Buket Alakuş: ‚Die Stille kann lauter sein als jedes Schreien‘

Mit «Polizei» inszeniert Alakuş einen der eindringlichsten ARD-Filme des Jahres – eine Geschichte über Trauma, verlorenes Vertrauen und die unsichtbaren Wunden junger Menschen.

«Polizei» ist ein intensiver, realistischer Film über strukturelle Gewalt und den Verlust von Vertrauen. Wie sind Sie an dieses schwierige Thema herangegangen – emotional wie inszenatorisch?
Wir hatten zwei wertvolle Voraussetzungen für diesen Film. Zum einen erhielten wir durch unsere Drehbuchautorin Laila Stieler eine großartige Vorlage, die es uns ermöglichte, in die verborgene Welt unseres Helden einzutauchen. Zum anderen hatten wir dank unseres Produzenten Peter Hartwig eine außergewöhnlich gute Vorbereitungszeit – etwas, das er selbst ausdrücklich eingefordert hatte. Unser Drehbuch stellte trotzdem für alle Beteiligten – vor und hinter der Kamera – eine große Herausforderung dar, da es sehr anspruchsvoll geschrieben und durchdacht war. Wir alle wollten das Bestmögliche herausholen.

Durch die intensive Vorbereitungszeit hatten der Kameramann Falko Lachmund und ich die Möglichkeit, ein Konzept zu entwickeln, das wir im Dialog mit unserer Autorin, dem Produzenten und der Redaktion gemeinsam verfeinerten. Dabei ging es vor allem darum, die innere emotionale Welt des Helden – sein Trauma, seine unsichtbaren Wunden, sein erschüttertes Herz, seine Wut, Sprachlosigkeit, Scham und Verletzlichkeit – in Bildern für das Publikum spür- und sichtbar zu machen.

Unser Konzept bestand darin, mit der Kamera den Herzschlag von Anton einzufangen. Auf dieser Grundlage konnten wir gemeinsam mit den Schauspielerinnen und Schauspielern sowie dem gesamten Team die innere und äußere Welt von Anton und seinem Umfeld gestalten.

Laila Stielers Drehbuch nimmt konsequent Antons Perspektive ein, die eines Opfers. Wie wichtig war Ihnen, diese Subjektivität auch filmisch spürbar zu machen?
Im Drehbuch hat Laila Stieler ihren Helden Anton sagen lassen: „Ich will kein Opfer sein.“ Das war mir eine Herzensangelegenheit. Wir wollten den Helden nicht noch einmal zum Opfer machen, sondern als ein „Stehaufmännchen“ zeigen – jemanden, der sich nach jedem Schlag wieder ins Leben zurück kämpft.

Wir haben seine Perspektive als Herausforderung gesehen und versucht, mit der Kamera einen Spiegel seiner Seele zu schaffen. Es war mir wichtig, Anton auf Augenhöhe zu begegnen – auch für den Zuschauer. Das hat für mich etwas mit Respekt zu tun: ein Opfer nicht erneut als Opfer darzustellen.

Sie haben in früheren Arbeiten schon oft Menschen am Rand der Gesellschaft ins Zentrum gestellt. Was hat Sie an Antons Geschichte besonders berührt?
Mich hat Anton mit seiner kindlichen Unschuld zutiefst berührt – ein junger Mann, der zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort war und dem die Erfahrung von Gewalt das Vertrauen in die Welt nimmt. Doch anstatt mit Wut zu reagieren, zieht er sich zurück, sucht Schutz in der Natur, in der Liebe, im Schweigen.

Anton wächst in einem behüteten Zuhause auf. Zwar sind seine Eltern getrennt, doch sie begegnen sich mit Respekt, und so kann er zu beiden eine stabile Beziehung pflegen. Trotzdem spürt man, wie er zwischen Kindsein und Erwachsenwerden hin- und hergerissen ist. Er kämpft mit Scham, Sprachlosigkeit und dem Versuch, das Unbegreifliche zu verstehen. Gerade diese Zerrissenheit, seine Verletzlichkeit, machen ihn so menschlich – und zu einem Spiegel vieler junger Menschen, die in einer lauten, überfordernden Welt nach innerer Ruhe suchen.

Das, was er erlebt, hinterlässt eine tiefe Wunde. Die Scham, ein Opfer zu sein, wird zu seiner größten Last. Um weiterleben zu können, verdrängt er das Geschehene – und genau darin liegt etwas zutiefst Bewegendes. Denn irgendwann begreift Anton: Wenn er es schafft, sich selbst zu helfen, kann er auch anderen helfen. Seine Auseinandersetzung mit dem Trauma wird zu einem Weg der Selbstheilung, aus dem neue Kraft, Empathie und Mitgefühl entstehen.

Als Mutter eines jugendlichen Sohnes hat mich diese Geschichte besonders getroffen. Für mich ist es ein Familienfilm – weil er von unseren Kindern erzählt, von ihrer Verletzlichkeit, ihrer Sehnsucht nach Halt und ihrem mutigen Versuch, ihren eigenen Weg zur Heilung zu finden.

Gewalt spielt im Film eine große Rolle, aber sie wird nie spektakulär oder voyeuristisch gezeigt. Wie finden Sie bei solch einem Thema die Balance zwischen Darstellung und Zurückhaltung?
Für uns war es – ebenso wie für unsere Autorin – wichtig, die Gewalt und die Brutalität, wie sie in ihrem Drehbuch als innerer Vorgang beschrieben wird, in Bilder zu übersetzen. Wir wollten den Schmerz und die unsichtbaren Wunden sichtbar machen. Der Schmerz des Helden, den er in seinem Herzen trägt, sollte in den Augen und im Kopf des Zuschauers spürbar werden.

Unsere Absicht war es, diese Heldenreise als eine innere Reise des jungen Protagonisten zu zeigen – und nicht, nackte Gewalt zu zelebrieren. Das Blut sollte in den Adern gefrieren, nicht in die Kamera spritzen. Das emotionale Erleben war uns wichtiger als die äußere Darstellung der Gewalt.

Wir wollten zeigen, was Gewalt im Inneren eines jungen Menschen anrichten kann – wie sie sein Leben ins Wanken bringt und wie Verdrängung oft das einzige Mittel ist, um zu überleben. Doch irgendwann kann man nicht mehr davonlaufen. Irgendwann kommt das, was tief in einem vergraben und verdrängt ist, an die Oberfläche.

Diese innere Wunde wird zu einer unkontrollierbaren Kraft – eine andere Form von Brutalität, weil sie mit bloßem Auge nicht sichtbar ist. Genau das sichtbar und fühlbar zu machen, war unser Ziel.

«Polizei» erzählt auch von einem generationellen Vertrauensbruch. Wie sehen Sie die Rolle von Kunst und Film, um diesen gesellschaftlichen Dialog wieder anzustoßen?
Schon die Tatsache, dass wir einen Film wie «Polizei» realisieren konnten, zeigt, wie notwendig es ist, über dieses Thema zu sprechen. Als Spiegel einer Gesellschaft, in der junge Menschen schnell in Vorurteile gedrängt werden, kann unser Film – so glaube ich – gut dazu beitragen, auf unterhaltsame, aber zugleich tiefgehende Weise über Polizeigewalt zu sprechen. Er soll die Erlaubnis geben, kritisch hinzuschauen, darüber zu diskutieren und im besten Fall Wege zu finden, solche Situationen in Zukunft zu verhindern.

Es ist ein schwieriges und zugleich hochrelevantes Thema. Gerade deshalb bietet der Film eine Möglichkeit, über Polizeigewalt zu sprechen, ohne dabei einen Generalverdacht gegen die gesamte Polizei zu richten. Ich habe das Gefühl, dass wir derzeit in einer Welt leben, in der Gewalt allgegenwärtig ist – und oft fälschlicherweise als Stärke gilt. Unser Protagonist Anton ist für mich ein Gegenentwurf dazu: Er zeigt, was Gewalt mit einem Menschen innerlich anrichten kann.

Ich würde mir wünschen, dass unser Film wenigstens innerhalb von Familien ein Gespräch über Polizeigewalt anstoßen kann. Viele Eltern – und dazu zähle ich auch mich selbst – wissen nicht immer, was ihre Kinder auf der Straße erleben. Junge Menschen glauben oft, sie müssten alles selbst regeln, auch dann, wenn sie mit etwas konfrontiert sind, das sie emotional überfordert.

Während der Vorbereitung zu diesem Projekt habe ich mit vielen Eltern und Jugendlichen gesprochen und sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Polizeigewalt gehört. Es hat mich tief berührt zu sehen, dass ein offenes Gespräch zwischen Eltern und Jugendlichen oft gar nicht stattfindet – dass dieser Vertrauensbruch nicht aufgearbeitet wird. Vielleicht kann ein Film wie «Polizei» dazu beitragen, dieses Thema wieder an den Esstisch zu bringen – das wäre wünschenswert.

Sie arbeiten mit einem jungen Hauptdarsteller, Levy Rico Arcos, der schon in «Sonne und Beton» beeindruckte. Wie war Ihre gemeinsame Arbeit und wie nähert man sich als Regisseurin einem so sensiblen Spiel?
Ich bin Levy sehr dankbar für sein tiefes Vertrauen und seine Offenheit. Schon beim Casting haben wir sofort eine Verbindung zueinander gefunden und uns gegenseitig das Versprechen gegeben, für diesen Film alles zu geben. Mit diesem Versprechen sind wir jeden Tag ans Set gekommen.

Levy hat wirklich alles gegeben – und manchmal hat das auch wehgetan. Trotzdem hat er sich nie beklagt. Er blieb stets bei sich und bei seiner Figur Anton. Eine Hauptrolle zu tragen bedeutet, Tag und Nacht am Set zu sein und den ganzen Film auf den eigenen Schultern zu tragen. Das ist ein enormer Druck, den Levy großartig gemeistert hat.

Für mich war es sehr wichtig, ihn wie ein Coach zu begleiten – ihn zu unterstützen, aber auch herauszufordern. Im Grunde habe ich versucht, Levy den Raum zu geben, den er brauchte. Manchmal musste ich diesen Raum verkleinern, weil wir unter Zeitdruck standen. Doch es gab auch Momente, in denen er mehr Raum forderte – und dann habe ich alles versucht, um ihm diesen zu ermöglichen. Die Zusammenarbeit mit ihm war für mich eine große Freude und ein großes Geschenk.

Petra Schmidt-Schaller spielt eine Mutter, die zwischen Kontrolle, Überforderung und Liebe schwankt. Wie haben Sie diese besondere Mutter-Sohn-Beziehung entwickelt?
Mit Petra Schmidt-Schaller durfte ich bereits zum zweiten Mal zusammenarbeiten – und mit ihr gemeinsam die Figur von Antons Mutter zu entwickeln, war für mich erneut eine unglaublich bereichernde Erfahrung. Petra besitzt eine außergewöhnliche Offenheit, ihre Emotionen zu zeigen, und eine tiefe innere Klugheit. Mit ihr zu arbeiten bedeutet nicht nur, kreativ zu sein, sondern auch Freude am Prozess zu haben. Ihre innere Schönheit überstrahlt alles.

Gemeinsam mit Petra haben wir intensiv über diese Figur gesprochen. Unsere persönlichen Erfahrungen und Gedanken haben wir miteinander verwoben und so diesen Charakter gemeinsam geformt. Bei der Mutter steht die Liebe zu ihrem Sohn im Mittelpunkt – eine Liebe, die zugleich Schutz bedeutet, aber auch Schmerz, weil sie ihn nicht vor allem beschützen kann.

Am Ende erkennt die Mutter, dass sie ihren Sohn loslassen, aber nicht fallen lassen darf. Die innere Zerrissenheit dieser Mutter – zwischen Liebe und Kontrolle – war für uns der Kern der Rolle. Wir haben viel über das Nonverbale gesprochen, über das, was in Blicken und kleinen Gesten mitschwingt. Gerade als Mutter eines Jugendlichen möchte man sein Vertrauen nicht verlieren; und als junger Mann möchte man seiner Mutter keine Schwäche zeigen.

Ihre Regiearbeit ist oft von dokumentarischer Genauigkeit geprägt. Welche Recherchen oder Begegnungen haben Sie für «Polizei» besonders geprägt?
Für «Polizei» habe ich viele Gespräche geführt – mit Jugendlichen, Eltern und Polizistinnen. Was mich dabei am meisten bewegt hat, war das Unsichtbare: die Wunden, die niemand sieht, die Scham, das Schweigen. Ich habe verstanden, wie tief das Gefühl reicht, Ungerechtigkeit ausgeliefert zu sein – und wie sehr es auch jene trifft, die zusehen oder selbst Teil des Systems sind. Polizeigewalt ist nicht nur eine Tat, sie ist ein Echo, das in Körpern weiterklingt. Unser Film sucht nach diesem Echo – nach dem Mut, über Schmerz zu sprechen, wo sonst Schweigen herrscht.

Der Film ist nicht laut, sondern still und eindringlich. Welche ästhetischen Mittel – Kamera, Ton, Rhythmus – waren Ihnen wichtig, um diese stille Wut spürbar zu machen?
Für mich war es wichtig, dass die Kamera ganz nah bei Anton ist – seinen Herzschlag, sein Atmen einfängt. Schließlich ist es eine Geschichte, die sich im Inneren eines Menschen abspielt. Schon im Drehbuch war angelegt, dass die Kraft in der Stille liegt. Denn auch eine Stille kann unglaublich laut sein.

In unserem Kamerakonzept haben wir deshalb viel mit bewegter Kamera und Handkamera gearbeitet, um Antons innere Unruhe sichtbar zu machen. Aus dieser inneren Bewegung heraus wollten wir die Wucht seiner Emotionen entwickeln. Antons Herz ist zu Beginn das wütende Herz eines Jungen, der kurz davor ist, zu explodieren. Dafür suchten wir Bilder – und auch musikalische Motive –, die das widerspiegeln, was in ihm vorgeht.

Unsere Komponisten, Dürbeck & Dohmen, haben eine musikalische Seelenlandschaft für Anton geschaffen, die seiner inneren Wunde eine Stimme gibt. Wir wollten den Film leise beginnen lassen, wie Musik, die langsam zum Leben erwacht – und ihn am Ende mit voller Wucht das Herz des Zuschauers erreichen lassen. So, dass man emotional berührt wird, dass man diesen jungen Menschen einfach nur umarmen möchte.

Wenn Sie auf den Film blicken: Was hoffen Sie, dass Zuschauerinnen und Zuschauer mitnehmen – Emotion, Erkenntnis, vielleicht Wut oder Empathie?
Ich wünsche mir, dass der Film einen ehrlichen Dialog anstößt – in den Familien, zwischen Eltern und Kindern, aber auch in unserer gesamten Gesellschaft. Es geht mir darum, Offenheit für ein Thema zu schaffen, das oft im Verborgenen bleibt, uns aber alle betrifft.

Ich wünsche mir, dass wir lernen, über Polizeigewalt und Machtverhältnisse zu sprechen – ehrlich, differenziert und ohne Vorurteile. Es geht nicht darum, „die Polizei“ anzugreifen oder schlechtzureden, sondern darum, genau hinzusehen, wenn Grenzen der Verhältnismäßigkeit überschritten werden. Denn wenn Gewalt rechtswidrig eingesetzt wird, darf das nicht folgenlos bleiben – und doch zeigt unsere Recherche, dass dies nicht immer der Fall ist.

Vielleicht kann ein Film wie dieser ein Anfang sein – ein Anstoß zum Nachdenken, zum offenen Austausch, ohne Verallgemeinerung oder Schuldzuweisung. Am Ende geht es um Empathie, Verantwortung und das Miteinander. Während der Arbeit an diesem Film wurde mir einmal mehr bewusst, wie wichtig es ist, unseren jungen Menschen Raum zu geben – damit sie sich gehört fühlen und ihr Vertrauen in unsere Gesellschaft nicht verlieren.

Vielen Dank für Ihre Arbeit.

«Polizei» ist seit 19. November in der ARD Mediathek abrufbar. Das Erste strahlt den Film am Mittwoch, den 26. November, um 20.15 Uhr aus.
26.11.2025 00:01 Uhr  •  Fabian Riedner Kurz-URL: qmde.de/166486