Die Kritiker: «Die Heimsuchung»

Der Geist eines toten Mädchens führt den BKA-Fahnder Ben in seine eigene Vergangenheit. Vor über 20 Jahren ist sein bester Freund bei einem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen. Glaubt er zumindest. Tatsächlich aber hat sich die Geschichte ganz anders abgespielt. Vor allem, da sein Freund gar nicht tot ist.

Stab

DARSTELLER: Kostja Ullmann, Kristin Suckow, Deborah Kaufmann, Martin Feifel, Michael Witte, Marie Rosa Tietjen, Urs Rechn, Ilja Bultmann
REGIE: Stephan Rick
DREHBUCH: Thorsten Wettcke
MUSIK: Enis Rotthoff
REDAKTION: Carolin Haasis, Christoph Pellander
PRODUZENTEN: Jan Ehlert, Sarah Kirkegaard
Moment? Ein deutscher Fernsehermittler trifft einen Geist, der ihn mit einem Fall aus seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert? In einem Degeto-Krimi? Im Ersten? Da staunt nicht nur der Laie, da wundert sich sogar der Fachmann. Aber genau das geschieht in Stephan Ricks Thriller «Die Heimsuchung». Obschon sich die Frage stellt, ob dieser Geist tatsächlich echt ist oder eine Einbildung, die aus einem Trauma herrührt, das BKA-Fahnder Ben zu verarbeiten hat. Ben wird bei einem Einsatz nämlich nicht nur schwer verletzt, er verliert auch die Geisel, die er befreien wollte: Ein kleines Mädchen. Von dem Tod des Mädchens erfährt er jedoch erst Wochen später, denn auch Ben wird bei dem Einsatz schwer verletzt und muss in ein künstliches Koma versetzt werden. Aus dem er jedoch ohne bleibende körperliche Schäden zu nehmen bald wieder erwacht. Auch dank der Fürsorge seiner Freundin Marion, einer Ärztin, die in den Tagen seines Dämmerschlafes nicht von seiner Seite gewichen ist.

Wieder daheim schlägt Marion Ben vor, einige Zeit auszuspannen. Vielleicht am Meer, wo seine Eltern leben. Eltern, zu denen Ben ein eher distanziertes Verhältnis pflegt. Warum, das hat er Marion nie erzählt. Allerdings sieht er ein, dass er einige Dinge in seinem Leben zurechtrücken sollte, auch, um mit den Geschehnissen der letzten Wochen klarzukommen. Also erzählt Ben Marion von Timmi. In den 90ern, als er ein Kind gewesen ist, war Timmi sein bester Freund. Timmi, betont er, war die Art von Freund, die einen unter normalen Umständen ein Leben lang begleiten. Timmi lebte auf einem Bauernof. Ben war eigentlich ein Großstadtkind. Sein Vater, ein Künstler, hatte einen alten Hof an der Ostsee gekauft, in dem er seine Werkstatt eingerichtet hatte. So lernten sich Timmi und Ben kennen und wurden derart enge Freunde, dass sie jedes Geheimnis miteinander teilten. Wirklich jedes. Bis zu dem schrecklichen Tag, an dem sie Verstecken spielten und Timmi in einem Getreidesilo erstickte. Timmi wusste, dass sich in diesem Silo giftige Gase entwickeln konnten. Warum er in das Silo gekrochen ist, hat Ben niemals erfahren. Timmis Vater, ein mürrischer, zur Gewaltausbrüchen neigender Eigenbrödler, machte auf jeden Fall Ben für Timmis Tod verantwortlich. Ben zog mit seiner Mutter in die Stadt und mied seither die See. Das Geschehen trieb auch einen Keil zwischen ihn und seine Eltern. Allerdings gibt er Marion recht. Es ist an der Zeit, einen Schlussstrich unter diese Vergangenheit zu ziehen und auch seinen Eltern wieder näher zu kommen. Gerade nach der missglückten Geiselbefreiung, die ihm fast das Leben gekostet hätte. Auf dem Weg gen Ostsee allerdings erscheint Ben zum ersten Mal der Geist des bei dem verunglückten Befreiungsversuch getöteten Mädchens. Und nicht nur das. Daheim, bei seinen Eltern, erfährt er nach über 20 Jahren, dass Timmi an jenem denkwürdigen Tag gar nicht gestorben ist. Timmi liegt vielmehr seit 20 Jahre im Wachkoma. Bens Eltern haben ihn angelogen, da sie der Ansicht waren, er würde mit den Geschehnissen eher abschließen, würde er im Glauben leben, Tommi sei gestorben. Abgesehen von Timmis Vater glaubt eh niemand daran, dass Timmi jemals wieder aus dem Koma erwachen wird.

Wirklich niemand? Ben ist da anderer Meinung, denn Marion ist nicht nur Ärztin, sie ist als Neurologin auf Wachkoma-Patienten spezialisiert. Kurzerhand sucht Ben mit Marion Timmi auf und schon nach der ersten Untersuchung hegt Marion die Hoffnung, einen Weg zu finden, um mit Timmi einen niederschwelligen Kontakt aufzunehmen. Seine Gehirnaktivitäten geben zur Hoffung Anlass. Diese Nachrichten ruft auf den Geist des toten Mädchens wieder auf den Plan.

Keine Frage, diese Zusammenfassung muss man in gewisser Weise sacken lassen. Bens bester Freund stirbt im Jahr 2000 angeblich bei einem Unfall und seine Eltern verheimlichen ihm die Wahrheit über den tatsächlichen Zustand seines Freundes über 20 Jahre. Solch eine Prämisse ist bereits schwer zu glauben. Wirklich plausibel klingt das nicht. Dann aber ist Bens Freundin auch noch zufällig eine hoch spezialisierte Neurologin, die ihren Forschungsschwerpunkt genau auf Fälle wie den von Timmi gelegt hat. Zufälle gibt es!

Und es bleibt nicht nur bei diesem Zufall. Als Ben Timmis Fall neu aufrollen will, kommt es im Keller der Polizeistation just am Tag seines Besuches zu einer Verpuffung, der ausgerechnet das Archiv der Dorfpolizei zum Opfer fällt.

Dies alles wäre in einem normalen Kriminalfilm möglicherweise schwer plausibel zu erklären. Die innere Logik eines Kriminalfilmes basiert nicht auf Realismus. Sie basiert auf Plausibilität. Innerhalb eines Handlungskosmos muss das Geschehen in sich schlüssig sein. Plausibel eben. In einem solchen Kosmos ist es durchaus erlaubt, Kommissar Zufall eine entscheidende Rolle zukommen zu lassen, wenn es der Geschichte dienlich ist. Der Einsatz sollte jedoch mit bedacht durchgeführt werden. «Die Heimsuchung» jedoch wirkt, als habe jemand den Zufallssalzstreuer ordentlich mit Zufallssalz gefüllt und dieses aus großen Löchern auf die Handlung niederregnen lassen. Kommissar Zufall wird doch arg strapaziert. Auf den ersten Blick zumindest. In Wahrheit jedoch legen Regisseur Stephan Rick und sein Autor Thorsten Wettcke einen Pfad der Missinterpretation. Gerade die vermeintliche Simplizität der Geschichte (ein unruhiger Geist führt einen Polizisten auf die Spur eines Verbrechens der Vergangenheit), garniert mit ein paar Zufällen zu viel, lenken den Blick von den kleinen Hinweisen ab, die Rick und Wettcke den ganzen Film über legen, um sämtliche Erwartungen im Rahmen der immerhin 15 Minuten Spielzeit umfassenden Auflösung des Filmes zu brechen. 75 Minuten lassen sie die Zuschauerschaft glauben, «Die Heimsuchung» sei eine im Kern der Handlung simple Geistermär. Um dann den Schalter umzulegen und die Story in eine vollkommen unerwartete Richtung zu lenken. Eine wirklich vollkommen unerwartete Richtung? Wie bereits erwähnt, ist das eben nicht der Fall. Hinweise auf die Auflösung der Geschichte werden en masse präsentiert. Sie werden nur als solche nicht wahrgenommen.

Sicher wird es versierte Genrefilm-Zuschauer geben, die recht früh ahnen, wohin sich der Geist in dieser Geschichte bewegt. «Die Heimsuchung» erfindet das Genre des auf eine Pointe hinauslaufenden Mystery-Thrillers nicht neu. Stephan Rick und Thorsten Wettcke aber bewegen sich sicher auf diesem Terrain. Selbst das manchmal hölzern wirkende Schauspiel, das Defizite in der Schauspielführung vermuten lässt, erklärt sich im Rahmen der Aufklärung der Degeto-Produktion.

Am Ende ergibt sich die Cleverness der Geschichte aus ihrer vorgeblichen Einfachheit.

Die Heimsuchung, am Samstag, 25. September 2021, 20.15 Uhr im Ersten
25.09.2021 06:30 Uhr  •  Christian Lukas Kurz-URL: qmde.de/129699