Die Kritiker «Tatort: Abbruchkante»

Dr. Christian Franzen liegt tot in seinem alten Haus. Regelrecht hingerichtet hat ihn sein Mörder. Franzen war einst ein angesehener Mann. In den letzten Jahren aber hat er sich Feinde in dem kleinen Ort Alt-Bützenich gemacht. Und einer dieser Feinde scheint nun seinem (oder ihren) Hass freie Bahn gelassen zu haben.

Stab

BESETZUNG: Klaus J. Behrendt, Dietmar Bär, Joe Bausch, Roland Riebeling, Tinka Fürst, Julia Köhler, Leonard Kunz, Barbara Nüsse, Peter Franke, Jörn Hentschel, Ferhat Kaleli
REGIE: Torsten C. Fischer
BUCH: Eva Zahn, Volker A. Zahn
KAMERA: Theo Birkens
MUSIK: Olaf Didolff
Man musste sich in den letzten Jahren wirklich Sorgen machen. Da wird im rheinischen Braunkohlerevier gebuddelt, Dörfer werden abgerissen, Menschen aus ihrer Heimat vertrieben – und der «Tatort» schweigt? Hat RWE etwa die Chefetagen des WDR in der Hand? Hat der Stromgigant den Programmbeirat gekauft? Ein Thema von solch einer gesellschaftlichen Relevanz in Zeiten einer Ampel-Regierung in Berlin, und der «Tatort» hat einfach keinen Mord in einem solchen Umfeld zu bieten? Keine Panik, es hat nur etwas gedauert, hier ist er jetzt, der «Tatort» zum Klimakiller Braunkohle. Die titelgebende «Abbruchkante» wird denn auch mehrfach im Film prominent in Szene gesetzt; die Bagger mögen in der Ferne stehen, doch keine Frage, der WDR hat seinen Auftrag erfüllt und das Thema endlich in einen Kriminalfilm verarbeitet. Zwei anständige Polizisten aus der liberalen Großstadt kommen also aufs Dorf und zeigen den gierigen Braunkohleschürfern, wo der Bagger steht.

Oder auch nicht. «Abbruchkante» hätte eine fürchterlich bildungsbürglich-moralinsaure Angelegenheit werden können. Schaut her, wie schlimm das alles ist. Schlimm, schlimm, schlimm, hätten die Kommissare beim Anblick der Abbruchkante ausgerufen. Schlimm, schlimm, schlimm hätten ein paar Third-Hand-Klamottenträger ihnen zugestimmt, die mutig das Dorf vor den Baggern beschützen. Irgendwann wäre dann ein schmierlappiger Jurist des im Film namenlosen Großkonzerns aufgetreten, um den Ermittlern den Mores der Selbstherrlichkeit zu lehren; vielleicht hätte man auch noch zwei Politiker in die Geschichte einbauen können, um wirklich nichts auszulassen. Einen devoten Anzugträger mit eingebauter Bückhaltung auf der einen Seite, und eine engagierte Politikerin einer eher bunt ausgerichteten Partei auf der anderen. Ja, man sieht ihn förmlich vor dem geistigen Auge diesen sendungsbewussten «Tatort» – weshalb es um so wichtiger ist, dem Autorenpaar Volker und Eva Zahn Respekt zu zollen, dass nichts von all dem beschriebenen in diesem «Tatort» zu sehen ist. Ja, es geht um Menschen in einer Ausnahmesituation, es geht um einen Kampf, der Menschen müde zurückgelassen hat. Und es geht um Verluste. Der Rahmen aber überrascht, denn jenseits des Mordes der Woche beginnt die Geschichte von «Abbruchkante» nicht etwa mit einem Dorf, das bald Geschichte sein wird. «Abbruchkante» beginnt mit der Rettung eben dieses Dörfchens oder kleinem Städtchen, wie immer man es nennen will.

Alt-Bützenich lautet nun sein Name. Alt, weil ein paar Kilometer entfernt Neu-Bützenich entstanden ist, eine bemerkenswerte Siedlung. Die Häuser in Neu-Bützenich stammen aus dem Katalog „Schöner Wohnen unterm Premium-Flachdach“. Die Straßen sind brandneu, überall liegt Glasfaser, die Häuser, die der (im Film tatsächlich namenlose) Stromkonzern hat bauen lassen, sind ausnahmslos größer, schicker, moderner als das, was in Alt-Bützenich zurückgelassen wurde. Eines muss man den alten Großkapitalisten lassen: Sie haben sich nicht lumpen lassen. Allerdings ist Neu-Bützenich auch langweilig wie das gestraffte Gesicht eines alten Bunga-Bunga-Politikers. In solch einem Gesicht ist keine Falte zu sehen, keine Kerbe, keine Narbe, die eine Geschichte zu erzählen hätte. Das ist alles ein glattgezogenes Nichts. Und so wirkt Neu-Bützenich zwar edel, aber irgendwie seelenlos. Dieser Ort ist nicht gewachsen, er ist am Reißbrett entstanden. Sogar die Kirche ist am Ende des Tages genau das: eine Plankonstruktion.

Anders Alt-Bützenich. Der Ort wirkt heruntergekommen, die meisten Häuser stehen leer, Geschäfte gibt es keine mehr, die Kirche ist profanisiert. Aber Alt-Bützenich wird nicht untergehen. Mögen die meisten Menschen Alt-Bützenich schon vor langer Zeit aufgegeben haben, einige sind geblieben. Und nun wird auch Alt-Bützenich bleiben, denn für die Zukunft des Braunkohletagebaus spielt der Ort keine Rolle mehr. Ein Happy End? Nicht ganz, denn die Häuser, die der Konzern gekauft hat, werden an die alten Besitzer nicht zurückgegeben. Vertrag ist Vertrag. Was der Konzern indessen mit dem Ort, der ihm größtenteils gehört, anfangen wird? Niemand weiß es. Die Zukunft derer, die nicht verkauft haben, ist also längst nicht entschieden. Sie haben ihre Häuser, ihren Besitz behalten. Doch was aus Alt-Bützenich wird?

Eines ist Alt-Bützenich auf jeden Fall: Der Schauplatz eines Mordes. Da liegt also Dr. Christian Franzen. Der Mörder hat mehrfach auf ihn geschossen. Das war eine Hinrichtung, denn zu stehlen gab es in seinem Haus nichts. Ja, in seinem Haus. Franzen hat sein Haus in Alt-Bützenich behalten. Nicht, dass er noch hier gewohnt hätte. Franzen besitzt ein schönes, großes Haus in Neu-Bützenich. Der Arzt hat offenbar eine Chance in Alt-Bützenich gesehen und geahnt, das der Ort nicht verschwinden wird. Und mit Blick auf die Zukunft, die Schaffung neuer Infrastruktur etwa für Tourismus: Hat er offenbar auf die Zukunft gesetzt. Eine Zukunft, der in seinem alten Haus jäh ein Ende gesetzt wird.

Warum der Arzt zu später Stunde nach Alt-Bützenich gefahren ist, stellt die Kommissare Ballauf und Schenk, die aus Köln anreisen, ebenso vor ein Rätsel wie die Frage, warum der Arzt bei der Ortsgemeinschaft offenbar in Ungnade gefallen ist. Bis vor ein paar Jahren war Franzen ein Landarzt im besten Sinne des Wortes. Er kümmerte sich um seine Patientinnen und Patienten zu jeder Tages- und Nachtzeit. Fachlich galt er als bestens qualifiziert. Ja, es gab einen dunklen Fleck in seiner Vergangenheit (er verließ seine Gattin für eine deutlich jüngere Frau, was schon zu allerlei Getuschel führte), an seinem guten Ruf kratzte dies jedoch nicht. Bis eines Tages etwa auf Google seine fachlichen Bewertungen in den Keller gingen. Warum, der kleine Spoiler sei erlaubt, darauf gibt der Film sogar zwei Antworten, die beide schlüssig erklären, weshalb es mit seinem Ruf nicht mehr weit her war.

«Abbruchkante» jedoch beginnt nicht, wie sonst gerne üblich, mit dem besagten Mord. Dem Spielfilm steht ein Prolog voran, der die letzten Minuten im Leben eines alten Ehepaars zeigt. Obwohl sie uns unbekannt sind, wir weder ihre Namen noch ihre Geschichten kennen und somit kaum emotionale Anknüpfungspunkte existieren, gelingt es der Inszenierung die Tragik des Geschehens in seiner gesamten Wucht einem Schlag in die Magengrube gleich in beeindruckende (stille) Bilder zu fassen. Da ist also dieses alte Paar. Sie ist hübsch gekleidet, er wirkt etwas unsicher. Etwas in ihrem Leben ist aus den Fugen geraten. So sehr, dass sie den Entschluss gefasst haben, zusammen zu gehen. Sie tanzen. Sie lächeln. Dann trinken sie ihren Sekt, in dem sie ein Schlafmittel aufgelöst haben. Er gesteht ihr, dass sie dies nicht hätte tun müssen. Sie lächelt. Sie sind ihr Leben gemeinsam gegangen. Sie wird ihn nicht alleine gehen lassen. Sie lachen und legen sich ins Bett. Sie nehmen sich bei en Händen und schlafen ein.

Schnitt: Dr. Franzen tritt ihrem Enkelsohn gegenüber. Die Großmutter ist verstorben. Den Großvater aber hat er retten können. Der Enkel nennt ihn ein mieses Arschloch...

Vier Wochen später ist besagter Dr. Franzen tot. Hingerichtet. Ob es mit dem Tod der Großmutter zu tun hat? Es ist eine Spur, der Schenk und Ballauf nachgehen. Aber es ist nur eine von vielen, denn es gab offenbar einige Gründe, um diesen Arzt zu hassen.

Das Figurenensemble ist übersichtlich, dennoch kommt nie das Gefühl auf, frühzeitig zu wissen, was genau passiert ist. «Abbruchkante» ist als reiner Kriminalfilm ein echte Whodunnit, der seine Spannung daraus bezieht, dass tatsächlich bis zum Ende die Frage im Raume steht – wer ist es gewesen? Es gibt verschiedene Verdächtige, es gibt Motive. Ganz klassisch gehen die Ermittler den Spuren nach; die Inszenierung benutzt den Fall nicht nur, um ein gesellschaftlich relevantes Thema auf den Bildschirm zu bannen, wie dies leider viel zu oft in dieser Reihe der Fall ist. Das Thema des Tagebaus findet auf der zweiten Ebene statt. Ja, dass der Mord irgendwie mit Verlusten in der Vergangenheit einhergeht, dass hier offene Rechnungen beglichen wurden, das ist keine Überraschung. Aber die Inszenierung bezieht ihre Kraft daraus, dass all die großen gesellschaftlichen Themen eben nie in den Mittelpunkt gerückt werden – sie sind allgegenwärtig, aber: Sie „sind“. Nicht mehr, nicht weniger. Und das ist stark, denn auf diese Weise bricht der Film das ganz große Thema des Braunkohletagebergbaus auf die unterste Ebene herunter: Auf die Menschen vor Ort, die einfach nur aufgrund ihres Wohn- oder Geburtsortes aus einem geregelten Leben gerissen worden. Nur ein paar Kilometer weiter östlich und der Tagebau hätte sie nicht tangiert.

«Abbruchkante» ist ein Film der ruhigen Töne; die Geschichte ist spannend, das Geschehen tragisch und inmitten dieser Mischung – gelingt es der Inszenierung sogar ein wenig Humor einzubauen. Ein Running Gag der Kölner «Tatort»e ist Freddy Schenks Faible für alte, coole, oft amerikanische Autos. Diesmal ist es ein Ford Torino (wie ihn Clint Eastwood in «Gran Torino» fuhr), den sich Schenk geschnappt hat. Zum Leidwesen von Max Ballauf. Der Wagen hat keine Nackenstützen, er verfügt nicht einmal über Sicherheitsgurte und die Stoßdämpfer sind eine Katastrophe. Während Schenk ihn liebt, ist Ballauf angefressen. Zu Recht, denn am ersten Abend in Alt-Bützenich versagt das Licht des Wagens und – eine Werkstatt gibt es nicht. Notgedrungen suchen die beiden eine ehemalige Pension auf, deren garstige Besitzerin Karin Bongartz, den beiden tatsächlich ein Bett anbietet (nachdem sich Ballauf bei ihr ein wenig einschmeichelt). Die alte Dame und Ballauf finden nicht nur einen Draht zueinander, Ballauf bleibt sogar einen weiteren Tag in Alt-Bützenich, um sich mit ihr zu unterhalten. Die Dialoge zwischen Klaus J. Behrend und Bongartz-Darstellerin Karin Nüsse sind voll sanfter Poesie, sie sind aber auch mit einem gesunden Schuss Humor unterlegt, den man nun wirklich in einem «Tatort» dieser Art so gar nicht erwartet.

Am Ende werden die Kommissare den kleinen Ort wieder verlassen. Die Menschen, die geblieben sind, blicken derweil einer ungewissen Zukunft entgegen, obwohl ihr Dorf doch eigentlich gerettet ist. Aber was bedeutet das, gerettet zu sein, wenn in der Vergangenheit dunkle Dinge geschehen sind, die das Licht überdecken, das doch eigentlich hell über ihrem Ort scheinen sollte?

Am Sonntag, 26. März 2023, 20.15 Uhr, Das Erste
24.03.2023 15:10 Uhr  •  Christian Lukas Kurz-URL: qmde.de/141082