Die Kritiker: «Nord bei Nordwest: Canasta»

Da sage einer, Canasta sei langweilig. Zumindest in Schwanitz im Kreis Ostholstein ist Canasta eine sehr spannende Angelegenheit. Vor allem dann, wenn es um sehr viel Geld geht, das unverhofft den Spieleabend sprengt und dringend einen neuen Besitzer sucht.

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BESETZUNG: Hinnerk Schönemann, Marion Kracht, Jana Klinge, Stephan A. Tölle, Marleen Lohse, Cem Ali Gültekin, Melanie Adler, Regine Hentschel
REGIE: Felix Herzogenrath
BUCH: Niels Holle
MUSIK: Stefan Hansen
KAMERA: Lars R. Liebold
Manchmal braucht es für 90 vergnügliche Kriminalfilmminuten nicht viel. Wenn die Geschichte halbwegs stimmig ist, reicht eine Figur aus, um einen Film über seine gesamte Laufzeit zu tragen. Hinnerk Schönemann, als Hauptdarsteller normalerweise Dreh- und Angelpunkt des Geschehens im fiktiven Örtchen Schwanitz an der Ostsee, muss sich in diesem neunzehnten Spielfilm der Reihe mit einer Nebenrolle begnügen, denn getragen wird die gesamte Geschichte von einer anderen Figur: Hildegard Knutzen heißt sie und wird dargestellt von Marion Kracht. Aber alles der Reihe nach.

Hildegard Knutzen ist eine Zugezogene in dem kleinen Ort in Ostholstein. Frau Knutzen ist alleinstehend und eine Frau, die viel Wert auf Etikette legt. Wenn sie das Haus verlässt, ist sie stets korrekt gekleidet, dezent geschminkt, ihre Umgangsformen entlocken Freunden des Knigge ein anerkennendes Nicken. Hildegard Knutzen ist Mitglied einer Canasta-Gruppe vor Ort, der Herr Töteberg vorsitzt (Stephan A. Tölle), der aus früheren Filmen bereits bekannte, etwas steif wirkende, aber ebenso stets korrekt agierende Bestatter von Schwanitz. Der Tag ihres aktuellen Canasta-Treffens beginnt jedoch mit einer traurigen Nachricht: Ein Mitglied ihrer Viererrunde ist daheim verstorben. Am Tisch ist er zusammengeklappt, sein Kopf fiel in ein großen Stück Kuchen. Es gibt schlimmere Wege, die Welt des Seins zu verlassen und daher ist sich Hildegard sicher – er hätte gewollt, dass sie nicht laut um ihn trauern, sondern auf ihn ein Spielchen spielen. Canasta war sein Leben.

Szenenwechsel: Zwei Taucher, ihre Namen tun erst einmal nichts zur Sache, bergen aus der Ostsee eine Boje, vollgepackt mit Euroscheinen. Woher das Geld kommt, welchen Deal sie abgeschlossen haben, all das spielt zu diesem Zeitpunkt keine Rolle. Wichtiger ist vielmehr, dass die beiden nach der Bergung in einen Streit geraten. Es ist ein Streit der offenbart, dass die beiden eines nicht sind: große Fische im Teich des Verbrechens. Die beiden sind vielmehr zwei Fischchen, die eine Chance ergriffen haben. Eine Chance, die für beide letztlich eine Nummer zu groß ist, denn sie schaffen es nicht einmal, das Geld untereinander zu verteilen. Am Ende ihres Streits schießt der eine auf den anderen; der „Beschossene“ kann sich noch hinters Steuer seines alten Mercedes setzen, Gas geben und flüchten. Aber: Er ist verletzt. Und das so schwer, dass er schließlich verstirbt. Der Tod jedoch ereilt ihn erst, nachdem er mit dem Wagen spektakulär im Garten von Herrn Töteberg gelandet ist und den insgesamt drei Canasta-Freunden noch mitteilen kann, dass sich im Kofferraum sehr, sehr viel Geld befindet.

Wenn eingangs dieses Textes behauptet wird, Hinnerk Schönemann sei nur ein Nebendarsteller in diesem Film, ist dies bezogen auf die Anzahl seiner Auftritte mit Sicherheit nicht richtig. Ein Kriminalfilm benötigt einen Ermittler und sein Hauke Jacobs ermittelt fleißig und gewissenhaft. Auch kommt er seiner Kollegin Hannah Wagner (Jana Klinge) etwas näher, was sicher für die nächsten Filme nicht ohne Belang sein wird. Das ist alles richtig. Sobald jedoch Marion Kracht auf dem Bildschirm erscheint, nimmt sie in diesem Film die Szenerie für sich ein, denn Hildegard Knutzen mag eine Frau mit Stil sein, der Etikette viel bedeutet. Aber sie ist auch eine Frau, die eine Chance sieht, wenn diese im Vorgarten landet. Die Chance, ihren Lebensabend unbekümmert an der Ostsee verbringen zu können, sitzend auf einem Ruhekissen bestehend aus vielen, vielen Euroscheinen. Warum also sollte dieses Geld im Kofferraum verbleiben? Wer erschossen in einem alten Mercedes liegt, dessen Kofferraum mit Geldscheinen gefüllt ist, wird kaum sein Sparbuch geplündert haben, um auf Fehmarn mal ordentlich die Schillerlocke herauszulassen. Also hat Frau Knutzen keine Hemmungen, dieses Geld der Staatskasse vorzuenthalten. Das einzige Problem sind ihre Mitspieler, die einfach nur die Polizei rufen möchten, um möglichst schnell den Vorfall Vorfall sein lassen zu können.

Marion Kracht ist großartig. Ob Frau Knutzen schon immer einen Abgrund hinter ihrer sorgfältig gepflegten Fassade verborgen hat? Oder ist es die Chance, dieser „Gelegenheit macht Diebe“-Moment, der diese Abgründe erst erschafft? Die Art, wie Frau Knutzen ihre Mitspieler unter Druck setzt, wie sie ihren Plan durchzieht, das alles ist verdammt clever geschrieben. Aber es ist die Schauspielerin, die diese Figur zum Leben erweckt. Was sich aus ihrem Tun ergibt, ist mal skurril, mal schwarzhumorig und nicht selten auch dramatisch. Der Fall des Geldes aus der Ostsee (immerhin ist da ja noch ein zweiter Täter, der sein Geld zurück haben will), wird zwar nie aus den Augen verloren, gerockt wird die Episode jedoch von einer alles überstrahlenden Figur. Und das macht richtig Spaß!

PS: «Canasta» ist faktisch der zwanzigste Fall der Reihe. Das Weihnachts-Special «Ho-Ho-Ho» aus dem Jahr 2021 wird jedoch in der offiziellen Zählung nicht berücksichtigt.

Am Donnerstag, 12. Januar 2023, 20.15 Uhr, Das Erste
12.01.2023 00:03 Uhr  •  Christian Lukas Kurz-URL: qmde.de/139431