Silke Eggert: ‚Nackt sein heißt verletzlich, aber auch stark‘

Die ARD/WDR-Serie «naked» ist mehr als ein Drama über Sexsucht und Co-Abhängigkeit: Für Drehbuchautorin Silke Eggert bedeutet sie auch die künstlerische Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen.

«naked» (ARD/WDR) basiert auf Ihren persönlichen Erfahrungen – wie schwierig war es für Sie, diese sehr privaten Erlebnisse in eine fiktive Serie zu überführen?
Erst einmal möchte ich betonen, dass die Figuren und auch die Dramaturgie in «naked» nichts mit meiner privaten Geschichte zu tun haben. Meine persönlichen Erfahrungen konnte ich dazu nutzen, ein fiktives, und dennoch authentisches Universum um die Figuren Marie und Luis zu bauen, die in eine solch toxische Dynamik abgleiten. Dabei hat mir der Abstand, dem mir die Seite gegeben hat, sehr geholfen, um im Nachhinein noch mehr Klarheit im Bezug auf die eigene durchlebte Dynamik zu gewinnen.

Sexsucht und Co-Abhängigkeit sind Themen, über die in Deutschland bislang kaum gesprochen wird. Warum war es Ihnen so wichtig, diese Geschichte jetzt zu erzählen?
Sexsucht ist, gerade in Verbindung mit Internetpornografie, sehr auf dem Vormarsch, und gleichzeitig immer noch weitestgehend unbekannt. Wenn ich davon erzähle, kommen oft blöde Witze. Das soll sich ändern. Die Sexsucht ist eine der Alkoholsucht sehr ähnliche Krankheit: Die Dosis muss erhöht werden, der Sex bereitet dem oder der Süchtigen kein Vergnügen, sondern ist zum Druck ablassen da. Partner und Partnerinnen sowie Angehörige werden in Mitleidenschaft gezogen und geraten in co-abhängige Dynamiken. Wenn niemand darüber spricht, können sich die Betroffenen auch keine Hilfe holen. Ein Tabu hilft uns nicht weiter. Die Geschichte von naked ist aber universeller, denn sie zeigt Dynamiken auf, in denen sich jeder Mensch, der Beziehungen führt, wiederfinden kann. Es geht um Intimität, Nähe, toxische Bindungsmuster, auch in Freundschafts- und Familienbeziehungen, in die wir alle hineingleiten können, und um Suchtstrukturen, die in dieser Welt, in der Art von Kapitalismus, in der wir heute leben, ihren Ursprung finden.

Die Serie wird als „Love-Noir“ beschrieben. Wie würden Sie selbst diesen Tonfall und die Atmosphäre einordnen?
‚Love Noir‘ bedeutet für mich in diesem Fall, sexy und spannend zu erzählen, ohne den Sog, den solch dunkle Liebesgeschichten oft haben, zu romantisieren. Das ist uns, meinem Co-Autor Sebastian Ladwig und mir, hoffentlich gelungen.

Marie und Luis verfallen einander sofort, geraten aber in eine toxische Spirale. Was macht für Sie den besonderen Reiz dieser Figurenkonstellation aus?
Mir ist beim Schreiben klar geworden, dass die Geschichte von Marie und Luis bei aller Dunkelheit und Toxizität eine große Liebesgeschichte ist. Und zwar eine, die einem das Leben gibt, um daran zu wachsen. Und zumindest im Fall von Marie passiert das ja auch. Das war mir sehr wichtig - nicht nur das Problem, sondern auch die Lösung zu erzählen. Geschichten über Traumata, Toxizität und Dysfunktionalität gibt es
zuhauf - dass daraus auch Resilienz und Wachstum entstehen kann, wird weniger erzählt. Das sollten wir ändern.

Die WHO hat Hypersexualität erst 2019 offiziell als Krankheit anerkannt. Glauben Sie, dass Ihre Serie dazu beitragen kann, Vorurteile abzubauen?
Das ist meine große Hoffnung.

Wie sind Sie an die Balance zwischen authentischer, manchmal schonungsloser Darstellung und fiktionaler Dramaturgie herangegangen?
Ich liebe es, in die menschliche Psyche einzutauchen. Ich habe kürzlich einen sehr inspirierenden Talk zu Storytelling gehört, in dem die Sprecherin von „Real Imagination“ redet. Klingt erstmal wie ein Gegensatz, beschreibt aber eine fiktive Geschichte, die in den reichhaltigen Lebenserfahrungen eines Menschen verwurzelt ist. Denn die Realität ist immer spannender als jede Geschichte. Durch meine persönlichen Erfahrungen und die intensive Recherche konnte ich mich in jede meiner Figuren hineinversetzen. Somit ist - hoffentlich - etwas entstanden, was gleichzeitig „true to life“, authentisch, und trotzdem fiktiv ist.

Bettina Oberli hat bei allen Folgen Regie geführt – wie verlief die Zusammenarbeit und wie hat sie Ihre Vision filmisch umgesetzt?
Bettina ist mit unheimlich viel Einfühlungsvermögen in die filmische Umsetzung gegangen und hat mich bei Fragen zu den Figuren oft zu Rate gezogen, bis in den Schnitt hinein. Ihr war es unheimlich wichtig, mir und meiner Vision gerecht zu werden. Ein Traum für jede Drehbuchautorin. Und so wichtig für die Geschichte.

Denn wer kennt die Figuren besser als der oder diejenige, der sie kreiert hat? Ich wünschte mir, diese Art von respektvoller und wertschätzender Zusammenarbeit würde zum Standard in unserer Branche werden.

Sie arbeiten mit einem hochkarätigen Ensemble, darunter Svenja Jung, Noah Saavedra und Juliane Köhler. Welche Momente am Set sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Ich war am Set, als eine Szene gedreht wurde, in der Luis einen Rückfall hat und im Swingerclub einen Exzess erlebt. Wir haben in einem echten Club und mit realen Swingern als Statisten gedreht. Das war natürlich krass und unheimlich sensibel. Wie erzähle ich diesen Exzess, ohne ihn auszustellen und die Bilder zu reproduzieren, die wir hier eben nicht sehen wollen? Ein Kraftakt für alle Beteiligten, allen voran Noah als Luis. Mich hat die Professionalität des ganzen Teams sehr beeindruckt. Dann gab es noch einen für mich persönlich sehr berührenden Moment, als Bettina mich dem Team vorstellte und alle geklatscht haben. Das war im Hinblick auf meine persönlichen, teils schmerzhaften Erfahrungen und dem, was nun mit der Hilfe so viel toller Menschen dabei war, daraus zu entstehen, sehr emotional.

Drehen über ein so intensives, emotionales Thema kann auch belastend sein. Gab es für Sie oder das Team Schutzmechanismen während der Produktion?
Das würde ja vor allem die Schauspieler*innen betreffen, dazu kann ich nicht viel sagen. Wir hatten natürlich eine unheimlich tolle Intimacy-Koordinatorin, die sich nicht nur um den Schutz der Schauspieler*innen gekümmert hat, sondern auch viel tollen konstruktiven und kreativen Input eingebracht hat. Ansonsten kann ich nur für den Umgang mit mir sprechen, der immer von Respekt und Wertschätzung begleitet war.

Was wünschen Sie sich, dass Zuschauerinnen und Zuschauer nach dem Ansehen von «naked» über Liebe, Abhängigkeit und Selbstbestimmung mitnehmen?
Erstmal war und ist mir wichtig zu erzählen, dass Liebe und Beziehungen voller Ambivalenzen sind und es kein Schwarzweiß gibt. Es gibt ja diesen Spruch: „If life gives you lemons, make lemonade“. Wenn du eine ähnlich schmerzhafte Erfahrung gemacht hast - wie konntest du dennoch daran wachsen? Nackt zu sein, bedeutet ja auch, sich zu zeigen, verwundbar zu sein. Das muss aber nicht mit Schwäche einhergehen. Wir können gleichzeitig nackt und verletzlich und stark und resilient sein.

Vielen Dank für Ihre Zeit!

«naked» ist ab 1. Oktober 2025 in der ARD Mediathek abrufbar. Die lineare Ausstrahlung erfolgt am 3. Oktober 2025 ab 23.45 Uhr und am 4. Oktober ab 00.55 Uhr.
30.09.2025 12:23 Uhr  •  Fabian Riedner Kurz-URL: qmde.de/164911