der Frage, ob Deutschland die NS-Zeit je in ausreichender Weise aufgearbeitet hat, objektiv nähern will, so muss man sie wohl mit „nein“ beantworten. Der Großteil der Opfer muss(te) ohne nennenswerte Entschädigung leben, eine Vielzahl von Verbrechen bleibt auf ewig ungesühnt. Der Entnazifizierungsprozess der Nachkriegszeit beschäftigte sich lediglich mit der Spitze des Eisbergs – und auch das in vielfacher Hinsicht nur unzureichend.

Hier setzt dieser Film an – bei all den Alt-Nazis, deren Versündigungen nie aufgedeckt wurden. Ein wichtiges Thema, das jedoch leider durch eine zu starke Verwässerung an spießige und infantile Sehgewohnheiten angeglichen wurde. Der Stoff wird auf Thriller getrimmt, auch wenn das Genre nicht passen mag und dafür sorgt, dass immer wieder irrelevante Nebenaspekte den Plot dominieren. Der thematische Kern wird dagegen nur stückweise aufgegriffen und vorangetrieben – wenn das aber einmal geschieht, dann umso stärker.

Als ein wichtiges Symbol lässt sich dabei die Figur der machtgeilen Politikerin Sigrun deuten. Eine Tochter aus gutem Hause, die dem Familiennamen Ehre einbringt, eine staatstragende Rolle einnimmt und keine Fragen stellt. Bis sie eine Entscheidung treffen muss, wie es weitergehen soll, als ihr Verlobter eindeutige Beweise für die ekelhaften Abgründe ihrer Familiengeschichte vorweisen kann. Ihre erste Reaktion ist eindeutig: „Ich will's nicht wissen.“

Doch irgendwann kann man die Augen vor der Vergangenheit nicht mehr verschließen. Auch im Film nicht. Schließlich konfrontiert sie ihren Vater: „Ich will nicht nur die Heldensagen wissen. Sondern auch das Böse. Das, was so schwer zu ertragen ist.“ Doch diese Wandlung hätte detaillierter gezeigt werden müssen – der bloße Anriss bleibt zu plump, zu oberflächlich.

Dann kommt all der Dreck raus, den dieses in seiner Essenz widerwärtige Gesindel, aus dem die ehrenwerte Familie besteht, mit sich herumträgt. Drehbuchautorin Elisabeth Herrmann, die auch die Romanvorlage schrieb, erhebt den Zeigefinger und fährt damit gut – denn er ist weniger moralisierend als kathartisch.

Die Schuldigen sind in diesem Film ausschließlich im großbürgerlichen Milieu zu finden. Das hat jedoch wohl weniger etwas mit fehlender Differenzierung als mit notwendiger Eingrenzung zu tun. Die Thriller-Elemente selbst weisen aber immer wieder strukturelle Probleme auf, besonders was den recht missglückten Spannungsaufbau betrifft. Und auch die Kernszene des dritten Akts im düsteren Geheimgang wirkt sehr forciert, während am Schluss einer der Täter lieber seinen Gegnern seine Geschichte erzählt als diese abzuknallen, was insgesamt unglaubwürdig und ein dramaturgisch sehr schwaches Motiv ist.

Gleichzeitig muss bemerkt werden, dass der Stoff zu sehr auf einen Einzelfall reduziert wird und eine viel zu starke Personalisierung stattfindet, wohinter die Schwere der Geschichte in ihrer Allgemeinheit zurücktritt. Hätte man auf all das unsinnige Thriller-Tamtam verzichtet und sich stattdessen vermehrt auf eine glaubwürdige Figurenskizzierung konzentriert, wäre der Film deutlich besser geglückt.

Das Schauspielerensemble unter Regisseur Carlo Rola, der in diesem Film vergleichsweise wenig auf eine ausgeklügelte Ästhetik und subtile Symbole achtet, kann jedoch durchwegs überzeugen. Jan Josef Liefers mag etwas zu viel Comic Relief in den Plot bringen, liefert aber vollends stimmige Arbeit ab, während Inge Keller die Grande Dame des Großbürgertums sehr überzeugend zu spielen vermag. Wanda Colombina als die eifrige Sekretärin ist dabei eine kleine Perle unter den Nebendarstellern.

Das ZDF strahlt «Das Kindermädchen» am Montag, den 9. Januar 2012, um 20.15 Uhr.
09.01.2012 12:17 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/54237