Die Kritiker: «Verblendung»

Der Däne Niels Arden Oplev bringt mit «Verblendung» den ersten Teil der «Millennium-Trilogie» in die deutschen Kinos.

Rasante Verfolgungsjagden, knallharte Schießereien, laute Explosionen und in jedem Sinne des Wortes schlagfertige Polizisten mit modischen Sonnenbrillen. Oder tiefschwarze Bilder, Nerven zerfetzende Musik und in die Magengrube schlagende Morde. Das Thrillergenre teilt sich in zwei Extreme. Es muss immer knalliger, bunter und schneller werden, oder eben immer finsterer, verstörender und in seinen Gewaltexzessen voyeuristischer. Auf der einen Seite werden Thriller immer stärker zu Actionstreifen der Marke «Bad Boys II», auf der anderen lehnen sie sich stärker und stärker ans Horrorgenre an.

Im Rahmen der «Millennium-Trilogie» bringt der Däne Niels Arden Oplev, finanziell unterstützt vom ZDF und basierend auf der schwedischen Bestsellerreihe von Stieg Larsson, allerdings ein erfreuliches Lebenszeichen der klassischen Kriminal- und Thrillerkost in die Kinos. Wer Hubschrauber, schnelle Schnitte und waghalsige Stunts benötigt, um im Kino mitzufiebern, der muss gar nicht erst weiterlesen, denn «Verblendung» ist eine gepflegte, durchdachte und atmosphärische Kriminalgeschichte der alten Schule:

Selbst vierzig Jahre nachdem seine Lieblingsnichte verschwunden und mutmaßlich ermordet worden ist, quälen Industriemagnat und –patriarch Henrik Vanger (Sven-Bertil Taube) die Gedanken an den unabgeschlossenen Fall. Um endlich Gewissheit zu haben, was mit der damals jungen Harriet Vanger geschah und wer der Täter ist, engagiert er den überaus idealistischen Enthüllungsjournalisten Mikael Blomkvist (Michael Nyqvist). Dieser hat nur noch wenige Monate auf freiem Fuß, bevor er seine Gefängnisstrafe wegen Verleumdung eines durchtriebenen Firmenbosses absitzen muss. Unerwartete Unterstützung bei der Untersuchung des Verbrechens erhält Blomkvist von der professionellen Hackerin und Ermittlerin Lisbeth Salander (Noomi Rapace), die, nachdem sie Blomkvist beschattete, langsam anfängt, sich für seinen Fall zu interessieren.

Bis die Ermittlungen in «Verblendung» wirklich ins Rollen kommen und Blomkvist neue Spuren zu Tage fördern kann, vergehen jedoch einige Filmminuten. Das erste grobe Drittel des Films beschäftigt sich mehr mit der ausführlichen Einführung seiner Charaktere und greift dazu auch auf Nebengeschichten zurück, die nichts mit dem zentralen Kriminalfall zu tun haben. Das mag zwar den Fluss der Geschichte stören und den Beginn des über 150 Minuten starken Thrillers etwas vom Rest des Films abkapseln, verzichten möchte der Kinobesucher auf die Nebengeschichten allerdings nicht. Sie bestimmen die dunkel-realistische Stimmung von „Verblendung“ und enthalten obendrein die stärksten Momente der burschikosen Lisbeth Salander, die hinter zahlreichen Piercings, Lederkluft, mürrischem Gesichtsausdruck und ins Gesicht fallenden schwarzen Haaren eine undurchsichtige, verletzliche Persönlichkeit verbirgt.

Befürchtet der Kinogänger beim ersten Anblick der Figur ein typisches Klischeebild einer schwarz gekleideten Außenseiterin, kristallisiert sich Schauspielerin Noomi Rapace alsbald als der heimliche Star von «Verblendung» heraus: Rapace verleiht der aggressiven Seite Salanders eine Seele, während sie ihrer zerbrechlichen Seite eine unbändige rebellische Energie einzuverleiben vermag. Zusammen mit dem besonnenen Blomkvist, den Michael Nyqvist mit großer Selbstsicherheit spielt, bildet sie ein angenehmes Ermittlerduo, mit dem man als Zuschauer gerne noch mehr Zeit verbringen möchte (was im Februar 2010 möglich wird, wenn die Fortsetzung ihren Weg in die Kinos findet).

Regisseur Niels Arden Oplev zeigt bei seiner Kinoadaption nicht nur großes Vertrauen in seine Hauptdarsteller, sondern auch in die erfolgreiche Buchvorlage. Freunde des Schwedenkrimis, dessen Originaltitel übersetzt „Männer, die Frauen hassen" lautet, werden sehr erfreut feststellen, dass „Verblendung“ auf dem Weg in die Welt der bewegten Bilder nur wenig Federn lassen musste und keineswegs für ein Massenpublikum mit Sex und Gewalt aufgepeppt wurde. Selbst in den intensivsten Szenen von «Verblendung» hält die Kamera nicht voll auf die sich abspielenden Schrecken, sondern gewinnt allein durch eine beklemmende Inszenierung und das gelungene Schauspiel seiner Darsteller. Und auch die Ermittlungen des ungewöhnlichen Gespanns kommen ohne Kinopomp aus, die Geschichte und ein ruhiger, aber wirkungsvoller Schnitt allein lassen einen wie gebannt an Blomkvists Nachforschungen teilhaben.

Die kalten, leeren Landschaftsaufnahmen Schwedens tun für die Stimmung von «Verblendung» ihr übriges. Leider wird in der ersten Hälfte des Films zu viel mit dem mittlerweile schon zum Klischee gewordenen Blaufilter gespielt, was den positiven Gesamteindruck ein wenig trübt. Ein klein wenig Effekthascherei nach dem Vorbild großer Blockbuster aus Hollywood hat sich in «Verblendung» dann doch hinein gemogelt: Lässt sich nichts dagegen sagen, wenn er mit künstlerischem Bedacht eingesetzt wird und die Optik des Films sichtlich bereichert (wie etwa in «The Dark Knight»), so zeigt sich der Anfang von «Verblendung» nur deswegen im düsteren Blau, weil es halt zum Standard geworden ist. Überhaupt wurde der kühle Norden Europas schon öfters wesentlich denkwürdiger eingefangen.

Aber wer sich «Verblendung» im Kino ansieht, bezahlt den Eintrittspreis schließlich nicht für ein beeindruckendes visuelles Erlebnis, sondern um einen im guten Sinne altmodischen Kriminalfall mit einvernehmenden Hauptfiguren zu erleben. Und selbst wenn «Verblendung» in den letzten Minuten stark damit kämpft, einen Ausstieg aus seiner Geschichte zu finden und die gesellschaftskritischen Untertöne gerne stärker betont werden dürften, kann der Auftakt zur «Millennium-Trilogie» überzeugen und einem die Wartezeit bis zur Fortsetzung schwer machen.

«Verblendung» ist ab 1. Oktober 2009 in den deutschen Kinos zu sehen.
01.10.2009 13:33 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/37591