Sybille Tafel: ‚Einsamkeit ist eine der größten Herausforderungen auf der Walz‘
Regisseurin Sybille Tafel spricht über Sehnsucht, Aufbruch und wie ein uraltes Handwerksritual zur Reise ins Ich wird.
Frau Tafel, was hat Sie persönlich an der Geschichte von Maria Abeler und der jahrhundertealten Tradition der „Walz“ besonders berührt oder fasziniert?
Was mich an Marias Geschichte besonders fasziniert hat, ist ihre Entwicklung von der Flucht zur Befreiung. Maria startet völlig orientierungslos - sie weiß nicht, was sie will, und fühlt sich in ein Leben gedrängt, das anderen gefällt, aber nicht ihr selbst. Ihre Entscheidung, mit Cem auf die Walz zu gehen, ist deshalb eher eine Flucht als eine bewusste Wahl.
Sie hat ein romantisches, unrealistisches Bild von der Wanderschaft und ist völlig unvorbereitet auf das, was sie erwartet. Gemeinsam mit Maria entdecken wir als Zuschauer erst nach und nach, was es wirklich bedeutet: auf der Straße zu leben, bewusst ohne Geld und Handy auszukommen, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein und nie zu wissen, was der nächste Tag bringt.
Was zunächst wie ein Albtraum aussieht, wird für Maria zu einem schmerzhaften, aber befreienden Wendepunkt. Besonders fasziniert hat mich dabei, wie radikal diese Lebensweise unsere heutige Konsumgesellschaft hinterfragt. Während wir glauben, so viel zu brauchen, besitzt eine Wandergesellin nur das, was in ihr Charlottenburger-Tuch passt. Alles andere muss sie sich im wahrsten Sinne des Wortes erarbeiten. Das ist eine unglaubliche Form der Freiheit.
«Auf der Walz – Drei Jahre und ein Tag» erzählt von einem Aufbruch – weg von Sicherheit, hin zur Selbstfindung. Wie sind Sie an diese Balance zwischen innerer und äußerer Reise filmisch herangegangen?
Mir war wichtig, dass die Orte und Bilder Marias innere Entwicklung widerspiegeln - die Landschaft wird zu einer Art zweiter Erzählebene ihrer Seele. Ein Beispiel ist die Szene, in der Cem plötzlich verschwindet: Maria steht allein in der weiten Steppe und gerät in Panik. Dabei befindet sie sich nur auf einer kleinen Anhöhe - aber das kann sie in ihrer Angst nicht erkennen. Obwohl die Szene fast komisch wirkt, verstärkt sie Marias tiefste Furcht: verlassen zu werden. Denn Einsamkeit ist eine der größten Herausforderungen auf der Walz. Auch die Bahnhofsszene, in der Cem sie nach Hause schicken will, habe ich bewusst sehr hell und einfarbig gestaltet. Diese kahle Optik verstärkt Marias Gefühl der völligen Verlorenheit und ihre Angst, der Situation nicht gewachsen zu sein. Oder die verfallene Papierfabrik - ihr Zerfall hat eine grausame, aber auch faszinierende Schönheit. Das passt zu Marias Situation: Sie muss ihr altes Leben loslassen, damit etwas Neues entstehen kann. Diese innere Entwicklung - das Abschiednehmen vom Alten und das Sich-Öffnen für Neues - wollte ich nicht nur erzählerisch, sondern auch visuell in den Schauplätzen und Motiven sichtbar machen.
Die Begegnung zwischen Maria und Cem ist der Auslöser für Maria, loszuziehen. Was war Ihnen bei der Inszenierung ihrer Beziehung besonders wichtig?
Ich wollte bewusst vermeiden, dass es eine klassische Liebesgeschichte wird. Die beiden sehen nur oberflächlich die Attraktivität des anderen, vielmehr verbindet sie die Suche nach sich selbst. Cem gefällt sich anfangs in seiner Rolle als einsamer Wolf und lässt Maria deutlich spüren, dass er als erfahrener Altgeselle überlegen ist. Aber sobald Maria sich wirklich für die Walz entscheidet - nicht mehr nur aus Flucht, sondern bewusst - ändert sich seine Haltung. Er nimmt sie ernst und will, dass sie es schafft. Durch die gemeinsamen Erlebnisse auf der Walz entwickeln Maria und Cem eine echte Freundschaft. Sie wachsen zusammen, können mit der Ehrlichkeit sprechen, die Menschen ohne gemeinsame Vergangenheit haben, und verstehen sich auch ohne Worte. Dass dann doch erotische Spannung entsteht, wird ihnen beinahe zum Verhängnis - weil es ihre Freundschaft verkompliziert.
Tatsächlich hätte Maria auch ein Marius sein können. Die Dynamik zwischen den beiden Figuren hätte ich kaum anders inszeniert, weil es mir um diese besondere Form der Seelenverwandtschaft ging, nicht um Geschlechterrollen oder eine Romanze.
Der Film stellt große Fragen: Was ist Freiheit? Was bedeutet Loslassen? Wie gelingt es, solche philosophischen Themen in einem unterhaltenden Fernsehfilm spürbar zu machen?
Ein guter Unterhaltungsfilm braucht ein großes Thema im Hintergrund und eine Welt, die das Publikum noch nicht kennt und gemeinsam entdecken kann. Bei der Walz geht es tatsächlich sehr direkt um existenziellen Fragen - was ist Freiheit, was bedeutet Loslassen? Aber ein Unterhaltungsfilm ist keine Dokumentation, in der man theoretisch über Ideen diskutiert. Die Geschichte muss im Vordergrund stehen, Spaß machen und die philosophischen Themen über die emotionale Verbindung zu den Figuren transportieren. Das Publikum will diese Fragen erleben, nicht erklärt bekommen. Da ich selbst nicht viel über die Walz wusste und vermutete, dass auch die meisten Zuschauer nur vage Vorstellungen davon haben, musste ich einiges erklären. Mir war aber wichtig, möglichst wenig reine Informationsdialoge zu haben. Stattdessen wollte ich alle nötigen Erklärungen in Konflikte einbauen - so lernt man die Walz-Regeln über Streit, Missverständnisse und emotionale Momente kennen.
Ronja Rath trägt den Film in der Hauptrolle der Maria. Wie haben Sie mit ihr gearbeitet, um diese emotionale und physische Wandlung so glaubwürdig darzustellen?
Ronja Rath ist ein sehr authentischer Mensch und brachte damit schon das Wichtigste für die Rolle mit. Im Casting wusste ich sofort: Das ist meine Maria. Sie ist nicht verkopft, sehr direkt, selbstbewusst und dabei auch witzig. In den Vorgesprächen haben wir gemeinsam eine Idee für die Figur entwickelt und intensiv recherchiert - nicht nur über die Walz, sondern auch über das schwindende Handwerk und die Situation kleiner Betriebe, die eigentlich keine Chance mehr haben. Das war wichtig, um Marias Hintergrund zu verstehen. Besonders interessant fand ich den Widerspruch in Marias Entscheidung: Sie geht einen extrem traditionellen Weg, erteilt ihrem Vater aber gleichzeitig eine klare Absage, den Betrieb zu übernehmen. Das ist eine harte Entscheidung, aber sie muss ihren eigenen Weg finden. Für mich ist das ein sehr aktueller Konflikt der jungen Generation - sie steht zwischen der Sicherheit von bestehenden Pfaden und einer völlig ungewissen Zukunft, auf die sie sich gar nicht vorbereiten kann, weil niemand weiß, wie die Welt in zehn Jahren aussehen wird. In dieser Situation wird Selbstbestimmung zu einer echten Herausforderung. Um Ronja die nötige Sicherheit zu geben, haben wir eine konkrete Vorgeschichte für Maria entwickelt, die im Film gar nicht erzählt wird. So konnte sie beim Spielen auf eine echte Vergangenheit der Figur zurückgreifen.
Gedreht wurde inmitten der Natur – fernab vom urbanen Alltag. Welche Rolle spielt die Landschaft für die Stimmung und Symbolik des Films?
Die Landschaft ist praktisch eine der Hauptfiguren des Films. Wir haben sehr bewusst darauf geachtet, dass jeder Drehort visuell außergewöhnlich ist und gleichzeitig den emotionalen Konflikt der jeweiligen Szene verstärkt. Ein sehr deutliches Beispiel ist die Brückenszene, als Maria und Cem die Bannmeile erreichen. Die Brücke symbolisiert den Übergang, das fließende Wasser darunter steht für die Zeit, die nicht stehen bleibt. Maria steht vor einer entscheidenden Wahl: Will sie das neue Ufer betreten und weitergehen oder umkehren? Generell ist es ein großer Luxus, ein Roadmovie drehen zu können - man hat die Möglichkeit, mit besonderen Landschaften außergewöhnliche, sinnliche Schauwerte zu schaffen, die das Publikum emotional berühren.
Die Walz ist eine echte Handwerkstradition mit vielen Regeln. Wie haben Sie sich auf das Thema vorbereitet, und wie viel Realität steckt in Ihrer Inszenierung?
Die Vorbereitung war gar nicht so einfach, weil Wandergesellinnen normalerweise nicht viel Aufmerksamkeit wollen und meist unterwegs sind. Ursprünglich wollte ich echte Wandergesellinnen für die Gruppe casten, die Maria und Cem anfangs begleitet - aber das war unmöglich, sie zu erreichen. Trotzdem konnten wir mit einigen sprechen und haben wertvolle Requisiten und Fotos bekommen, nach denen wir zum Beispiel Marias Vaters Wanderbuch gestalten konnten. Kluft und Charlottenburger waren aber tabu - die mussten wir selbst herstellen und entsprechend alt aussehen lassen. Besonders die Kluft war eine echte Herausforderung: Das Material ist extrem robust und man muss es ordentlich bearbeiten, damit es nicht nach Kostümabteilung aussieht. Neben Büchern und Dokumentationen war der persönliche Austausch am wertvollsten. Die Wandergesellinnen-Gruppe haben wir schließlich mit jungen Schauspielschülerinnen besetzt, die eine ehemalige Wandergesellin zusammen mit meiner Assistentin gecoacht hat - sie haben sogar die traditionellen Lieder gelernt. Wichtig war auch, dass wir uns intensiv mit dem Schreiner- und Zimmermannshandwerk beschäftigt haben, damit alle Beteiligten ein Gefühl für diese Welt bekommen. Das hat mir besonderen Spaß gemacht und ich habe viel gelernt - auch wenn ich trotzdem kein Dach bauen könnte.
Auch Marias familiäre Situation wird vielschichtig erzählt – zwischen Generationskonflikten, Erwartungen und gelebtem Alltag. Wie wichtig war Ihnen diese zweite Ebene?
Diese familiäre Ebene war sehr wichtig für mich. Als wir nach einem Sägewerk als Drehort gesucht haben, wurde mir bewusst, wie realistisch unsere Geschichte ist. Der Betrieb, in dem wir gedreht haben, hatte früher viele Beschäftigte - heute arbeitet der Besitzer allein und holt sich nur noch Aushilfen für größere Aufträge. Dabei sind alle Maschinen noch da und funktionsfähig, aber niemand braucht sie mehr. Das war tragisch zu sehen. Was ich aber vor allem erzählen wollte: Gut gemeinte Erwartungen können zum Gefängnis werden. In der Szene, wo Vater und Freund Maria das Haus zeigen, glauben beide fest, sie würde sich darüber freuen. Für mich zeigt das, dass sich die beiden Männer überhaupt nicht wirklich mit Maria beschäftigt haben. Sie haben ihre eigenen Vorstellungen von einem gelungenen Leben auf sie übertragen - obwohl beide Maria lieben.
Das ist nicht nur ein Generationenkonflikt, sondern ein grundsätzliches zwischenmenschliches Problem: Wir meinen zu wissen, was andere brauchen, ohne sie wirklich zu fragen. Maria muss lernen, Nein zu sagen und ihre eigenen Wünsche zu formulieren.
Wie war die Zusammenarbeit mit Drehbuchautor Michael Kenda? Gab es Szenen oder Entwicklungen, die Sie als Regisseurin besonders geprägt oder weiterentwickelt haben?
Michael hat mit seiner Geschichte eine wunderbare Grundlage geschaffen und ich wurde schon sehr früh in den Entwicklungsprozess einbezogen. So konnten wir das Drehbuch gemeinsam weiterentwickeln - das war eine sehr produktive und inspirierende Zusammenarbeit. Ich konnte nicht nur durch meine intensive Recherche zur Walz-Tradition, die Gespräche mit echten Wandergesellinnen und die Beschäftigung mit dem Handwerk viele authentische Details einbringen, sondern auch wichtige Impulse für die Erzählstruktur setzen. Michael war sehr offen für diese Anregungen und hat sie geschickt umgesetzt.
Was wünschen Sie sich, dass das Publikum nach dem Film über das eigene Leben oder über gesellschaftliche Rollenbilder nachdenkt?
Es wäre schön, wenn diese Erzählung über die Walz die Zuschauer dazu anregt, die Angst vor Veränderung abzustreifen und sich mutig auf eine unsichere Zukunft einzulassen. Vielleicht würde das helfen, den Blendern mit ihren einfachen Antworten auf komplexe Fragen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Walz steht für ein einfaches Leben, und trotzdem - oder gerade weil - die Wandergesellinnen mit so wenig auskommen müssen, finden sie ihre Freiheit. Das macht sie stark und unabhängig. Es wäre schön, wenn der Film das etwas ins Bewusstsein rückt, zumindest für 90 Minuten. Aber es reicht mir auch, wenn die Zuschauer einfach nur Spaß haben beim Schauen.
Vielen Dank für Ihre Zeit!
Der Spielfilm «Auf der Walz – Drei Jahre und ein Tag» ist ab Mittwoch, den 13. August, in der ARD Mediathek abrufbar und am Freitag, den 15. August 2025, im Ersten zu sehen.