‚Ohne Kultur können wir Menschen uns unser nicht so gut bewusst werden wie mit'
Seit 30 Jahren begleitet «Kulturzeit» auf 3sat die gesellschaftlichen Debatten im deutschsprachigen Raum. Moderatorin Vivian Perkovic spricht im Interview über die Stärke des länderübergreifenden Formats, die Rolle von Kultur in Krisenzeiten und warum sie Kultur nicht als Nische, sondern als notwendige Orientierung für unsere Gesellschaft versteht.
«Kulturzeit» wird 30 – was bedeutet Ihnen persönlich dieses Jubiläum?
Finde es schön, dass ein Format, dem es so um das in Verbindung bringen von Zeitgeschehen und kulturellen oder geisteswissenschaftlichen Perspektiven gelungen ist, so lange so frisch zu bleiben. Denn, das finde ich auch, die «Kulturzeit» von Mitte der 90er ist nicht mehr die von heute, sondern hat immer ihre jeweilige Zeit bereichert.
Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit dem Magazin – als Zuschauerin oder schon als Teil des Teams?
Ja, klar, weiß noch, wie atemberaubend ich Gerd Scobel fand. Also seine schlaue und unerschrockene Art, seine Gesprächsgäste, aber auch die Zuschauer herauszufordern. Damals waren die Diskurse noch viel elitärer als sie es heute sind. Und für mich war Gerd Scobels Art, sie zu vermitteln wie ein Guckloch in eine Welt, die mir bis dahin immer eher abweisend vorgekommen war.
Und dann war ich in meinem Volontariat auf Station bei der «Kulturzeit», genau in der Zeit, in der Zoran Djindjic in Belgrad erschossen wurde. Und konnte direkt einen Dreh in Belgrad organisieren, mit Menschen aus der serbischen Kulturszene, die ich kannte und hinfahren. Das war toll.
Die Sendung versteht sich als gemeinsames Projekt von ZDF, ORF, SRF und ARD. Welche Stärke hat dieses länderübergreifende Modell – und wo liegen die Herausforderungen?
Das sind vor allem mehr Blickwinkel und mehr Kultur - Bücher, Theater, Ausstellungen und Menschen, über die wir berichten oder mit denen wir sprechen können. Und es ist ganz fruchtbar, wenn wir in Deutschland auf die direktdemokratische Schweiz blicken können oder nach Österreich, die mit Rechtspopulismus in den vergangenen Jahrzehnten früher Erfahrungen gemacht haben. Und die Kollegen zu uns.
Zum Jubiläum stellen Sie die Frage „Kann Kunst die Welt retten?“. Was hat Sie an dieser Fragestellung besonders gereizt?
Ehrlich gesagt hab‘ ich mir die Frage nicht ausgedacht. Und nee, Kunst kann die Welt nicht retten. Das kann aber auch die Technologie nicht oder die Diplomatie, oder sonst irgendwas, das Menschen auf einer abstrakteren Ebene überlegen.
Nur die Menschen selbst können die Welt retten oder zerstören - aber die Kunst, oder ich würde eher den Begriff Kultur nehmen, gibt uns Raum, um in Primo Levis „Ist das ein Mensch?“ zum Beispiel vom Schicksal eines Juden im Vernichtungslager im Zweiten Weltkrieg, oder in Filmen wie «No other land» vom Schicksal palästinensischer Familien im Westjordanland heute erfahren und uns empathischer machen zu können. Und gleichzeitig schafft Kunst bestenfalls Platz für Ambivalenzen, ist bestenfalls nicht nur Propaganda für das Eine oder das Andere, sondern macht uns sensibel für die Bedingungen des Menschlichen, und die sind gleich, auch wenn die äußeren Bedingungen sehr unterschiedlich sind.
Aber mir zum Beispiel gibt dieses Menschen-Erfahren durch Kunst eine auch ethische Orientierung und einen Halt, den ich im Religiösen nicht mehr finden kann. Und dann ist Kultur abgesehen davon natürlich auch wilde Vision oder laute Katharsis. Aber ohne Kultur können wir Menschen uns unser nicht so gut bewusst werden wie mit.
In der Sonderausgabe «Kulturzeit extra» geht es um Zusammenhalt. Welche Rolle kann Kultur Ihrer Meinung nach in einer Zeit spielen, die von Krisen geprägt ist?
Also was Kultur als Vermittlerin leisten kann, habe ich ja gerade beschrieben. Aber das geht noch weiter.
Denn oft setzt sie physische Präsenz voraus - im Theater, in der Ausstellung, im Kino. Das ist schonmal super, da stehe oder sitze ich neben jemandem, den ich nicht kenne. Mit dem ich nach dem Film ins Gespräch kommen kann. Solche Situationen sind wichtig für eine Gesellschaft, die sich im Netz nur noch anschreit. Oder genauer, wo sich die Pole anschreien, und eine schweigende Mehrheit wie beim Tennis hin- und herguckt. Weil in der Ausstellung wird man sich eher nicht anschreien, auch bei unterschiedlicher Meinung. Das zu merken, ist notwendiger denn je.
Also Kultur holt uns vom Sofa oder aus der Filterblase, wenn wir hingehen. Und dafür bin ich unbedingt, aufzustehen und sich auseinanderzusetzen. Aber auch wenn es eine gestreamte Serie ist, oder ein Album, das ich auf Kopfhörern höre - Kunst braucht meistens mehr Zeit, bietet deswegen auch gleichzeitig mehr Tiefe, Ruhe und Konzentration. Ey, und wer braucht das nicht gerade?
«Kulturzeit» hat über die Jahrzehnte viele Debatten begleitet. Gibt es einen Beitrag oder eine Sendung, die für Sie besonders prägend war?
Für mich ist eher die Erfahrung prägend, festgestellt zu haben, wie gut gerade ein Magazin die sich überlagernden Krisen begleiten kann. Solche Magazine mit mehreren Gesprächen, Beiträgen und Moderation wurden im Fernsehen ja eher abgeschafft, aber nichts kann außerhalb der Nachrichtenmagazine so gut und präzise auf den Tag reagieren. Das haben wir während Corona gemerkt, wo wir uns in der Redaktion erst gefragt haben, worüber wir berichten sollen, wenn die Kultur dicht ist. Und dann haben wir gemerkt, was für einen Bedarf es gab für eine Plattform, auf der Künstler:innen aus der Quarantäne Videos zeigen konnten und in denen wir Zeit für Gespräche hatten. Und das ist dann mit Russlands Angriff auf die Ukraine oder dem 7. Oktober auch so geblieben, dass wir beweisen, wie wichtig es ist, historische, soziologisch, künstlerisch auf die Krisen der Gegenwart zu blicken und Zeit zu haben darüber auch im Gespräch nachzudenken.
Kritiker sagen manchmal, Kulturjournalismus sei ein Nischenthema. Wie erklären Sie den anhaltenden Erfolg von «Kulturzeit» im täglichen Programm?
Die steigenden Zuschauerzahlen bestätigen das, glaube ich, dass auch unsere Zuschauerinnen und Zuschauer in uns Begleiterinnen sehen, durch die Krisen. Die aber auch mal einen anderen Film oder Comic vorschlagen.
Die Moderatorinnen bringen auch ihre nationalen Perspektiven ein. Wie bereichernd ist für Sie persönlich der Austausch mit Ihren Kolleginnen aus Österreich und der Schweiz?
Sehr. Möchte unseren Signal-Chat nicht missen!
In 30 Jahren hat sich auch das Mediennutzungsverhalten stark verändert. Wie wichtig sind Mediathek, Social Media und digitale Plattformen inzwischen für «Kulturzeit»?
Es gibt immer so eine Hektik, neue Formate zu entwickeln. Oder Ausspielwege zu finden. Und das mit den Ausspielwegen ist auch wichtig, weil die wenigsten noch um 19.20 Uhr vor den Fernseher sitzen. Die müssen Kulturzeit natürlich auch woanders finden.
Aber ansonsten finde ich, bleibt ein erhellendes Gespräch ein erhellendes Gespräch, das ein bestimmtes Handwerk und journalistisches Bewusstsein fordert. Und das funktioniert. Und das kann mal 7 oder 20 oder 45 Minuten lang sein. Aber auch dieses Kürzen an der Zeit, im Formatradio sind Beiträge und Gesprächslots immer kürzer geworden. Und dann haben die, die meinten, diese Vorliebe in Hörer:innen-Befragungen so rausgefunden zu haben, gesehen wie sich die Menschen stundenlang Podcasts anhören. Die Form oder das Format macht allein also nichts, Inhalte können alles.
Und etwas anderes finde ich sehr wichtig: was wir als Gesellschaften auf der ganzen Welt verpasst haben, ist, die Formate, die uns die sozialen Medien vorgeben, zu hinterfragen. Und auch, ob wir wirklich Themen wie den Nahostkonflikt in Timelines diskutieren wollen, verbogen von Algorithmen, die sicher nicht eine bessere Verständigung, sondern mehr Interaktion für mehr Werbewirksamkeit bewirken sollen. In 2.200 Zeichen einer Instagram-Caption kann man zwar einiges formulieren, aber das ist trotzdem kein Ort für öffentliche politische Meinungsbildung. Dass Insta und TikTok das mittlerweile aber tatsächlich sind, hat uns nicht geholfen, und dafür müssen wir endlich nicht-kommerzielle, transparente, europäische öffentlich-rechtliche Alternativen finden. Ideen dafür gab und gibt es schon. Zum Beispiel die European Public Sphere, an der der ehemalige BR-Intendant Ulrich Wilhelm mitgearbeitet hat. Oder auch eine Studie des ZDF-Verwaltungsrates, die gerade das ZDF geeignet sieht als Ermöglicher und Organisator eines „Digital Open Public Space“ (DOPS), also einer öffentlich-rechtliche Kommunikationsinfrastruktur, die eine gemeinwohlorientierte Alternative zu den dominierenden, privatwirtschaftlich organisierten sozialen Netzwerken bietet.
Spannende Idee. In Deutschland soll eventuell 3sat eingespart werden. Wo sehen Sie eine optimale Heimat für «Kulturzeit»?
Auf dieser nicht-kommerziellen, transparenten, europäischen, öffentlich-rechtlichen Alternative. Bis dieser Traum wahr wird, aber sehr gern auf 3sat.
In diesem Sinne: Auf gute weitere Jahre!
«Kulturzeit» ist werktäglich um 19.20 Uhr zu sehen.