Wenn alles schiefgeht, was schiefgehen kann – das kann sogar die Karriere zerstören.

Die Entstehung von
«The Book of Henry» ist ein Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn ein Film zu viele Genres, Töne und Ideen auf einmal bedienen will – und dabei das große Ganze aus dem Blick verliert. Was als sensibel inszeniertes Familiendrama beginnt, kippt urplötzlich in eine verstörend schräge Selbstjustiz-Fantasie. Regisseur Colin Trevorrow, gefeiert für den Kassenerfolg «Jurassic World», wollte mit seinem Herzensprojekt etwas ganz Besonderes schaffen – und schuf stattdessen einen der bizarrsten Filme der letzten Dekade.
Henry (gespielt vom damals gefeierten Kinderdarsteller Jaeden Martell) ist ein elfjähriges Genie, das seine alleinerziehende Mutter Susan (Naomi Watts) und seinen jüngeren Bruder versorgt – finanziell, emotional und organisatorisch. Während die Mutter in einem Diner arbeitet und abends Videospiele zockt, investiert Henry an der Börse, gibt der Mutter Erziehungsratschläge und schreibt nebenbei ein akribisches Notizbuch voller Pläne und Beobachtungen. Doch der Ton des Films ändert sich dramatisch, als Henry erfährt, dass das Nachbarsmädchen Christina (Maddie Ziegler) von ihrem Stiefvater – einem mächtigen Polizisten – sexuell missbraucht wird. Da das System versagt, beginnt Henry einen minutiösen Plan zur Ermordung des Täters zu entwerfen – und übergibt diesen Plan seiner Mutter. Nach seinem plötzlichen Hirntumor-Tod beginnt Susan tatsächlich, seine Ratschläge Schritt für Schritt umzusetzen. Was wie ein einfühlsamer Film beginnt, endet als groteske Anleitung zum perfekten Mord, orchestriert vom Geist eines elfjährigen Kindes.
«The Book of Henry» ist ein filmisches Kuriosum, das jegliches Gefühl für Tonalität vermissen lässt. Im ersten Drittel erinnert der Film an «Little Miss Sunshine» oder «About a Boy» – charmant, leichtfüßig, etwas schrullig. Doch dann wechselt er abrupt in den düsteren Modus eines Krimithrillers mit Rachemotiv, nur um gegen Ende in einer Art spirituellem Erlösungsmoment zu gipfeln, der so esoterisch wie unverdient daherkommt. Diese Tonbrüche sind nicht nur verwirrend, sondern wirken zunehmend zynisch: Ein Kind stirbt an einem Tumor – nur damit seine Mutter später zu einer Art Auftragskillerin wird? Der Film behandelt Missbrauch und Gewalt, aber nicht, um etwas aufzuarbeiten, sondern um daraus ein morbides Spannungsvehikel zu basteln. Dass das alles auch noch mit sentimentaler Musik und Slow-Motion-Bildern verklärt wird, macht es nur noch unangenehmer.
Naomi Watts, eine hochdekorierte Schauspielerin, bemüht sich sichtlich, der Figur der Susan Tiefe zu verleihen. Doch selbst ihr Talent reicht nicht, um den irrwitzigen Wandel von der überforderten Mutter zur potenziellen Mörderin glaubhaft zu vermitteln. Jaeden Martell, später bekannt aus «Es» und «Knives Out», liefert als Henry eine souveräne Leistung ab – doch seine Figur ist derart überhöht geschrieben, dass es ins Lächerliche kippt.
Colin Trevorrow galt zum Zeitpunkt der Produktion als Hollywoods neuer Lieblingsregisseur. Nach dem Kassenerfolg von «Jurassic World» wurde er für «Star Wars: Episode IX» engagiert. Doch die katastrophale Rezeption von «The Book of Henry» kostete ihn den Job. Lucasfilm entließ ihn, der Film wurde von J.J. Abrams übernommen. Trevorrow durfte später zwar «Jurassic World: Dominion» machen, aber der Schatten dieses Projekts haftet ihm bis heute an.
Die Kritiken zu «The Book of Henry» waren verheerend. Auf Rotten Tomatoes steht der Film bei mageren 22 %, bei Metacritic bei 31/100. Kritiker bezeichneten den Film als „moralisch fragwürdig“, „emotional manipulativ“ und „erzählerisch desaströs“. Der Filmdienst schrieb: „So hanebüchen die Konstruktion, so geschmacklos die Ausführung.“ Regisseur und Autor Gregg Turkington nannte ihn sogar „eine filmische Gehirnerschütterung“.
Der Film war ein Karrierekiller für Trevorrow – zumindest kurzfristig. Dass er überhaupt wieder Großprojekte bekam, verdankt er wohl eher den Einspielergebnissen seiner Dinosaurier-Blockbuster als seiner kreativen Handschrift. Doch «The Book of Henry» zeigt: Wenn ein Film zu grotesk wird, um noch als „Mut zur Ambition“ durchzugehen, bröckelt selbst in Hollywood irgendwann die Fassade. Der Film spielte von seinem niedrigen Budget von nur zehn Millionen US-Dollar sogar nur 4,6 Millionen US-Dollar ein.