Nina Haun: ‚Ein Casting ist eine Arbeitsprobe, die nicht perfekt sein muss‘

Wenn beispielsweise «Unsere wunderbare Jahre» bei der UFA besetzt wird, dann gehört Haun zu den Personen, die Darsteller auswählen dürfen. Mit Quotenmeter sprach Haun auch über die Nachwuchsförderung.

Hallo Frau Haun. Letzte Woche liefen bereits die ersten zwei Folgen der zweiten Staffel von «Unsere wunderbaren Jahre» im Fernsehen. Nächste Woche Mittwoch, am 22.3., werden Folge fünf und sechs um 20:15 Uhr im Ersten zu sehen sein. Auch bei dieser UFA Fiction-Produktion haben Sie das Casting geführt und es sind in dieser Staffel einige junge Nachwuchsdarsteller wie Rocío Luz, Omid Memar und Damian Hardung dabei. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Die Lorbeeren für diese schönen Besetzungen gehen an meine Kollegin Laura Buschhagen, die einen besonderen Fokus auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene legt und seit Februar wieder in unserem Team arbeitet. Rocío ist eine richtige Entdeckung. Es wurde sehr lange und ausführlich nach einer authentischen Besetzung gesucht, weil die Rolle Gabriela als Argentinierin geschrieben war, reiten können sollte und auch inhaltlich vieles mitbringen musste. Es war Rocíos erste Rolle, noch bevor sie eine Agentur hatte. Rocio und der schon sehr erfahrene, großartige Damian Hardung haben uns im Konstellationscasting umgehauen. Omid kannten wir aus vorherigen Arbeiten wie zum Beispiel Patrick Vollraths beeindruckendem Film «Code 7500». Er war wie die anderen beiden und die fabelhafte Ella Lee ein Geschenk für diese zweite Staffel, die viel vom Aufbruch und den Perspektiven der jungen Menschen in den späten 60er Jahren erzählt.

Die zweite Staffel von «Unsere wunderbaren Jahre» macht einen zeitlichen Sprung in die späten 60er Jahre. War dieser Umstand schwierig für das Casting und nach welchen Kriterien suchen Sie in diesem Fall nach den richtigen Darsteller?
Nein, im Gegenteil. Wir lieben es, Geschichten über verschiedene Epochen zu erzählen und hatten zusammen mit unserer Regisseurin Mira Thiel wahnsinnig viel Freude am Suchen und Finden von Schauspieler:innen, die sowohl optisch in die Zeit passten als auch innerlich das Lebensgefühl transportieren konnten. Der Austausch mit Mira war von der ersten Sekunde an von einer unfassbaren Tiefe und einem großen gemeinsamen Verständnis dafür geprägt, was die großen und kleinen Fragen des Lebens anbelangt.

Da wir gerade beim Thema Nachwuchsdarsteller sind. Einmal im Jahr lädt die UFA zum Nachwuchscasting ein. Mussten Sie diese Veranstaltung 2021 oder 2022 aufgrund der Corona-Pandemie pausieren? 2. Wie wird das Nachwuchscasting nun ausfallen? Gibt es spezielle Workshops? Und wie war Ihre Erfahrung in den vergangenen Jahren?
Unser Nachwuchscasting setzt da an, wo junge Schauspielschulabsolvent:innen auf ihre Vorsprechreise gehen, also nach dem 3. Jahr ihrer Ausbildung. Wir wollten unbedingt die Kontinuität des UFA Nachwuchscastings sicherstellen und auch den Absolvierenden der Jahre 2020/2021/2022 die Möglichkeit geben, sich zu zeigen. Wir haben nach einem virtuellen Einführungsworkshop um ein E-Casting und About me (eine Selbstvorstellung) gebeten, alles gesichtet und im Anschluss auch einen Feedback Termin angeboten, in dem wir mit den Teilnehmer:innen wieder ins direkte Gespräch gehen konnten.

Welche Vor- und Nachteile bietet eigentlich eine rein digitale Veranstaltung? Können die Personen dann überhaupt frei agieren? Nehmen Sie Rücksicht auf die Lebensumstände der Teilnehmer?
Der Vorteil war, dass wir trotz der Pandemie und der damit einhergehenden Beschränkungen die Schauspieler:innen anschauen konnten und dass jede:r, unabhängig vom Aufenthaltsort und einem festen Termin, die Aufnahmen machen konnte, da wir für die Erstellung des Materials einen längeren Zeitslot anberaumt hatten.

Bei einem Casting handelt es sich immer um eine Arbeitsprobe, die nicht perfekt sein muss, wir abstrahieren immer, ob im Studio, bei einem virtuellen Casting, oder E-Casting. Die meisten müssen mit Einschränkungen arbeiten, sei es Zeitdruck oder ein suboptimales Setting. Wichtig ist für uns nur, dass wir die Schauspieler:innen gut sehen und hören können und somit ein Gefühl für sie und dafür bekommen, wie sie mit einem Text künstlerisch umgehen.

Wer bewertet die Nachwuchsschauspieler? Sitzen drei Personen – wie bei Formaten wie «Deutschland sucht den Superstar» – vor Ihnen und kommentieren die Leistung?
Das ist, glaube ich, ein großes Missverständnis. Bei den genannten Formaten ist die Jury und deren Tätigkeit Teil der Show. Wir wiederum arbeiten im Hintergrund, sichten die Castings jede:r für sich allein und haben auch unterschiedliche Haltungen zu den Einsendungen, die wir besprechen, aber auch parallel existieren lassen können. Es gibt ja nicht nur eine richtige Art und Weise, eine Szene zu spielen oder – wenn man es weiterdenkt – eine Rolle zu besetzen.

Wir geben während der Studiocastings auch kurze Feedbacks, später sichtet man das Material on screen, dabei bestätigen oder verändern sich gegebenenfalls die Eindrücke. Wenn es um konkrete Besetzungsentscheidungen geht, erfolgt im Anschluss an Castingaufnahmen eine umfassende Abstimmung mit allen Beteiligten, also Regie / Produktion / Sender / Streamer oder Verleiher. Besetzungsentscheidungen sind immer das Ergebnis eines sorgfältigen und zeitintensiven Austausches.

Wie fällt die Bewertung aus? Haben Sie schon Menschen gesagt, dass Sie gar nicht talentiert sind? Oder soll immer etwas Positives mitgenommen werden?
Casting bedeutet für mich, dass ich gedanklich den individuellen „Sound“ von Schauspieler:innen mit einer geschriebenen Figur zusammenfüge, das ergibt jedes Mal seine einzigartige Kombination und dadurch auch kein falsches Ergebnis, sondern immer ein anderes. Und natürlich wägt man ab, was einem wichtig ist, wenn man eine Geschichte erzählen will und was für Qualitäten im Sinne von Eigenschaften es dafür braucht. Also muss jemand „funny bones“ haben für eine komödiantische Rolle oder improvisieren können oder andere Skills, wie eine bestimmte Sprache sprechen oder RocknRoll tanzen können. Bei einem Casting schauen wir nicht, ob jemand spielen kann, sondern wie. Und nein, ich würde mir niemals anmaßen, die Aussage zu treffen, dass jemand kein Talent habe.

Sagen Sie Nachwuchsschauspielern ab, weil Sie bereits von einem gewissen Charakter genügend Personen in der Hinterhand haben?
Beim Nachwuchscasting suchen wir ja nicht für eine konkrete Rolle, deshalb gibt es keine Zu- oder Absagen wie bei einem normalen Casting. Für uns sind alle Schauspieler:innen wichtig und relevant, weil wir ja permanent neue Drehbücher bekommen, es unzählige Figurenprofile und damit für jede:n Möglichkeiten gibt! Manchmal dauert es Jahre, wie beispielsweise bei Jan Krauter, den wir 2008 in unserem allerersten Nachwuchscasting hatten und dann sechs Jahre später in seiner ersten großen Rolle mit mehr als 30 Drehtagen als Sohn von Ulrich Tukur in «Grzimek» besetzen konnten. Manchmal geht es sehr schnell, wie jüngst bei einem Absolventen, der Ende 2021 am Nachwuchscasting teilgenommen hat und direkt im Mai 2022 eine Hauptrolle in der mit großer Spannung erwarteten Miniserie «Gute Freunde» unter der Regie von David Dietl übernommen konnte.

Vor Jahren wurde eine Freundin von mir für eine tägliche Seifenoper gecastet. Da gibt es allerdings nicht um ein Talent, sondern lediglich um das Aussehen.
Vielleicht verfügt sie über Talent und entsprechendes Aussehen? Das schließt sich meiner Meinung nach nicht aus. Dazu kann ich persönlich aber nichts sagen, da mein Team und ich nicht für Dailies verantwortlich sind. Ich habe aber großen Respekt davor, was Schauspieler:innen in dem Format leisten. Generell habe ich den Eindruck, dass in den letzten Jahren ein grundsätzlicheres Umdenken stattfindet und verschiedenste Narrative auf dem Weg sind, sich zu verändern u.a. durch die Diversity-Bewegung und Initiativen wie „act out“ oder „Alle Körper im Blick“.

Die UFA setzt sich inzwischen für Diversität ein. Wie machen Sie darauf aufmerksam, dass sich auch körperlich behinderte Schauspieler bewerben können?
Bewerben kann sich bei uns natürlich jede:r. Für Rollen mit Schauspieler:innen mit Behinderung suchen wir explizit nach solchen über Aufrufe / Agenturen / Theater oder mithilfe von Kolleg:innen, die dezidiert in entsprechenden Einrichtungen recherchieren.

Wie muss man sich die nächsten Prozesse vorstellen: Man wird bei Ihnen empfohlen und bekommt dann eine Agentur zugewiesen?
In den allermeisten Fällen arbeiten Schauspieler:innen, die sich bei uns bewerben, bereits mit einer Agentur zusammen und kümmern sich selbst.

Gibt es Standortverteile – wie in einer Stadt? Wie beraten Sie Menschen, die vom Land kommen?
Wenn man in Städten wohnt, in denen viel gedreht wird, hat das den Vorteil, dass die Produktionen keine Reise- und Unterbringungskosten aufbringen müssen und man auch ohne großen finanziellen Aufwand an Livecastings teilnehmen kann. Auch kann es für das Netzwerken vorteilhaft sein, wenn man leichter anderen aus der Branche begegnet oder gerade als Berufsanfänger:in auch als Anspielpartner:in zur Verfügung stehen kann.

Bei den E-Castings ist der Wohnort irrelevant, man braucht lediglich gutes Internet. Meine Erfahrung ist, dass – wenn ein:e Schauspieler:in unbedingt gewollt ist – es zweitrangig ist, wo ihr oder sein Zuhause ist. Dahin muss man natürlich auch erst einmal kommen, aber ich würde niemandem raten nur aus strategischen Gründen in eine Stadt zu ziehen, in der man sich nicht wohlfühlt. Man braucht neben der Schauspielerei und der Hingabe an diesen Beruf auch immer etwas anderes, das man liebt und woraus man Energie schöpfen kann.

Vielen Dank für Ihre Zeit!
16.03.2023 12:27 Uhr  •  Fabian Riedner Kurz-URL: qmde.de/140776