Filme des Grauens: «Human Centipede»

Mit Ekel wollte Tom Six einen Filmklassiker bauen, doch die schablosenartigen Figuren und leerer Story wurde nur ein Meme geboren.

Wenn ein Film mehr als urbanes Mutproben-Meme gereicht wird als das Kinoerlebnis, dann sind wir in der Kerndisziplin der „Filme des Grauens“. «The Human Centipede (First Sequence)» aus dem Jahr 2009 ist genau so ein Fall: ein niederländischer Body-Horror, der seinen Ruf mit einer einzigen, berüchtigten Idee zementierte – drei Menschen werden chirurgisch „Mund an After“ zu einer Kreatur zusammengenäht. Das Ergebnis ist nicht nur schwer verdaulich, es ist vor allem erstaunlich leer.

Die Handlung ist schnell erzählt: Zwei US-Backpackerinnen stranden nachts irgendwo in Deutschland, klopfen beim falschen Gastgeber an und landen im Keller des exzentrischen Dr. Josef Heiter (Dieter Laser), ehemals Trenn-, nun Zusammennäher siamesischer Zwillinge. Zu ihnen gesellt sich der Japaner Katsuro (Akihiro Kitamura). Heiter hält eine Vortragstafel in die Kamera, erklärt kühl die OP-Schritte und setzt sein „Haustier“ zusammen. Danach drillt er die „Zentipede“ wie einen Hund, während die Opfer, auf Knien gefesselt, kaum mehr tun als zu wimmern. Zwei Polizisten tauchen auf, zu spät und zu dumm, am Ende sind Arzt, Cop und zwei Segmente tot, die mittlere Frau (Ashley C. Williams) bleibt zwischen den Leichen gefangen. Abspann. Schock als Konzept, Schicksal als Pointe.

Warum ist das so schlecht? Nicht weil Tabubruch per se uninteressant wäre. Sondern weil der Film seine Grenzüberschreitung mit einer fast kindlichen Einfallslosigkeit feiert. Die Figuren sind Schablonen: „naive Girls ohne Empfang“, „böser Doktor mit Nazi-Aura“, „sprachbarrieregeschütztes Frontsegment“. Der oft kolportierte Claim „100 % medizinisch korrekt“ wirkt wie ein William-Castle-Marketinggag – und ist inhaltlich so hilfreich wie eine Beipackzettel-Fußnote. Tom Six setzt visuell auf kaltes Kliniklicht, grünstichige Keller, lange Tracking-Shots, das kann, zusammen mit Patrick Savage/Holeg Spies’ Score, kurz hypnotisieren. Aber jenseits dieser Ästhetik bleibt wenig als eine Ein-Ideen-Übung, die ihre eigene Provokation staunend anstarrt. Der Film will zugleich Torture-Porn karikieren und bedienen – und landet in der unbequemen Mitte: zu ernst für Satire, zu flach für echten Abgrund.

Das heißt nicht, dass nichts funktioniert. Dieter Laser als Heiter ist das große, gespenstische Plus: ein ausgemergeltes Raubtier mit Staccato-Diktion, dessen Präsenz dem Film erst Kontur gibt. Dass Laser 2020 verstarb, hat die späte Neubewertung seiner Leistung eher verstärkt – viele erinnern «Centipede» heute hauptsächlich wegen ihm. Ashley C. Williams und Ashlynn Yennie mussten derweil das Undankbarste spielen, was Horror kennt: Opfer ohne Stimme. Yennie kehrte im Sequel zurück, Williams blieb im Indie-Horror-Kosmos und auf der Bühne aktiv, Akihiro Kitamura arbeitete weiter in US-Serien und Independent-Projekten.

Und die Macher? Tom Six, der die Idee angeblich als Stammtischstrafe für einen Kinderschänder witzelte, baute aus dem Skandal ein Geschäftsmodell: «Full Sequence» (2011) und «Final Sequence» (2015) steigerten erst den Ekel, dann das Meta-Gewese – „100 % medically inaccurate“ und später „100 % politically incorrect“ – und verbanden die drei Filme zur „Movie Centipede“. Produzentin Ilona Six, seine Schwester, blieb am Ruder. Six’ anschließendes Provokationsprojekt «The Onania Club» sorgte vor allem mit Ankündigungen für Schlagzeilen und liegt (Stand heute) im Verleihlimbo. Kurz: Er macht weiter genau das, was «Centipede» verspricht: kalkulierte Grenztests als Marke.

An den Kinokassen war der erste Teil übrigens kein Hit: bei rund 1,6 Mio. Dollar Budget spielte er im Kino nur einen Bruchteil ein, wurde aber via Festivals, Heimkino und Streaming zum Kultobjekt – genauer: zum „Hast du den schon gesehen?“-Mutstück. Preise gab es trotzdem, vor allem auf Genrefestivals, die Kritik blieb gespalten zwischen angewidert, gelangweilt und (selten) fasziniert. Warum konnte das Übel nicht verhindert werden? Weil das System, in dem solche Filme entstehen, perfekt funktionierte: niedrige Kosten, memetaugliche Prämisse, polarisierendes Marketing. Investoren erfuhren den genauen „Mouth-to-Anus“-Witz erst spät, Skandal verkauft sich besser als Story. Und das Publikum? Es ist neugierig. Schon immer. «Centipede» bedient diese Neugier maximal effizient – ohne sich je zu fragen, ob das jenseits der Mutprobe erzählerisch trägt.

Heute ist der Film zudem schlecht gealtert, nur nicht aus den üblichen Gründen. Er ist nicht „unzeitgemäß“, er ist – ironischerweise – durch das Internet überholt worden. Was einst als unaussprechlich galt, steht heute als Hashtag im Nebel aus Reaction-Clips. Der Schock hat sich inflationiert. Zurück bleibt eine dünne Versuchsanordnung, die als Diskussion über Macht, Faschismus oder Körperpolitik taugen könnte, es aber nie wirklich will. Stattdessen dröhnt das Poster-Motto: „Their flesh is his fantasy.“ Genau. Mehr Fantasie hätte dem Film allerdings besser getan. Inzwischen rangiert der Spielfilm auf der gefürchteten Bottom-Liste von IMDB.
15.11.2025 12:04 Uhr  •  Sebastian Schmitt Kurz-URL: qmde.de/165778