«Aktenzeichen XY.. ungelöst»: Ein Leuchtturm mit Zukunft?

Obwohl die Fahndungssendung weiterhin sehr gute Reichweiten holt, sollte man das Format nicht ausreizen. Ein Kommentar von Mario Thunert.

Es ist der 15. Februar 2023. Was gibt es ausgerechnet jetzt, an diesem Tag, über «Aktenzeichen XY», dieses seit 55 Jahren laufende TV-Uhrwerk, zu sagen, das damals zum 587. über den Äther gehen wird? Warum sollte es ausgerechnet Mitte Februar herausgehoben und seine Zukunft gleichzeitig in Zweifel gezogen werden? Es ist berechtigt, sich diese Fragen zu stellen, und dennoch erscheinen sie in Anbetracht der gestrigen Ereignisse als dringlich. Ein auf den Tag genau 35 Jahre zurückliegender Mordfall, die Tötung der damals 24-jährigen Petra Nohl im Jahre 1988 konnte mithilfe des Dauerbrenners aufgeklärt werden. Mehr als 30 Jahre war der Fall als sogenannter Karnevalsmord in den Medien präsent – Aber es brauchte wieder mal den Fahndungsklassiker der Klassiker, um ein Verbrechen durch das finale Puzzleteil doch noch aufzuklären. Gezeigt wurde der Fall in der XY-Sendung vom 7. Dezember 2022, also vor 3 Monaten. Schon in der berüchtigten Schlussabfrage der Ausgabe berichtete Alfred Hettmer Moderator Rudi Cerne von einem „vermutlich sehr interessanten Hinweis“ eines Zuschauers. Vielleicht der Zuschauer, der die Polizei nun zum 56-jährigen Täter führen konnte?

In der Zeit nach der Sendung, war es jedenfalls wie so oft erst einmal ruhig geworden in Bezug auf Ermittlungsergebnisse. Wie meistens nach «XY» in letzter Zeit, konnte sich das Gefühl einstellen, dass dies einer der zahlreichen filmisch rekonstruierten Cold-Cases bleiben würde, an dessen Klärung man so wirklich nicht glaubt. Dass es nun wieder einmal anders gekommen ist, kann daher durchaus als Überraschung angesehen werden. Die man der Sendung (nicht mehr) zugetraut hätte? Fakt ist, dass die Zeiten, in denen gefühlt ¾ des deutschsprachigen Raumes am Mittwochabend gebannt vor «XY» sitzt und einen derart großen öffentlichen Druck aufbaut, dass sich Täter*innen noch während der Sendung auf ihrer Flucht verraten und monatlich Aufenthaltsorte von flüchtigen Mördern oder anderen Verbrecher*innen identifiziert werden konnten, weil in jeder Nische ein «XY»-Zuschauer saß, vorbei sind. Fakt ist aber auch: Dem alten wuchtigen Tanker, den Rudi Cerne 2002 gerade noch so vor dem eigenen Absaufen retten konnte, gelingt es auch im neuen Jahrtausend immer wieder nie für möglich gehaltene Verbrechensaufklärungen hinzulegen.

Wie beispielsweise die spektakuläre Lösung des damals ebenfalls lang zurückliegenden Mordfalls Lolita Brieger 2011. Die Aufklärung zeigte einerseits die einzigartige (Strahl-)Kraft und tief verwurzelte Binde-Energie, die in dieser Dimension nur in diesem Format zu stecken scheint, auf der anderen Seite ist sie die Ausnahme unter inzwischen fast im Drei-Wochen-Takt (+Spezialausgaben, Ableger, etc.) aufgeführten True-Crime-Cold-Cases vor zwar wieder erstarktem aber im Vergleich zu früher dennoch begrenztem Publikum. Rechtfertigt eine (zwar vergleichsweise hohe) Zuschauer*innenzahl von durchschnittlich fünf Millionen insgesamt und eine Million der 14- bis 49-ährigen noch das Prädikat ''Leuchtturm''? Ist «XY» auch gerade in den ganz jungen Altersklassen 14-29 noch ein Anzugspunkt? Tuen sich junge Leute an Mittwochabenden zum (digital-)kollektivem gemeinschaftlichen «XY»-Gucken (bspw. auch via. Streaming) zusammen? Ist «XY» gerade beim 'Nachwuchs' aber auch insgesamt noch Must-See-TV, Trending auf Social-Media? Die Antworten von jungen Zuschauer*innen darauf könnten realistischer Weise in etwa so lauten: ''Ja, die Sendung ist schon irgendwie einzigartig und eines der erfolgreichsten Formate in Deutschland, aber es ist jetzt auch nicht so, dass alle um mich herum es gucken, und ich daher auch nicht das Gefühl habe, es sehen zu müssen.“ Und genau ein solches Image, hinter dem durchaus Wertschätzung steckt, dieses 'Jein' in der Antwort auf die Frage nach dem Must-See, ist ein Problem und kann zukünftig ein noch größeres für das Format werden, eine fatale Vagheit, die wieder in einen Graue-Maus-Status münden kann.

«XY» muss den Anspruch stellen, an jedem Mittwoch unangefochtener und (viel) deutlicherer Marktführer in allen Altersklassen, smarter Anzugspunkt auf allen Ausspielwegen und Social-Media-Toptrending zu sein, und zwar nicht wenn es darum geht, sich über drei Ecken über Memes schauspielerischer Leistungen zu amüsieren. Die Sendung muss auch den Anspruch stellen, im Hinblick auf eine Krimi- und True-Crime-affine Zuschauerschaft insgesamt zumindest nicht schlechter abzuschneiden als die erfolgreichste fiktionale Krimireihe (in diesem Fall Münster-/Köln-«Tatort»). Im Moment schneidet «XY» im Vergleich zu diesen Reihen, die zwischen 7-13 Millionen Zuschauer*innen ziehen (und das sind nicht wenige) deutlich schlechter ab, was zu denken geben sollte. Eine solche Erfolgssteigerung funktioniert nur, wenn man radikal bereit ist, auf allen Ebenen absolute Benchmark zu werden. Aber das funktioniert auch nur, wenn man es (wieder) schafft, unvergleichlich anders und pionierhaft neu zu sein. Das filmische 'Fast-«Tatort»-Level', dessen Erreichen nach der «XY»-Krise Ende 90er/Anfang 2000er die Sendung kurierte, ist den Verantwortlichen rückblickend hoch anzurechnen, doch wird es jetzt Zeit, es anzufechten.

Es ist zu fragen, ob es in seiner inzwischen praktizierten Routine nicht im Umkehrschluss zu ähnlich, zu unauffällig und zu geschliffen ist. Im Klartext braucht es ein echtes Momentum, das «XY» wieder zu einem unumgänglichen (kollektiven) Konzentrationspunkt und Sogphänomen macht. «XY» muss Trend schaffen, Trend sein, Reizpunkte setzen, auch überspannen, provozieren, etwas wagen und sich trauen, wieder stilisierter daherzukommen. «XY» muss sich trauen, beim Ausleben seiner tiefen Ambivalenz, das zu bekämpfen, mit dem es unterhält, und mit dem zu unterhalten, das es bekämpft, sich selbst zu riskieren. Nur wer sich selbst riskiert und sich in enormer Fallhöhe dennoch nicht verliert, kann Anziehung schaffen, die so tief ist, wie jene Höhe, die sie ermöglicht. Anders zu sein, geht auch damit einher, selten zu bleiben. Aktuell ist der Dauerbrenner noch DAS Fahndungsformat, nur droht er sich durch Nebengewässer unnötig zu einem 'True-Crimemigen' Format zu verwässern. Spezialausgaben, die keinen akuten Fahndungsschwerpunkt haben sowie Sequels und Podcasts, die in eine ähnliche Kerbe schlagen, bedienen den Mechanismus, den bisherigen Erfolg verlängern zu wollen, doch schwächen den eigentlichen Kern.

Die Devise muss sein, zu verkürzen, um mehr Konzentration zu generieren. Sich an die Maxime von zehn Ausgaben im Jahr zu halten, + ganz selten Fahndungs- oder Präventionsspeziale zu bringen, halten die Zeiträume zwischen den Ausgaben groß. Die Zuschauerschaft muss darauf warten dürfen, bis endlich mal wieder die nächste Sendung ansteht, und sich nicht wundern müssen, dass die Sendung schon wieder läuft. Nun: Warum also nach diesem Tag, an dem das Format so eindrucksvoll seine noch immer in ihm schlummernde Macht demonstriert hat, der Verweis auf seine Schwachstellen? Weil dieser Erfolg zeigt, dass «Aktenzeichen XY Ungelöst» (immer noch) ein potenziell hoch wirksames und gesellschaftlich relevantes Werkzeug zur Verbrechensaufklärung ist und damit gewissermaßen unersetzlich in dieser Gesellschaft ist, sich dies aber nicht in einer Publikumswirkung mit dementsprechend weitem Radius im Rahmen eines generationsübergreifend hochanziehenden Images widerspiegelt. Er markiert die Diskrepanz zwischen seiner punktuell alles überstrahlenden Leuchtturm-Kraft, die Verbrechen klärt, die sonst niemand klärt, und einer daraus potenziell erwarteten Resonanz als Massenphänomen, die sich aber eben nicht (mehr) vollzieht.

Sein Standing als erfolgreicher Fernseh-Dino aber eben nicht als alles überflügelnder Straßenfeger-Magnet, mit mitunter belächeltem Image beim jungen Publikum, welches er nicht mehr wie Fliegen übers Schlüsselloch als Must-See-TV anzieht, zeigt ein Gefälle von beträchtlichem ungenutzten Potenzial auf, das nicht nur rätselhaft und tragisch erscheint, sondern auch ärgerlich ist, in Bezug auf gesellschaftliche Einflusswirkung als kollektive Verbrechensverfolgung. Gerade mit Blick auf die junge Zielgruppe, die das Format in Zukunft (er-)halten und tragen wird müssen, wird es die entscheidende Aufgabe, diese in wesentlich höherer Anzahl an «XY» zu binden, um es in seiner Funktion und seinem gestern erwiesenen Potenzial auszubauen, überhaupt zu sichern und nicht verfallen zu lassen. Dafür muss der Dino seine Glaubwürdigkeit und Seriosität bewahren, aber gleichzeitig so Hip werden wie «Stranger Things». Vielleicht ist dann sogar wieder noch mehr drin, als Leuchtturm im Sinne von Kapitän Eduard.

«Aktenzeichen XY… ungelöst» ist am Mittwochabend im ZDF zu sehen.
01.03.2023 11:29 Uhr  •  Mario Thunert Kurz-URL: qmde.de/140465