Die Kritiker: «Homevideo»

Story
Der fünfzehnjährige Jakob muss eine schwere Zeit durchmachen: Im Elternhaus kommt es zunehmend zu lautstarken Auseinandersetzungen, die ihm den letzten Schlaf rauben. Schließlich kommt es sogar zur Trennung zwischen Jakobs Eltern. Vorerst nimmt die gestresste Mutter Irina nur Jakobs jüngere Schwester mit, für ihren Sohn sei vorübergehend nicht genug Platz.

Vom dauernden Familienkrach übermüdet, schleppt sich Jakob zunehmend unmotivierter zur Schule, wo ihm letztlich seine wohlmeinende Lehrerin mitteilt, dass Jakob es kaum noch auf ein ihn rettendes „Ausreichend“ schaffen wird. Durch seine Verschlossenheit betrachten ihn auch viele seiner Mitschüler als seltsam, bloß Hannah, auf die Jakob ein Auge geworfen hat, erwidert in den Pausen sein vorsichtiges Lächeln. Die Beziehung zu Hannah könnte ein Silberstreifen in Jakobs so grauer Pubertät sein.

Doch ein intimes Homevideo stößt Jakob noch tiefer in den Abgrund des sozialen Gefüges auf seiner Schule: Das Video zeigt, wie sich Jakob, während er an Hannah gerichtete Liebeserklärungen stöhnt, selbst befriedigt. Durch eine Verkettung ärgerlicher Zufälle gerät dieses Video in die Hände von Jakobs Mitschülern Henry und Tom. Sie drohen, den kompromittierenden Clip online zu stellen…

Darsteller
Jonas Nay («Notruf Hafenkante») ist Jakob Moormann
Wotan Wilke Möhring («Männerherzen») ist Claas Moormann
Nicole Marischka («Ein guter Sommer») ist Irina Moormann
Sophia Boehme («Tatort») ist Hannah
Jannik Schürmann («Emmas Chatroom») ist Henry
Tom Wolf («Die Pfefferkörner») ist Erik
Willi Gerk («Die Pfefferkörner») ist Tom

Kritik
Mobbing an der Schule ist ein überaus wichtiges Thema, das traurigerweise erst in den letzten Jahren zunehmend öffentlich diskutiert wird. Und noch immer wird diesem Thema nicht die notwendige Aufmerksamkeit gegönnt. In Zeiten von sozialen Netzwerken, Video-Plattformen und Chatrooms expandierte der Psychoterror, unter dem manchen Studien zu Folge sogar jeder dritte Schüler im Laufe seiner Schullaufbahn zu leiden hat, längst ins Internet. Dieses schwer zu konkretisierende Cyber-Mobbing überfordert Eltern, Lehrer und auch die Polizei noch mehr, als das „reale“ – Pausenhof-Beleidigungen, die in Prügeleien enden, fallen klar in die Zuständigkeit der Schule, doch wie soll ein Rektor auf digitale Belästigungen reagieren?

Das mehrfach preisgekrönte Fernsehdrama «Homevideo» von Regisseur Kilian Riedhof («Dr. Psycho») und Drehbuchautor Jan Braren («Homevideo») nimmt sich exakt dieser Thematik an. Dies geschieht mit einer löblichen Vorurteilslosigkeit gegenüber des Mediums Internets. Es wird keineswegs als Auslöser für das Jakob bedrückende Mobbing gezeichnet, sondern als ein digitaler Schauplatz, der den üblichen Hänseleien unter Jugendlichen neuen Entfaltungsraum bietet. Dies ist den Machern von «Homevideo» hoch anzurechnen, hätte sich ihr Drama in den falschen Händen doch auch zu einer polemischen Hetzkampagne gegen den „rechtsfreien Raum“ (so ein Elternteil im Laufe des Films) wandeln können.

Der Schwerpunkt liegt hingegen auf der emotionalen Tortur, die das Mobbing-Opfer durchstehen muss. Diese wird mit einer wahnsinnigen emotionalen Bandbreite von Jonas Nay dargestellt, der mühelos, doch mit großer Nachwirkung zwischen Angst, Verzweiflung, Wut und ihn selbst zerfressender Scham changiert. Es ist hauptsächlich Nays zu recht mit dem Fernsehpreis prämiertes Schauspiel, das «Homevideo» zu einem schwer verdaulichen Film macht.

Auch Wotan Wilke Möhring als Nays Leinwandvater Claas hebt sich von den üblichen Stereotypen aus gesellschaftskritischen Dramen ab, indem er einen realen, greifbaren Erziehungsberechtigten mit all seinen Facetten darstellt. Der im Gespräch mit seiner Frau leicht aufbrausende, sich aber ehrlich um Jakob sorgt und das angespannte Familienklima entlasten wollende Polizist reagiert auf die Ereignisse des Films stets glaubwürdig. Er ist schockiert, fürsorglich und sucht verzweifelt den Witz an der Sache, um seinen Sohn aufzumuntern. Eine große, aus dem Leben gegriffene Bandbreite an Gefühlen.

Die restlichen Figuren in «Homevideo» werden dagegen sehr einfach gezeichnet. Von der überforderten, ahnungslosen Lehrerin, hin zu den das Internet nicht begreifenden Eltern, bis zum eiskalten, seine Mitschüler terrorisierenden Lausbuben aus entzweitem Elternhaus – ohne jegliche Brüche wird das übliche Portfolio an Nebenfiguren geboten. Gerade die Jakobs Mitschüler Henry, der das kompromittierende Video in seine Hände bekam, ist für den kritischen Zuschauer überaus ärgerlich. Jungschauspieler Jannik Schürmann spielt Henry mehr wie einen minderjährigen James-Bond-Schurken, und nicht wie einen realen Pubertierenden. In einer Szene steht er mit eisblauen, aufleuchtenden Augen und nacktem, gestählten Oberkörper vor einem Spiegel und überlegt, was er mit Jakobs peinlichem Video anstellen wird. Es fehlt bloß noch das manische Lachen, um Henry völlig zu einer Karikatur zu deklassieren. So etwas dürfte in einem derart ernsten Drama keinesfalls geschehen, zumal die Psyche der Täter ein genauso packendes Sujet ist, wie die der Mobbing-Opfer.

Die von Newcomerin Sophia Boehme verkörperte Hannah wird seitens des Drehbuchs ebenfalls kaum ausgeleuchtet, ist auf dem Papier bloß das Mädchen, in das Jakob nun mal verschossen ist. Aber Boehme kann mit keckem Tonfall wenigstens manchen ihrer Szenen Authentizität einhauchen, beispielsweise, wenn sie Außenseiter Jakob auf dem Heimweg begegnet. Dieser zwischenmenschliche Realismus lässt «Homevideo» noch stärker an die Nieren der Zuschauer gehen.

Allerdings zeigt sich «Homevideo» stellenweise auch arg unbeholfen. Keine der Schwächen dieses tragischen Fernsehfilms ist so schwerwiegend, dass sie seine Stärken vergessen macht. Jedoch sind so viele kleine Probleme auszumachen, dass sie in ihrer Summe schwer zu ignorieren sind. Äußerst kritisch ist vor allem der für Sozialdramen so typische Fehler der Übertreibung: «Homevideo» eröffnet innerhalb von weniger als 90 Minuten zahlreiche Nebenschauplätze, die daraufhin kaum weitergeführt werden. Patchwork-Familien, Drogen, schlechte Schulnoten, ein Fahrerflucht begehender Polizist, lesbische Familienmütter. Gerade letzterer Punkt kann im Kontext des Films leicht als homophob fehlgedeutet werden, und das Element der Fahrerflucht bringt die Handlung keinen Deut voran.

Drehbuchautor Jan Braren wäre besser gefahren, statt sämtliche gesellschaftlichen Debatten in «Homevideo» zu quetschen, sich auf das Haupt-Thema des Cyber-Mobbings zu konzentrieren. Denn die durch ins Leere laufende Nebengeschichten verlorene Zeit hätte darin investiert werden können, die Kerngeschichte weiter zu stützen. So bleibt es beispielsweise unklar, weshalb sich Jakob überhaupt beim Onanieren gefilmt hat. Es ist nur eine kleine, nicht sonderlich relevant erscheinende Frage, doch ihre Beantwortung hätte das gesamte emotionale Involvement des Zuschauers ändern können. Diese Lücke scheint Regisseur Riedhof durch übertriebene künstlerische Kunstgriffe kompensieren zu wollen: Die Filmmusik schwillt regelmäßig theatralisch an und als Jakob am helllichten Tag panisch die Schule verlässt, wird Jonas Nays keuchendes Gesicht ausgeleuchtet, als wäre es finsterste Nacht. Solche Stilmittel werden öfters genutzt, nicht jedoch mit einer solchen Konsequenz, dass man sagen könnte, der Film versinke in der Subjektiven des gemobbten Jakob. Deswegen wirken diese dramatischen Kunstgriffe aufgesetzt, was die Authentizität des Films bloß untergräbt.

Fazit: «Homevideo» spricht ein überaus wichtiges Thema auf differenzierte Weise an, ohne den belehrenden, öffentlich-rechtlichen Zeigefinger rauszuholen. Stattdessen lässt einen der sensationell agierende Jungschauspieler Jonas Nay am Psychoterror teilhaben, von dem Mobbing-Opfer erdrückt werden. Die Dialoge wirken größtenteils authentisch, allerdings mildern unnütze Nebenhandlungen die Dringlichkeit dieses Dramas ab. Kritisch ist auch die undifferenzierte Figurenzeichnung der Täter, welche im Gegensatz zum Mobbing-Opfer auch aus schlechten High-School-Komödien entsprungen sein könnten.

Das Erste strahlt «Homevideo» am Mittwoch, den 19. Oktober 2011, um 20.15 Uhr aus.
17.10.2011 08:00 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/52657