Buchclub: ‚Neustart für Deutschland – Mit einer Grand Strategy aus der Krise‘

Gerald Braunberger hat einen Weckruf für ein Land geschrieben, das seine Richtung scheinbar verloren hat.

Deutschland steht vor einer Weggabelung – politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Das ist die Ausgangsthese des neuen Buches „Neustart für Deutschland – Mit einer Grand Strategy aus der Krise“, das Gerald Braunberger, Herausgeber und Wirtschaftsexperte der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, im Oktober 2025 vorlegt. Es ist kein weiterer Krisenbericht, sondern ein strategisches Plädoyer für eine grundlegende Neuausrichtung des Landes.

Braunberger sieht Deutschland in einem Zustand der Erschöpfung: Die Gesellschaft ist müde von politischen Dauerkrisen, die Wirtschaft droht ins Hintertreffen zu geraten, und die internationale Ordnung wird von Autokratien und Machtverschiebungen erschüttert. Doch statt in Resignation zu verfallen, formuliert der Autor einen ambitionierten Gegenentwurf – inspiriert von dem in den USA etablierten Konzept der „Grand Strategy“. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Militär- und Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Er bezeichnet den übergeordneten strategischen Handlungsrahmen eines Staates, der politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ziele miteinander verbindet. Eine Grand Strategy ist langfristig angelegt, umfassend, realistisch – und vor allem auf das große Ganze ausgerichtet. Sie denkt Macht, Interessen, Sicherheit und Wohlstand zusammen, anstatt sie gegeneinander auszuspielen.

Für Braunberger ist genau das der Punkt, an dem Deutschland scheitert: Das Land reagiere zu oft nur auf Krisen, statt vorausschauend zu handeln. Entscheidungen werden vertagt, politische Prozesse verheddern sich in Kompromissen, während andere Mächte – von den USA bis China – strategisch agieren. Was fehle, sei ein gemeinsamer, langfristiger Plan, der nationale Interessen mit europäischen Zielen verbindet. Braunbergers Analyse beginnt im Inneren. Er beschreibt ein Land, das in der eigenen Bürokratie gefangen ist, das über Jahre seinen Reformwillen verloren hat und dessen politische Kultur von Kurzfristdenken geprägt ist. Der Autor spart nicht mit Kritik: „Deutschland ist in der Komfortzone seiner Vergangenheit stecken geblieben“, schreibt er sinngemäß.

Er fordert strukturelle Reformen, die nicht nur auf Wirtschaftsdaten zielen, sondern auf eine geistige Erneuerung. Dazu gehört eine Modernisierung der Verwaltung, eine neue Innovationskultur, ein entschlossenerer Umgang mit Technologie und Energiepolitik sowie eine Rückbesinnung auf die Werte der Sozialen Marktwirtschaft. Braunberger betont, dass wirtschaftliche Stärke kein Selbstzweck sei, sondern die Grundlage für gesellschaftliche Stabilität und politische Handlungsfähigkeit.

Ein zentrales Kapitel widmet sich der Rolle Europas. Deutschland, so Braunberger, müsse sich seiner Verantwortung in der Europäischen Union wieder bewusster werden. Statt sich in technokratischen Diskussionen zu verlieren, brauche es eine politische Vision für ein starkes, handlungsfähiges Europa – als Gegengewicht zu den Machtblöcken USA, China und Russland. Braunberger plädiert dabei für eine Rückbesinnung auf das westliche Bündnis. Deutschland solle sich klar zum Westen bekennen, zur NATO, zur Demokratie, zur Freiheit – und nicht den Fehler machen, wirtschaftliche Interessen über politische Loyalitäten zu stellen. In Zeiten, in denen autoritäre Systeme wirtschaftlich erfolgreich erscheinen, warnt der Autor eindringlich davor, diesen Modellen zu viel Bewunderung entgegenzubringen. Gleichzeitig fordert er eine Vitalisierung Europas. Nur wenn Deutschland gemeinsam mit seinen europäischen Partnern handelt, könne der Kontinent international bestehen. Eine Grand Strategy müsse auch eine europäische Strategie sein: für Sicherheit, Energie, Migration und Wirtschaftskraft.

Braunberger zeichnet kein Untergangsszenario. Im Gegenteil: Er glaubt an die Anpassungsfähigkeit der Globalisierung, wenn sie klug gesteuert wird. Globalisierung sei kein Schicksal, sondern ein Werkzeug – und wie jedes Werkzeug könne sie zum Nutzen oder Schaden eingesetzt werden. Er warnt jedoch vor zwei Extremen: vor der naiven Offenheit, die Abhängigkeiten schafft, und vor dem protektionistischen Rückzug, der Innovation abwürgt. Der Weg in die Zukunft liege in einer strategischen Balance – einer globalen Vernetzung, die demokratische Werte wahrt und gleichzeitig nationale Interessen schützt.

Was „Neustart für Deutschland“ von vielen Krisenbüchern unterscheidet, ist der Tonfall. Braunberger schreibt nicht alarmistisch, sondern analytisch, oft ruhig, immer faktenbasiert. Seine Stärke liegt darin, komplexe wirtschaftliche Zusammenhänge verständlich zu machen, ohne sie zu vereinfachen. Dabei gelingt ihm ein Spagat zwischen Pragmatismus und Idealismus: Er sieht die Missstände klar, glaubt aber an die Möglichkeit der Veränderung.

Der Autor argumentiert, dass Deutschlands Zukunft nicht an der Größe seiner Probleme scheitern werde, sondern an der Abwesenheit einer klaren Strategie. Er fordert dazu auf, wieder langfristig zu denken – über Legislaturperioden und Tagespolitik hinaus. Seine Botschaft: Das Land braucht keine revolutionäre Umwälzung, sondern eine klare, strategische Idee von sich selbst. Eine Idee, die über Verwaltung, Parteiinteressen und Symbolpolitik hinausgeht – eine echte „Grand Strategy“, die Deutschland wieder zum Gestalter macht, nicht nur zum Reagierenden. Wer verstehen will, warum Deutschland derzeit stagniert und wie ein Neubeginn aussehen könnte, findet in Braunbergers Buch eine kluge, inspirierende und erfrischend unaufgeregte Lektüre. Es ist ein Buch, das zum Denken anregt – und zum Handeln auffordert.
04.11.2025 12:46 Uhr  •  Sebastian Schmitt Kurz-URL: qmde.de/165626