Buchclub: „Hotel Kabul“

Lyse Doucet zeigt ein Haus als Zeuge eines halben Jahrhunderts afghanischer Geschichte.

Lyse Doucets „Hotel Kabul“ ist eines dieser seltenen Bücher, das Geschichte nicht erklärt, sondern fühlbar macht. Im Zentrum steht das legendäre Intercontinental Hotel, 1969 in Kabul eröffnet – ein Gebäude, das von Anfang an mehr war als ein luxuriöses Haus mit Aussicht. Es war Symbol eines aufstrebenden, hoffnungsvollen Afghanistan, das in die Moderne aufbrechen wollte. Ein Afghanistan, das glaubte, Teil einer globalen, friedlicheren Zukunft zu werden. Doch wie das Land selbst, wurde auch das Intercontinental im Laufe der Jahrzehnte immer wieder erschüttert: von Kriegen, Regimewechseln, Invasionen und unzähligen persönlichen Tragödien. Und trotzdem steht es bis heute auf einem Hügel über Kabul.

Doucet, BBC-Chefkorrespondentin und seit 1988 eine der präzisesten und empathischsten Stimmen im internationalen Journalismus, hat über Jahrzehnte im „Interconti“ eingecheckt – mal als Reporterin im Krisengebiet, mal als Beobachterin der Menschen, die dort leben und arbeiten. Mit „Hotel Kabul“ legt sie ein Buch vor, das weit über klassische Kriegs- oder Auslandsberichterstattung hinausgeht. Es ist ein erzählerischer Brennpunkt Afghanistans – betrachtet durch die Menschen, die diesem Hotel über Jahrzehnte ein Gesicht gaben.

Ihre Protagonisten sind keine Generäle, Politiker oder internationalen Entscheidungsträger, sondern jene, die in großen Geschichtsbüchern oft nicht vorkommen: die Köchin Abida, der Restaurantleiter Mohammed Aqa, der Empfangschef Sadeq und die junge Kellnerin Malalai. Doucet porträtiert sie mit einer Mischung aus journalistischer Genauigkeit und literarischer Wärme. Jeder von ihnen ist eng mit dem Hotel und damit mit der wechselvollen Geschichte des Landes verwoben.

Abida erinnert sich an Tage, an denen Hochzeiten gefeiert wurden – und an Nächte, in denen Bomben die Fenster erzittern ließen. Mohammed Aqa berichtet von Jahrzehnten, in denen er westliche Politiker, afghanische Generäle, UN-Mitarbeiter oder Journalisten bediente, während draußen die Stadt brannte. Sadeq erzählt von der Angst, die ihn nie ganz verlassen hat, seit er einmal nur knapp einem Angriff entkam. Und Malalai, die jüngste im Team, versucht in einem Land, das Frauen kaum Raum lässt, ihren Platz im Leben zu finden.

Diese Stimmen schaffen ein Panorama des modernen Afghanistan, das authentischer kaum sein könnte. Doucet zeigt damit, dass große Geschichte aus unzähligen kleinen Geschichten besteht. Das Intercontinental ist für sie mehr als ein Schauplatz, es ist ein Mikrokosmos Afghanistans: ein Ort, an dem sich Hoffnung und Verzweiflung, Tradition und Moderne, Alltag und Ausnahmezustand treffen. Selbst als das Hotel schweren Anschlägen ausgesetzt war – die Bilder der brennenden Fassade gingen um die Welt – blieb es ein Symbol der Beharrlichkeit. Fast trotzig überdauerte es die sowjetische Besatzung, den Bürgerkrieg, die erste Taliban-Herrschaft, die US-Invasion und den erneuten Machtantritt der Taliban.

Doucet schafft das Kunststück, all diese historischen Schichten ruhend, aber kraftvoll nebeneinander stehen zu lassen. Sie wertet nicht, sie verklärt nicht – sie beobachtet, erinnert und verknüpft. Ihr Blick ist zutiefst human, nie voyeuristisch. Gerade das macht das Buch so eindringlich. Man spürt die Wärme, die sie für Land und Leute empfindet, und den Respekt, mit dem sie deren Geschichten erzählt.

Neben den persönlichen Porträts entfaltet sich eine größere Reflexion darüber, wie wir über Afghanistan sprechen – und wie selten der Westen dieses Land wirklich verstanden hat. Doucet zeigt, wie Afghanistan immer wieder Schauplatz internationaler Interessen wurde, ohne dass die Menschen, die dort leben, je die Möglichkeit hatten, ihre eigene Zukunft dauerhaft zu bestimmen. In den Gesprächen mit Hotelangestellten, die Doucet über Jahrzehnte kannte, spiegeln sich gebrochene Versprechen, verpasste Chancen und enttäuschte Hoffnungen.

Gleichzeitig findet Doucet inmitten all dieser Zerstörung und Unsicherheit immer wieder Beispiele für Widerstandskraft, Würde und Menschlichkeit. Ihre Figuren haben Humor, Mut und einen fast unerschöpflichen Willen, weiterzumachen. Sie halten das Hotel nicht nur am Laufen – sie halten ein Stück Normalität am Leben in einer Welt, in der es oft keine Normalität mehr gibt.

„Hotel Kabul“ ist dadurch auch ein philosophisches Buch über Erinnerung und Identität. Es stellt die Frage, was bleibt, wenn alles einstürzt – und kommt zu dem Schluss, dass es die Menschen sind, nicht die Systeme. Die Menschen, die kochen, putzen, bedienen, reparieren und trotz allem lächeln.

Elif Shafak beschreibt das Buch als „erstaunlich schön, subtil und unvergesslich“. Die „Financial Times“ lobt Doucets Fähigkeit, Wärme und Witz selbst in den schwärzesten Momenten zu finden. Und die „Sunday Times“ nennt es ein „Must-read“ – völlig zu Recht. Denn dieses Buch ist mehr als Reportage, mehr als Geschichtsschreibung, mehr als ein Journalistenmemoir. Es ist ein Appell, Afghanistan nicht zu vergessen, ein literarischer Versuch, Menschen aus dem Schatten der Schlagzeilen zu holen und ihnen ein Gesicht zu geben.
30.12.2025 12:47 Uhr  •  Sebastian Schmitt Kurz-URL: qmde.de/166759