Wie Prestige, Status und Ansehen unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. Hanno Sauer versucht die Klassenunterschiede zu beschreiben.

Mit „Klasse – Die Entstehung von Oben und Unten“ legt der Philosoph Dr. Hanno Sauer nach seinen erfolgreichen Büchern über Moral und Ethik erneut ein ebenso scharfsinniges wie fesselndes Werk vor. Diesmal widmet er sich einem Thema, das so alltäglich wie explosiv ist: der Frage, warum unsere Gesellschaft so ungleich ist – und warum wir dieses Ungleichgewicht oft für selbstverständlich halten.
Sauer, der mit „Moral: Die Erfindung von Gut und Böse“ bereits für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert war, führt seine Leserinnen und Leser in „Klasse“ mitten hinein in die soziale Architektur unserer Gegenwart. Er zeigt, dass es nicht nur um Einkommen und Besitz geht, sondern um Status, Ansehen und symbolische Macht – um die feinen, oft unsichtbaren Unterschiede, die unser Verhalten, unsere Sprache, unsere Freundschaften und sogar unser moralisches Urteil beeinflussen.
„Klasse“ ist kein trockenes Soziologiebuch, sondern ein erzählerisch geschriebenes Panorama, das unsere Gesellschaft wie unter ein Brennglas legt. Sauer beschreibt, dass Klassenstrukturen nicht nur Institutionen prägen, sondern in unsere Psyche eingeschrieben sind. Ob Kleidung, Musikgeschmack oder Urlaubsziele – unser Leben ist voller Statussignale, die Zugehörigkeit markieren. Sauer formuliert es zugespitzt: „Wir alle spielen auf der Bühne der Gesellschaft – aber die Rollen sind ungleich verteilt.“ Seine Analyse zeigt, dass diese Rollen sich längst nicht mehr nur an Einkommen oder Beruf festmachen, sondern an kulturellem Kapital, Lebensstil und Sprache. Eine neue Elite definiert sich nicht nur über Geld, sondern über Bildung, Netzwerke und die Fähigkeit, den richtigen Ton zu treffen.
Sauer fragt nach den Ursprüngen des Phänomens: Warum gibt es soziale Hierarchien, und warum scheinen sie so stabil? Anhand neuester Erkenntnisse aus Psychologie, Soziologie, Anthropologie und Wirtschaftswissenschaften erklärt er, wie tief das Streben nach Status im menschlichen Verhalten verwurzelt ist. Schon in frühmenschlichen Gemeinschaften, so Sauer, bildeten sich Hierarchien aus – nicht nur, um Ressourcen zu sichern, sondern um Orientierung zu schaffen. Doch der entscheidende Punkt ist: Diese Hierarchien sind nicht naturgegeben, sondern gesellschaftlich veränderbar. Wir halten sie nur für unveränderlich, weil sie sich in unseren Alltag eingeschrieben haben. „Klasse“ legt offen, wie wir gelernt haben, soziale Unterschiede nicht nur hinzunehmen, sondern sie aktiv zu reproduzieren – durch Bildungssysteme, Konsumverhalten und subtile kulturelle Codes.
Besonders spannend ist Sauers Versuch, die modernen Klassen zu kartieren. Die alte Trennung in „Arbeiterklasse“ und „Bürgertum“ sei überholt, schreibt er. Heute bestimmen andere Faktoren die soziale Zugehörigkeit: Bildung, digitale Kompetenz, kulturelle Offenheit, Mobilität. Der Philosoph spricht von „kognitiver Elite“ und „unsichtbarer Unterschicht“ – Gruppen, die in völlig unterschiedlichen Realitäten leben, obwohl sie im selben Land wohnen.
So beschreibt er etwa, wie sich eine neue obere Mittelschicht in urbanen Zentren eingerichtet hat, die an Nachhaltigkeit, Bildung und Weltläufigkeit glaubt – und dabei übersieht, dass ihre Werte selbst zu einem Prestigeprojekt geworden sind. Wer ökologisch lebt, die „richtigen“ Bücher liest oder an die richtige Universität gegangen ist, genießt gesellschaftliches Ansehen. Sauer analysiert diesen Mechanismus ohne moralische Überheblichkeit, aber mit entlarvender Klarheit: Selbst unsere moralischen Überzeugungen sind Ausdruck sozialer Positionierung.
„Klasse“ ist in seiner besten Form eine intellektuelle Reise durch die unsichtbaren Linien unserer Gesellschaft. Sauer verknüpft wissenschaftliche Erkenntnisse mit anschaulichen Beispielen, Anekdoten und Beobachtungen aus dem Alltag. So gelingt ihm ein Stil, der sowohl informativ als auch unterhaltsam ist – eine Kunst, die nur wenige Sachbuchautoren beherrschen. Er erklärt, warum Statuskämpfe so viel Energie binden, warum sich Menschen nach „oben“ orientieren, selbst wenn sie dafür „nach unten“ treten, und warum das Versprechen sozialer Mobilität zunehmend zur Illusion wird. Dabei schafft es Sauer, weder in Zynismus noch in moralische Belehrung zu verfallen. Stattdessen lädt er dazu ein, die eigene Position zu reflektieren: Wie viel von dem, was wir glauben, schön, richtig oder wertvoll zu finden – ist bloß Klassenästhetik?
Was Sauers Buch besonders stark macht, ist seine Haltung. Er argumentiert mit Empathie, ohne die analytische Schärfe zu verlieren. Er weiß, dass Klassengesellschaften nicht nur Ungerechtigkeiten produzieren, sondern auch Sehnsüchte, Zugehörigkeit und Sinn. Seine Stärke liegt darin, das Komplexe greifbar zu machen – ohne dabei zu vereinfachen. „Klasse“ ist damit weit mehr als eine Gesellschaftsanalyse. Es ist ein psychologisches Porträt des 21. Jahrhunderts, in dem Identität, Moral und Macht neu verhandelt werden.
Mit „Klasse – Die Entstehung von Oben und Unten“ ist Hanno Sauer ein herausragendes, provokantes und zugleich tief humanistisches Buch gelungen. Er zeigt, dass Klasse kein Relikt vergangener Zeiten ist, sondern ein Mechanismus, der unsere Gegenwart durchdringt – von der Politik über Social Media bis in die intimsten Bereiche unseres Lebens.