'Die Konflikte und Abhängigkeiten wollten weitererzählt werden' – Produzent Alexis von Wittgenstein über «Oktoberfest 1905»

Mit «Oktoberfest 1905» kehrt die preisgekrönte Hoflinger-Saga zurück. Produzent Alexis von Wittgenstein spricht im Quotenmeter-Interview über den Reiz, die Geschichte weiterzuerzählen, über den Balanceakt zwischen historischer Authentizität und erzählerischer Freiheit – und warum zerstörerische Familiendramen seit Homer und Shakespeare nichts von ihrer Faszination verloren haben.

Herr von Wittgenstein, Sie haben die Hoflinger-Saga bereits während der ersten Staffel weitergedacht. Was hat Sie persönlich daran gereizt, diese Geschichte unbedingt fortzusetzen?
Die eigentliche Triebkraft war eine tiefe Leidenschaft für den Stoff, für diese Zeit und nicht zuletzt für die Stadt München. Vor allem aber hat unseren Headautor Ronny Schalk und mich die Liebe zu unseren Figuren nicht losgelassen. Wir haben den Hoflinger-Clan ja im dramatischsten Moment verlassen: Roman ist verheiratet mit Clara der Tochter des Mörders seines Vaters, mit eben diesem Curt Prank führt er eine gemeinsame Firma, die auf dem besten Weg ist, ein Braukonzern zu werden – und seine eigene Mutter hat er dafür in die Psychiatrie weggeschlossen. Clara wiederum steht zwischen zwei machtbewussten Männern und droht, in einer toxischen Beziehung zu beiden gefangen zu bleiben. Ihr Vater versucht, über ihren kleinen Anteil an der Firma Einfluss zu nehmen, Roman wiederum setzt auf ihre Loyalität, um seinen Willen durchzusetzen.

All diese Konstellationen fünf Jahre ruhen zu lassen, war schlicht nicht auszuhalten. Die Konflikte und Abhängigkeiten wollten weitererzählt werden. Für uns war klar: Wir mussten zurückkehren und herausfinden, wie sich die Figuren emotional zueinander verhalten, nachdem sich die Zeit über sie gelegt hat.

In «Oktoberfest 1905» spielt die Moderne – Autos, Achterbahnen, Röntgenstrahlen – eine große Rolle. Wie wichtig war Ihnen, diese technischen und gesellschaftlichen Umbrüche sichtbar zu machen?
In «Oktoberfest 1900» standen wir noch an der Schwelle zur Moderne, jetzt, 1905, sind wir mit einem ersten großen Schritt hineingetreten. Dieser Übergang ist zentral, weil sich unsere Serie ständig am Konflikt zwischen Tradition und Fortschritt entzündet – ein Spiegel dessen, was wir auch heute gesellschaftlich erleben. Unsere Figuren verkörpern diese Spannungen, sie tragen unterschiedliche Werte, Hoffnungen und Ängste in sich. Der Zeitsprung ist deshalb mehr als nur eine Jahreszahl: Er deutet bereits an, wohin sich die deutsche Gesellschaft in den folgenden Jahren entwickeln wird – unter dem wachsenden Druck eines entfesselten Kapitalismus, der schließlich in soziale Unruhen und politischen Extremismus mündet. Wenn wir in Oktoberfest 1905 die Petersburger Blutnacht thematisieren, von der unserer Protagonist Kyrill, gespielt von Slavko Popadic, nach München flieht, oder wenn wir Automobile und Flugzeuge zeigen, dann ist das nicht nur Zeitkolorit. Es ist auch ein Fingerzeig darauf, dass diese Errungenschaften, die in Friedenszeiten so aufregend wirken, später ihre ganz eigene Rolle in den gewaltsamen Konflikten des 20. Jahrhunderts spielen werden.

Historische Authentizität trifft bei Ihnen immer auf erzählerische Freiheit. Wie finden Sie die Balance zwischen Fakten und Fiktion?
Für die Entwicklung unserer neuen Staffel habt unser Autorenteam sehr viel Zeit und Passion in die Recherche gesteckt. Aber unser Ansatz war nie, Geschichte eins zu eins nachzuerzählen, sondern uns von ihr inspirieren zu lassen. Uns interessiert weniger die minutiöse Rekonstruktion einzelner Ereignisse, sondern vielmehr die großen gesellschaftlichen Umbrüche, die diese Zeit geprägt haben: die erstarkende Frauenbewegung, die Politisierung der Massen, die Ausläufer der Industrialisierung, der Kapitalismus als neue, dominante Ordnung. Dazu ein rigider Umgang mit Minderheiten wie Homosexuellen – und das zur Schau stellen von Menschen aus den Kolonien, die man damals zynisch als exotische Attraktionen vorführte.

Wichtig ist uns dabei, dass die Themen, die wir ansprechen, auch heute Relevanz haben. Die Handlung selbst nimmt sich erzählerische Freiheiten, aber die Aussagen, die wir treffen, sollen immer authentisch und wahrhaftig sein. Mit anderen Worten: Wir betreiben keine Geschichtsschreibung – wir erzählen Geschichten über unsere Vergangenheit, die bis heute nachhallen.

Mit Figuren wie Nappi in der „Deutschen Eiche“ oder Adam Mertz (gespielt von Rainer Bock) kommen neue Charaktere hinzu. Welche Dynamik bringen sie in die Serie?
Beide Figuren sind nicht zufällig hinzugekommen, sondern weil sie die Entwicklung unserer bestehenden Charaktere weiter antreiben. Colina etwa trägt die Vorgeschichte einer Frau, die der Prostitution entkommen ist und als Wirtshaussängerin eine Karriere gemacht, die an die historische „Schützenliesl“ Coletta Moritz angelehnt ist. In der zweiten Staffel treffen wir sie nun an dem bitteren Punkt, an dem sie genau in jenes Milieu zurückgedrängt wird, dem sie entfliehen wollte. Wir erleben ihren Kampf, ihre Würde zu bewahren – nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass sie einen inzwischen pubertierenden Sohn hat, den sie nicht verletzen oder enttäuschen möchte.

Nappi wiederum verkörpert genau diesen Struggle. Historisch war Napoleon, genannt Nappi - unwiderstehlich gespielt von Lisa Maira Potthoff - die Leiterin des Bordells im ersten Stock des Gasthofs zur Deutschen Eiche – mitten im verruchten Glockenbachviertel, das damals durch die Nähe zum Gärtnerplatztheater mit seinen Tänzern ein Anziehungspunkt für ein queeres Publikum war. In unserer Serie ist Nappi eine Figur voller Widersprüche: Sie steht einerseits für das ausbeuterische System, das Menschen in Abhängigkeit hält, andererseits agiert sie als fürsorgliche Rebellenanführerin, die sich gegen die moralischen Doppeldeutigkeiten des wilhelminischen Zeitalters auflehnt. So kommt auch unser Lieblingsopportunist und Lokalpolitiker Urban wieder ins Spiel, den wir wie einst in den 80er Jahren Peter Gauweiler auf einen Kreuzzug gegen das Rotlichtmilieu schicken. Der Wiesnhit „Skandal im Sperrbezirk“ zeugt heute noch von dieser epischen Auseinandersetzung.
Mit Adam Mertz, gespielt von Rainer Bock, wird schließlich das Großkapital Teil des Spiels. Als Finanzinvestor verfolgt er die Idee eines Brauerei-Trusts und treibt so die Entfremdung zwischen Prank und Roman auf die Spitze. Besonders brisant wird die Figur dadurch, dass sie eine verborgene Verbindung zu einer unserer ProtagonistInnen hat – eine Konstellation, die das gesamte Intrigenspiel noch einmal neu ordnet. Für Mertz standen im Übrigen durchaus reale Persönlichkeiten jener Zeit Pate, die die Brauereigeschichte in einer Zeit der großen Fusionen geprägt haben.

Eine weitere schillernde Figur ist Carl Samuel, die dem damaligen Schausteller-König und Hippodrom-Gründer Carl Gabriel nachempfunden ist. Kein anderer hätte diesen zwielichtigen Charakter mit mehr Schmäh spielen können als Daniel Christensen, vielen auch als Flötzinger aus den Eberhoferkrimis bekannt.

Alle drei Darstellenden sowie alle weiteren neu hinzugekommenen Rollen wurden diesmal von Marc und Meike Schötteldreier fantastisch und mit viel Hingebung besetzt. Gemeinsam mit dem wieder vollständig versammelten Cast der ersten Staffel - sofern die Charaktere das Staffelende überlebt hatten - ergibt sich ein ungeheuer wuchtiges Schauspielensemble, das seinesgleichen sucht.

Die Familie Prank/Hoflinger ist zerrissen von Hass, Intrigen und Machtkämpfen. Warum übt gerade dieses zerstörerische Familiendrama eine so große Faszination auf Zuschauer aus?
Diese Frage hätte man wahrscheinlich schon Shakespeare oder Homer stellen können, ohne unsere Serie auch nur im entferntesten auf eine Stufe mit dem Werk dieser Meister setzen zu wollen. Jede und jeder weiß, wie schnell verletzte Liebe in einer Familie in ihr Gegenteil umschlagen kann – bis hin zu blankem Hass. Die Gefälle sind enorm, und in unserer Geschichte stand von Anfang an die Frage im Raum: Was wiegt schwerer – Blut oder Bier, Familie oder Geschäft?

Genau diese Spannung hat schon Thomas Mann in einem Roman „Buddenbrooks" verhandelt, den er tatsächlich im Jahr 1900 in München verfasst hat. Es war also ein Thema, das damals brandaktuell war – und es fasziniert die Menschen bis heute. Ich glaube, das liegt daran, dass solche Konflikte etwas Archetypisches haben: Jede und jeder ist in eine Familie hineingeboren, kennt Abhängigkeiten, Erwartungen, Loyalitäten. Ob man solche Dramen selbst erlebt hat oder sich nur vorstellen kann – nachvollziehbar sind sie für alle.

Gewalt spielt erneut eine zentrale Rolle in der Inszenierung. Welche erzählerische Funktion hat sie für Sie?
Gewalt darf für mich erzählerisch nie Selbstzweck sein. Natürlich bewegen wir uns mit „Oktoberfest 1905“ in einem Genre, das westernartige Züge hat – und da gehört Gewalt unweigerlich zur Welt dazu. Unsere Figuren leben in einer Gesellschaft, die noch nicht besonders sozial geprägt ist, in der das Recht des Stärkeren – oder eben des Schlaueren gilt.

Mich persönlich berühren jedoch viel stärker die psychologischen Verletzungen, die Menschen traurigerweise im Stande sind einander zuzufügen. Am Ende geht es aber darum, dem etwas entgegenzusetzen – die Kraft der Liebe. Deshalb stellt sich für unsere Figuren immer die Frage: Wie begegnet man Gewalt? Mit Gegengewalt oder mit Vergebung? Ob unsere Protagonisten Letzteres lernen können, das ist die entscheidende Frage von «Oktoberfest 1905».

Die Musik – unter anderem mit „Dreiviertelblut“ – trägt viel zur Stimmung bei. Welche Rolle spielt der Soundtrack für die Atmosphäre der Serie?
Es freut mich besonders, dass wir mit Dreiviertelblut eine Band dabeihaben, die schon mit dem Titelsong zur ersten Staffel ein starkes Zeichen gesetzt hat – und jetzt mit mehreren Stücken den Soundtrack von «Oktoberfest 1905» prägt. Ihre Musik ist, ähnlich wie unsere Serie, schwer in eine Schublade zu stecken: Sie klingt einerseits nach Folklore, andererseits nach Punk. Sie verbindet Abgründiges mit Humor, Schönheit mit Scheußlichkeit. Zusammen mit dem wieder tollen Score von Michael Klaukien tragen sie zu dem unverwechselbaren Stil unserer Oktoberfest-Saga bei.

Das Besondere diesmal: Brigitte Hobmeier singt in ihrer Rolle als Colina einige Dreiviertelblut-Songs als launische Balladen. Und plötzlich klingen diese Stücke, als wären sie direkt für die verrauchten Varietés und Gasthäuser des Fin de Siècle geschrieben worden. Musik wird hier also nicht nur Begleitung, sondern ein heimlicher Erzähler, der unsere Welt noch dunkler, noch widersprüchlicher und vielleicht sogar noch bayerischer macht.

Gedreht wurde in Belgien, Nordrhein-Westfalen und Bayern. Welche Schauplätze haben Sie für München 1905 „nachgebaut“ – und warum diese Mischung?
Wenn man die Untiefen des Produzentendarseins ausleuchten möchte, landet man natürlich zuerst bei Logistik und Finanzen. Aber dahinter steckt auch ein inhaltlicher Gedanke. Belgien etwa – ähnlich wie Tschechien in der ersten Staffel – blickt auf eine große Bierbrauertradition zurück. Gerade für unsere neue Prank-Delbel-Brauerei wollten wir ein authentisches Umfeld schaffen. In den historischen Räumen der Rodenbach-Brauerei im Belgischen Roeselare hat unsere Szenenbildabteilung um Julian Augustin ein visuell beeindruckendes Setting kreiert, das dieser Welt Glaubwürdigkeit verleiht. Gleichzeitig verfügt Belgien über enormes Produktions-Know-how. Die Zusammenarbeit mit unserer belgischen Kostümbildnerin Catherine Marchand war dafür ein wunderbares Beispiel.

Die Filmförderungen in Bayern und NRW haben sich wieder als äußerst zuverlässige Partner von uns erwiesen und diese Fortsetzung in einer finanziell äußerst angespannten Lage überhaupt erst möglich gemacht. ‚Nachgebaut‘ haben wir also in gewisser Weise alles. Besonders intensiv diskutiert haben wir die Gestaltung der Deutschen Eiche. Da haben wir uns bewusst nicht sklavisch an historische Maße gehalten, sondern einen Raum geschaffen, der die Tanzchoreografie unserer Protagonistin optimal zur Geltung bringt. Dadurch kann der Ort in unserer Serie die rauschhafte Aura entfalten, die die historische und heute ja noch immer florierende Deutsche Eiche über viele Dekaden zu einer solchen Oase der Toleranz und der Ausgelassenheit hat werden lassen.

Die erste Staffel hat große Preise gewonnen, darunter den Deutschen Fernsehpreis. Wie hoch war der Erwartungsdruck bei der Fortsetzung?
Natürlich war uns bewusst, dass nach dem Erfolg der ersten Staffel die Erwartungen hoch sein würden. Preise wie der Deutsche Fernsehpreis sind eine große Ehre, aber sie ändern nichts am Kern der Arbeit: Es geht immer darum, eine Geschichte so wahrhaftig und kraftvoll wie möglich zu erzählen. Und sie muss ihr Publikum finden. Das ist uns Gottseidank bei Staffel 1 sowohl in der Mediathek als auch linear in der Ausstrahlung deutlich gelungen.
Der eigentliche Druck kam weniger von außen als von innen. Wir wussten, dass wir unseren Figuren, unserem Stoff und auch dem Publikum gerecht werden müssen. Eine Fortsetzung darf keine Wiederholung sein, sondern muss die Geschichte vertiefen, erweitern, überraschender machen. Dabei war es uns besonders wichtig, in derselben Erzähltradition zu bleiben und gleichzeitig in der Bildsprache und Figurenführung etwas Eigenes zu schaffen. Dies ist unserem Regisseur Stephan Lacant und unserem Kameramann Michael Kotschi beeindruckend gelungen, finde ich.

An diesem Anspruch haben wir uns orientiert, weniger an Auszeichnungen. Was mich und meine Koproduzenten von Zeitsprung Pictures, Michael Souvignier und Till Derenbach, auch diesmal getragen hat, war die Leidenschaft für besondere Stoffe, die schon in der ersten Staffel alles bestimmt hat. Und natürlich hat es uns Produzenten auch über alle Maße gefreut, dass wir zum Münchner Filmfest für «Oktoberfest 1905» mit dem Bernd-Burgemeister-Preis ausgezeichnet wurden. Das hat uns tatsächlich unerwartet erwischt und wir verstehen diesen Preis als eine besondere Ehre. Entscheidend ist aber, dass das Publikum die Fortsetzung genau so gerne und zahlreich schaut, wie die erste Staffel.

Mit Blick nach vorn: Ist «Oktoberfest 1905» als Abschluss gedacht, oder haben Sie die Hoflinger-Saga schon über 1905 hinaus im Kopf weiterentwickelt?
Wer «Oktoberfest 1905» bis zum Ende schaut, wird mit einem dramatischen Finale belohnt werden, das seinen Namen auch wirklich verdient. Beim Entwickeln einer Serie denkt man allerdings Figuren ja nie nur in dem Erzählabschnitt, in dem sie gerade spielen, sondern immer auch gesamtbiografisch – quasi von Geburt bis Tod. Familiendramen haben deshalb grundsätzlich das Potenzial, sich über Generationen weiterzuerzählen.

Gerade in München lässt sich das beobachten: Von den heutigen Wiesnakteuren führen einige direkte Linien zurück zu den Brauern und Wirtsdynastien der Jahrhundertwende. Nach der ersten Staffel hat mich sogar der Urenkel von Georg Lang kontaktiert, jenem Mann, der das reale Vorbild für Curt Prank war und als Erfinder des modernen Bierzelts gilt. Kurzum: Wir wären im Prinzip zu allen Schandtaten bereit, sofern die Zuschauerzahlen eine Fortsetzung wünschen, die Finanzierungsparameter wirklich stimmen und wir dadurch unser hohes Production Value halten können. Also keine halben Dinger - ganz so, wie es Curt Prank alias Georg Lang gehalten hätte.

Vielen Dank für Ihre Zeit!

Die zweite Staffel von «Oktoberfest» ist seit 12. September in der ARD Mediathek abrufbar. Die zweite Staffel wird am Samstag, den 20. September 2025, um 20.15 Uhr im Ersten gesendet.
17.09.2025 12:53 Uhr  •  Fabian Riedner Kurz-URL: qmde.de/164499