Buchclub: ‚Die Holländerinnen‘

Ein literarischer Abstieg in das Herz der Finsternis – präzise, verstörend, großartig und nun bekam das Buch von Dorothee Elmiger am Montag den Deutschen Buchpreis.

Mit „Die Holländerinnen“ hat Dorothee Elmiger den Deutschen Buchpreis 2025 gewonnen – und das vollkommen zu Recht. Ihr Roman, erschienen im Carl Hanser Verlag, ist keine leichte Lektüre, sondern eine Erfahrung. Eine sprachgewaltige, unheimliche und zutiefst beunruhigende Reise ins Innere der Welt – und der menschlichen Seele. Elmiger führt ihre Leserinnen und Leser an einen Ort, an dem Realität, Fiktion und Wahn ineinander übergehen.

Am Anfang steht ein Anruf. Eine namenlose Schriftstellerin – die Erzählerin des Romans – fährt am Straßenrand eines nächtlichen Highways, als ein gefeierter Theatermacher sie kontaktiert. Er will sie für ein neues Projekt gewinnen: ein Stück, das in den Tropen spielt, eine Rekonstruktion eines realen Falls, bei dem zwei holländische Frauen in einem südamerikanischen Urwald verschwunden sind. Die Erzählerin sagt zu – aus Neugier, aus Unruhe, vielleicht auch aus einer Sehnsucht, sich selbst zu verlieren. Wenige Wochen später schließt sie sich der Theatergruppe an. Gemeinsam reisen sie in das „tiefe Innere des Urwalds“, wo Kunst und Realität ununterscheidbar werden. Was als künstlerisches Experiment beginnt, verwandelt sich in einen Trip in die Dunkelheit – inspiriert von Joseph Conrads „Heart of Darkness“ und zugleich völlig eigenständig in Sprache und Form.

Elmiger entfaltet eine vielschichtige Erzählung über Menschen und ihre Abgründe. Im Urwald, fernab der Zivilisation, verliert die Theatergruppe zunehmend die Kontrolle – über ihr Projekt, ihre Moral, ihr Selbstbild. Die Mitglieder beginnen, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen, von Gewalt, Verlust, von Schuld. Diese Erzählungen überlagern sich, werden unzuverlässig, widersprüchlich, wie Fieberträume, die das Bewusstsein der Figuren auflösen. Die „Holländerinnen“ selbst, nach denen gesucht wird, erscheinen bald nur noch als Schatten. Sie sind Projektionsflächen für Ängste, Sehnsüchte und Schuldgefühle. Elmiger verwandelt ihre Geschichte in ein Parabelstück über den westlichen Blick, über kulturelle Aneignung und die Unfähigkeit, andere Lebenswelten wirklich zu verstehen.

Dorothee Elmigers Sprache ist das Herzstück dieses Romans. Sie schreibt mit unglaublicher Präzision und Musikalität, jeder Satz sitzt, jede Beobachtung hat Gewicht. Ihre Prosa ist sinnlich und gleichzeitig analytisch, klar und doch von einem geheimnisvollen Schweben durchzogen. Es ist diese ambivalente Distanz, die den Text so faszinierend macht – er zieht den Leser in einen Sog, ohne ihn zu führen. Der Stil ist hypnotisch, rhythmisch, manchmal fast filmisch. Elmiger arbeitet mit Wiederholungen, Fragmenten und Einschüben, die eine Atmosphäre von Verlorenheit erzeugen. Man liest das Buch, als würde man selbst in den Dschungel hineingezogen – immer tiefer, immer weiter weg von den vertrauten Koordinaten der Realität.

„Die Holländerinnen“ ist kein Abenteuerroman, sondern eine Reflexion über den Zustand der Welt. Die Reise in den Urwald wird zur Metapher für eine globale Gegenwart, die in ihrer eigenen Hybris versinkt. Elmiger zeigt Menschen, die glauben, sie könnten alles rekonstruieren, analysieren, darstellen – und die dabei ihre eigene Menschlichkeit verlieren. Die Jury des Deutschen Buchpreises brachte es auf den Punkt: Elmigers Roman erzählt „von Menschen, die in ihr dunkelstes Gegenteil verfallen“. Der Urwald steht für das Unbewusste, das Verdrängte – aber auch für die zerstörerische Gier nach Erkenntnis und Kontrolle. Indem Elmiger diese Themen mit der Gegenwart verknüpft – Klimakrise, Kolonialgeschichte, Machtmissbrauch –, entsteht ein Werk, das zeitlos und aktuell zugleich ist.

Die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger, Jahrgang 1985, gehört seit Jahren zu den interessantesten Stimmen der deutschsprachigen Literatur. Schon mit ihren früheren Romanen „Einladung an die Waghalsigen“ und „Aus der Zuckerfabrik“ bewies sie, dass sie gesellschaftliche und philosophische Fragen in poetische Literatur verwandeln kann. Sie schreibt gegen das Vergessen, gegen Gleichgültigkeit, und immer mit einer radikalen Neugier auf das, was Sprache leisten kann. Mit „Die Holländerinnen“ ist ihr bislang radikalstes und kompromisslosestes Werk gelungen. Es vereint philosophische Tiefe mit erzählerischer Wucht und ist dabei weder eindeutig realistisch noch surreal, sondern changiert zwischen Traum und Dokumentation.

Elmiger gelingt etwas, das nur große Literatur kann: Sie erzählt vom Unsagbaren. Sie schreibt nicht einfach über Angst, Gewalt oder Schuld – sie macht sie spürbar, körperlich, sprachlich, atmosphärisch. Ihr Roman verlangt Aufmerksamkeit, Geduld, Bereitschaft zum Eintauchen. Doch wer sich darauf einlässt, wird mit einer Lektüre belohnt, die einen nicht mehr loslässt. „Die Holländerinnen“ ist ein Roman über das Scheitern der Erzählung selbst.
14.10.2025 12:20 Uhr  •  Sebastian Schmitt Kurz-URL: qmde.de/165421