In Jauchs Gasometer wird nur mit Wasser gekocht

Lange wurde er erwartet, nun ist er angekommen: Günther Jauch startete am Sonntagabend seinen neuen Talk im Ersten und blickte anlässlich des zehnten Jahrestages auf die Anschläge von 9/11. Quotenmeter.de bewertet Jauchs Einstand.

Selten wurde schon im Vorfeld so viel über eine neue Sendung geschrieben wie über diese. Selten waren die Erwartungen an sie so hoch. Und selten wagt sich ein alter TV-Hase wie Günther Jauch in solch risikoreiche Gewässer wie mit seiner neuen Talkshow im Ersten. Schließlich steht für den Sender sehr viel auf dem Spiel – nicht weniger als drei bisher erfolgreiche Talkshows wurden für sein Format auf neue Sendeplätze gelegt.

Seit mehr als einem Jahr ist bekannt, dass Günther Jauch im Ersten einen Polit-Talk bekommt. Jahre zuvor waren Verhandlungen gescheitert, die Jauch als Nachfolger von Sabine Christiansen installieren sollten. Damals schien eine Zusammenarbeit in weiter Ferne, die nun doch realisiert wird. Und dies auf dem wohl begehrtesten Sendeplatz im deutschen Fernsehen: am Sonntag um 21.45 Uhr nach dem «Tatort», den Woche für Woche fast immer mindestens acht Millionen Bundesbürger einschalten – und damit acht Millionen potenzielle Zuschauer für die Talkshow «Günther Jauch» im Anschluss sind.

Dass Jauch mit seinem Millionenpublikum viel vorhat, sagt er selbst, ohne aber die die in seine Person gesteckten Erwartungen zu überinterpretieren: Er konstatierte, im Ersten anzutreten, um eine „Evolution statt Revolution des Talks“ zu präsentieren. Dies liest sich zunächst wie leichtes Understatement, impliziert aber zumindest einen deutlichen Fakt: Jauch will den Talk am Sonntagabend evolutionieren.

In der ersten Sendung zum zehnten Jahrestag nach den Anschlägen vom 11. September 2001 sind Ansätze erkennbar, wie diese Evolution aussehen soll: Zu Beginn nicht nur inhaltlich, sondern insbesondere visuell. Denn die tolle Kulisse – im Gasometer, einem ehemaligen Gasspeicher des Berliner Stadtteils Schöneberg – beeindruckt gleich nicht nur in den Kamerafahrten aus der Totale, sondern auch durch Effekte: Bei Jauchs Anmoderation werden im Hintergrund die Bilder der zerstörten Türme als Silhouette an die kupfernen Stahlwände des Gasometers geworfen. Der erste Einspieler, der das Schicksal einer Augenzeugin der Anschläge dokumentiert, wird mit einem ähnlich imposanten Effekt eingeleitet. Auch der Vorspann der Show gelingt.

Jauchs erste Interviewpartnerin ist eben jene angesprochene Augenzeugin Marcy Borders, die von ihren Erlebnissen und den Folgen des 11. September berichtet. Das dokumentierte Einzelschicksal abseits der Diskussionsrunde – ein beliebtes Stilmittel, das oft in politischen Talkshows eingesetzt wird, auch beispielsweise bei «Anne Will». Jauch ist für diese Geschichten prädestiniert, denn in «Stern TV» (Bild) interviewte er zahllose solcher "Einzelschicksale". Neben Borders spricht Jauch später auch mit Tanja Menz, deren Sohn als deutscher Soldat in Afghanistan gefallen ist. Auch ihr Schicksal wird mit einer eingespielten MAZ beleuchtet, auch sie spricht zunächst mit Jauch allein – wird dann aber in die Diskussionsrunde eingeladen. Leider erst zehn Minuten vor Schluss und damit zu spät, um eine angeregte Debatte mit den anderen Talkteilnehmern aufkommen zu lassen. Allgemein aber zeigt dies: Jauch nimmt, wie in «Stern TV», die Schicksale gewöhnlicher Menschen zum Anlass der Diskussion - selten wird dies deutlicher als in dem Moment, als er das Cover des TIME Magazine in die Runde zeigt, auf dem eine geschundene Afghanin zu sehen ist.

Jauchs Gäste lesen sich zunächst ungewöhnlich für einen politischen Talk: Mit Peter Struck ist nur ein zur Zeit des 11. September aktiver Parteipolitiker eingeladen, die weiteren Gäste sind Literaturkritierin Elke Heidenreich, Axel Springer-Vorstand Mathias Döpfner, US-Kenner und Fußballtrainer Jürgen Klinsmann und Afghanistan-Experte Jürgen Todenhöfer. Die beiden letzteren erweisen sich als fruchtbare Teilnehmer der Diskussion: Der eine als jahrelanger Kenner der amerikanischen Lebensweise und dem Alltag des typischen US-Bürgers, der andere als Beobachter des Afghanistan-Kriegs und der Bevölkerung, die darunter zu leiden hat. Klinsmann und Todenhöfer liefern interessante und bisweilen teils neue Einsichten, Döpfner und Struck dagegen weniger, denn sie verteidigen ihre Ansichten, die sie auch früher vertreten haben.

Jauch kann ihnen dabei nicht viel entlocken, hält sich ungewöhnlicherweise in der Debatte sehr zurück und lässt die ansonsten von ihm bekannte Schlagfertigkeit – bis auf seltene Ausnahmen – vermissen. Bei einem TV-Profi wie Jauch darf davon ausgegangen werden, dass dies Absicht war. Vielleicht, um auf diesem noch unbekannten Terrain keine Gefahren einzugehen, keine Fehler zu machen, um die Erwartungen nicht vollends zu enttäuschen. Damit verpasst Jauch aber auch die Chance, gleich in der ersten Sendung ein Zeichen gegen den oft so konventionalisierten Talk-Alltag zu setzen. Von Evolution ist nicht viel zu spüren; es bleibt zu hoffen, dass der neue ARD-Mann seine Zurückhaltung künftig ablegt, sich einmischt, die eigene Meinung bis zu einem vertretbaren Punkt einbringt. Denn genau dies erwarten die Zuschauer von Jauch.

Positiv ist bei aller Kritik aber im Gegenzug die angeregte Debatte, die sich teilweise unter zwei oder drei Diskussionsteilnehmern entfalten konnte. Wie wichtig eine gute Gästeauswahl ist, zeigen die meist vorbildlichen Runden bei Plasbergs «Hart aber fair». Auch Jauch tut gut daran, einen bis maximal zwei Politiker einzuladen, um die Aussagen von Allgemeinplätzen und Phrasen fernzuhalten. Mit fünf Talkgästen und zwei individuellen zusätzlichen Interviewpartnern, die zudem noch mehrminütige Einspieler bekamen, wirkt die erste Sendung leicht überfrachtet und damit zu oberflächlich für eine tiefgründigere, gehaltvollere Diskussion. Jauch will aber von Woche zu Woche entscheiden, wie viele Gäste er einlädt und wie viele Einspieler gezeigt werden – so viel ist aber klar: In seiner Premiere wirkte die Mischung jedenfalls unausgegoren.

Es bleibt festzuhalten, dass die erste Sendung von «Günther Jauch» unterhaltsam und anlässlich des Themas teils bewegend war. Leider aber aufgrund der Inhaltsfülle und damit verbundenen Überfrachtung nicht informativer oder erkenntnisreicher als andere Diskussionen zu 9/11. Die tolle Kulisse und die unkonventionellen visuellen Effekte sowie Kamerafahrten waren ein Pluspunkt, Jauchs intendierte Zurückhaltung ein negativer Aspekt. Gast Peter Struck bescheinigte seinem Gastgeber am Ende der Sendung: „Ich finde, dass Sie das gut gemacht haben.“ Und überraschenderweise ist es damit gerade ein Politiker, der die Sache prägnant auf den Punkt bringt: Jauch war gut. Aber längst nicht evolutionär.
11.09.2011 23:44 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/51954