«Woodstock '99»: Kein bisschen Selbstreflektion

Der aus Kalifornien stammende Streamingdienst Netflix hat eine dreiteilige Dokumentation veröffentlicht.

Im vergangenen Jahr ließ HBO Max die Dokumentation «Woodstock 99: Peace, Love, and Rage», die von Garret Price umgesetzt wurde, auf Sendung gehen. Zu den Künstlern vor der Kamera schnappte man sich Moby, Jewel, Korn-Sänger Jonathan Davis oder den Konzert-Promoter und Woodstock-Erfinder Michael Lang. Die Produktion für HBO Max war kein Glanzstück, doch noch einen Tick besser als die Netflix-Neuinterpretation «Trainwreck: Woodstock '99», die rund 150 Minuten Laufzeit zählt. Hier übernahm Jamie Crawford den Regiestuhl, doch die beiden Produktionen nehmen sich wenig. Die Netflix-Variante kann den Manager John Scher vor die Kamera locken, der selbst die schlimmsten Bilder schönredet.

Die Dokumentation eröffnet mit dem, was die Journalisten und Veranstalter am Montag – nach drei Tagen Chaos – vorgefunden haben. Und dann geht es der Reihe nach: Die erste Folge der Reihe behandelt einen Veranstaltungstag. Zunächst einmal wird den Zuschauern verschwiegen, dass das legendäre Festival bereits im Jahr 1994 neu aufgelegt wurde, stattdessen wird von einem ähnlichen Festival gesprochen.

Und dann beginnt die große Durststrecke, denn die Planungen, Aussagen und Visualisierungen des neuen Festivals ziehen sich extrem in die Länge. Bereits in den ersten Minuten wird klar, dass die Veranstalter eine geradezu groteske Veranstaltung auf die Beine stellten. Bei Temperaturen zwischen 35 und 39 Grad wird auf einer ehemaligen Militäranlage im US-Bundesstaat New York eine Veranstaltung abgehalten. Es fehlt natürlich an viel zu vielen Dingen: Toiletten, frisches Wasser und Sicherheitskräften. Das war zwar schon beim ursprünglichen Festival im Jahr 1969 so, doch ein Picknick an einem idyllischen Milchhofes bei Reggae-Musik ist dennoch gemütlicher.

Seien wir mal froh, dass wir in Deutschland leben, denn eigentlich waren bei Woodstock '99 gar keine Sicherheitskräfte. Es werden ehemalige Mitarbeiter gezeigt, die T-Shirts verkauften, mit denen man überall auf dem Gelände passieren konnte. Hierzulande wäre eine solche Veranstaltung gar nicht möglich, weil – zum Glück – Gemeinden und Behörden eine Veranstaltung abnehmen müssen. Dass sich eine Katastrophale zusammenbraut, wenn die grundlegenden Dinge wie Wasser fehlen und dieses, selbst schon damals freche vier US-Dollar pro Flasche, verkauft wurde, bringen das Fass immer noch zum Überlaufen.

Noch zwei gesamte Tage überlebten die Fans, die ihre Idole sehen wollten. Das macht auch die Dokumentation klar, dass die meisten Konzertbesucher abseits des Chaos tolle Tage erlebt haben. Doch so wirkliche Freude will nicht aufkommen, wenn zahlreiche junge Frauen eine Vergewaltigung erleben mussten, junge Menschen aufgrund von verschmutzten Wasser Bakterien im Mund haben und zahlreiche Besucher schon vorher abreisten, weil das Chaos zu groß wurde. Es konnte sogar ein Van entwendet werden, der durch eine riesige Menge in einen Hangar fuhr.

Aber was sagen die Verantwortlichen dazu? Alles nicht zu schlimm. So viel sei ja gar nicht passiert, wird argumentiert. Zwar kommen immer wieder Journalisten zu Wort, die darauf angesprochen werden und das klar verurteilten, die verantwortlichen wie John Scher und Michael Lang ziehen sich ganz gut aus der Affäre. Sie seien immer nicht informiert worden, dass dies so sei. Gerade Woodstock-Erfinder Lang taucht in dem Stück kaum auf. Erst am Sonntagabend soll er sich das Gelände angesehen haben.

Netflix offenbart mit seiner dreiteiligen «Trainwreck: Woodstock '99»-Dokumentation, das sie kein Gespür für gute Dokumentationen haben. Das Unternehmen hat 200 Millionen zahlende Kunden, ist aber nicht in der Lage, gute Dokumentationen abzuliefern. Selbst der Norddeutsche Rundfunk bringt kompaktere, aber aussagekräftige Filme zum Thema Wacken hin. Während man vor einigen Jahren mit der Dokumentation vom Fyre-Festival noch ein wenig journalistische Aufklärungsarbeit bringen konnte, filmt man auch hier nur die Geschehnisse ab. Erzählerisch ist die Dokumentation auf dem Niveau von «Hartz und herzlich»-Dokumentationen, die ebenfalls ihre Protagonisten nicht hinterfragen. Recherche? Braucht man bei Netflix nicht. Es ist schade! Das Unternehmen besitzt genug Geld, um gute Leute zu verpflichten. Stattdessen werden prollige Dokumentationen aufgesetzt, deren erzählerischer Wert gleich null ist.

«Woodstock '99» gibts bei Netflix zu sehen.
20.04.2023 12:18 Uhr  •  Fabian Riedner Kurz-URL: qmde.de/140916