Marcel Wehn: ‚Ich hatte eine Höllenangst davor, ein Routinier zu werden!‘

Mit «Wim Wenders: Der ewig Suchende» widmet sich Regisseur Wehn einem der prägendsten deutschen Filmemacher. Im Interview spricht Wehn über seine persönliche Verbindung zu Wenders’ Werk.

Herr Wehn, Wim Wenders ist einer der bedeutendsten deutschen Regisseure. Was hat Sie persönlich an ihm gereizt, ein Porträt über ihn zu drehen?
Meine Affinität zu den Filmen von Wim Wenders geht weit zurück: In den 90er-Jahren habe ich in der Schauburg, einem Karlsruher Programmkino, gearbeitet. Dort sah ich in einer „Langen Nacht der Städtefilme“ Wenders’ frühen Spielfilm «Alice in den Städten». Das war wie eine Initiation für mich – ab da wusste ich, dass ich selbst Filme machen möchte. Etwas in diesem Film hatte mich tief berührt. Mit einem Porträt über Wim Wenders wollte ich herausfinden, ob der Mensch hinter den Filmen dem Menschen entspricht, der auf so wunderbare Art Geschichten erzählt.

Der Titel Ihres Films lautet «Der ewig Suchende». Wie würden Sie diese Suche bei Wenders beschreiben – wonach sucht er eigentlich?
Wenders sucht vor allem nach der ständigen Herausforderung, sich neu entwickeln zu müssen. Es gibt ein Zitat in Bezug auf seine Arbeit, das diese Suche sehr gut ausdrückt: „Ich hatte eine Höllenangst davor, ein Routinier zu werden!“ Das bringt die Mentalität von Wim auf den Punkt: Er möchte ständig neue Formate ausprobieren, immer wieder neu gefordert werden und sich niemals wiederholen. Darin sieht er die Essenz dessen, wofür man lebt – sich zu entwickeln!

Inwiefern unterscheidet sich Ihre Dokumentation von bisherigen Filmen oder Porträts über Wim Wenders?
In «Der ewig Suchende» habe ich ganz bewusst einen inhaltlichen Schwerpunkt gewählt, der mich auch als Regisseur angetrieben hat: Was genau ist das Besondere an der Arbeitsweise von Wim Wenders, dass Filme mit einer solchen Magie entstehen? Wie bereitet er sich auf die Filme vor? Und wie arbeitet er mit den Darstellenden? Fast wie eine Werkanalyse bin ich dieser Frage durch die ganze Dokumentation hindurch gefolgt.

Wenders spricht in Ihrem Film sehr offen über sein Leben und seine Arbeit. Wie haben Sie es geschafft, dieses Maß an persönlicher Reflexion zu ermöglichen?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Es ist wahrscheinlich ein glücklicher Zufall, dass man eine wirklich tiefe Verbindung zu dem Menschen aufbauen kann, den man in einem Dokumentarfilm porträtiert. Seit ich «Alice in den Städten» gesehen habe, hatte ich das Gefühl, dass man den Menschen Wim Wenders in jeder einzelnen Einstellung dieses Films spüren kann. Als ich Wim dann traf, habe ich genau den Menschen vorgefunden, den ich in seinen Filmen glaubte zu sehen. Es entstand tatsächlich so etwas wie eine persönliche Verbindung zwischen uns. Dies war sicherlich auch die Voraussetzung dafür, dass Wim so persönlich über sich erzählt hat.

Wenders ist nicht nur Filmemacher, sondern auch Fotograf, Musikliebhaber und Reiselustiger. Wie sind Sie mit dieser Vielschichtigkeit umgegangen?
«Der ewig Suchende» ist klassisches Formatfernsehen und war damit auf 52 Minuten Länge limitiert. Ich habe gar nicht erst versucht, alle diese Ebenen gleichzeitig zu bedienen – das wäre ein Unterfangen gewesen. Indem ich den Fokus auf seine spezielle Art des Regieführens und Geschichtenerzählens gesetzt habe, habe ich mich auch bewusst dafür entschieden, andere Themen nicht oder nur nebenbei vorkommen zu lassen.

Es kommen prominente Wegbegleiter wie Nick Cave, Juliette Binoche und Sebastião Salgado zu Wort. Wie haben Sie diese Stimmen ausgewählt und eingebunden?
In der Dokumentation bewegen wir uns einfach chronologisch entlang der Filme von Wim Wenders – von den ersten Studentenfilmen bis zu seinem letzten Spielfilm «Perfect Days». Ich habe versucht, zu jedem Film, den wir auf dieser chronologischen Reise besprechen, mindestens eine Vertreterin oder einen Vertreter zu treffen, der in die Dreharbeiten involviert war und über die spezielle Arbeitsweise von Wim erzählen kann. Dies bewusst aus verschiedenen Perspektiven heraus, wie z. B. als Schauspieler, als Musiker oder als Bildgestalter.

Gibt es eine Begegnung oder Aussage in Ihrem Film, die Sie selbst besonders überrascht oder berührt hat?
Besonders berührend war sicherlich die Begegnung mit dem großen Fotografen Sebastião Salgado. Wir hatten das große Glück, Salgado ein paar Monate vor seinem Tod zu treffen. Da saß dann diese lebende Legende vor uns und hat in fast kindlicher Zuneigung darüber gesprochen, wie es sich für ihn angefühlt hat, von Wim Wenders in dem Film «Das Salz der Erde» porträtiert zu werden. Unser ganzes Team war tief betroffen von der Nachricht, dass Salgado kurz nach diesem Gespräch verstorben ist.

Wim Wenders spricht im Film davon, dass die amerikanische Erzählweise für ihn nicht funktioniere. Wie verstehen Sie seine Abgrenzung – und worin liegt für ihn die Stärke des europäischen Kinos?
In dieser Frage liegt wahrscheinlich die Essenz dessen, was die Magie der Filme von Wim Wenders ausmacht: Ich möchte nicht so viel aus unserem Film vorwegnehmen, aber die Freiheit, die Geschichte jeden Tag anders weiterzuführen, als im Skript festgelegt, sowie das Prinzip, die Szenen immer in chronologischer Reihenfolge zu drehen, sind Schlüssel zum Verständnis der Regiearbeit von Wim. Es ist genau diese Freiheit, die von Hollywood nicht gewollt ist. Die Stärke des europäischen Kinos liegt darin, dass sich der Autor diese Freiheit erhalten kann – alleine schon deshalb, weil nicht so viel Geld im Spiel ist.

Ihr Film zeigt viele Ausschnitte aus Wenders’ Werk. Gab es einen Film oder Moment, der für das Porträt besonders zentral war?
Nein, es gibt nicht einen zentralen Film oder einen bestimmten Moment, der in unserer Dokumentation eine zentrale Rolle spielt. Es gibt stattdessen drei Phasen, die wir analysieren: die ersten Filme, die in Deutschland entstanden sind und mit denen Wim seine ganz eigene Sprache gefunden hat; dann die Filme, die Wim teilweise unter Studiobedingungen in den USA gedreht hat; und zuletzt der aktuelle Wim, der sich deutlich auf den Dokumentarfilm konzentriert, weil dort ein verbindlicher Plot nicht vorgeschrieben ist.

Wie viel kreative Freiheit hatten Sie bei der Umsetzung des Films – und wie viel davon wurde gemeinsam mit Wenders abgestimmt?
Ich versuche es so zu beschreiben: Wim lässt eine ganze Menge kreativer Freiheit, weil eben das auch seine eigene Arbeitsweise ist. Er ist aber natürlich auch ein sehr erfahrener Filmemacher und damit ein anspruchsvoller Protagonist, wenn es um den Schnitt und den Kontext von Sprache und Bildern geht. Wir haben zeitweise tatsächlich auch nicht wenig miteinander diskutiert.

Mit Blick auf seine 80 Jahre: Was, glauben Sie, ist das bleibende Vermächtnis von Wim Wenders für das europäische Kino?
Auch wenn Wim als Reiseregisseur viele Filme im Ausland gedreht hat, glaube ich, dass er als Vermächtnis eine Erzählung über Deutschland und das Deutschsein hinterlässt. Er hat die deutsche Sprache, eine deutsche Erzählweise und eine deutsche Mentalität durch all seine Filme hindurch mitgebracht und anderen Kulturen und Geschichten gegenübergestellt. So können wir Deutschen durch seine Filme auch immer wieder darüber lernen, wer wir möglicherweise sind.

Und zum Abschluss: Hat die Arbeit an diesem Film auch Ihre eigene Sicht auf das Geschichtenerzählen verändert – als Filmemacher und als Zuschauer?
Die Arbeit an diesem Film hat vor allem bestätigt, dass ich mit meiner spontanen und intuitiven Arbeitsweise als Regisseur nicht alleine bin. Der große Wunsch, nicht ewig ein Drehbuch entwickeln zu müssen, die Spontanität, die Kamera einzupacken und einfach loszulegen, und das große Glück, mit einem kleinen Team und wenig Geld große Geschichten erzählen zu dürfen, ist genau das, was die Filme von Wim Wenders stark und besonders macht. Als Dokumentarfilmer liebe ich genau diese Arbeitsweise und fühle mich durch „Der ewig Suchende“ darin bestärkt, für diese Freiheit beim Film weiter zu kämpfen.

Vielen Dank für Ihre Zeit!

«Wim Wenders: Der ewig Suchende» wird am Montag, den 18. August 2025, um 22.35 Uhr ausgestrahlt. Die Dokumentation ist zwischen 11. August und 8. November 2025 in der Mediathek zu sehen.
18.08.2025 11:11 Uhr  •  Fabian Riedner Kurz-URL: qmde.de/163723