Annette Hess: ‚Die Figuren haben sich mir eingebrannt‘

Die gebürtige Hannoveranerin ist die erfolgreichste deutsche Drehbuchautorin. Ihre Projekte waren zuletzt immer ein Hit. Am Freitag startete «Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo», Quotenmeter sprach mit Hess über das jüngste Projekt.

Die (betont exemplarische) Geschichte von Christiane F. hat 1978 die Bundesrepublik erschüttert – zu einer Zeit, als der Boulevard mit besonderer Gier über Drogenkriminalität und jugendliche Verelendung berichtet hat und diese Themen im öffentlichen Diskurs auf breiten Widerhall gestoßen sind. Heute, 40 Jahre später, ist das nicht mehr so. Kommt Ihre Serie also nicht 40 Jahre zu spät?
An meine Serienprojekte gehe ich nicht mit dem Kalkül heran, ob etwas in die Zeit passt, sondern immer nur aus meiner künstlerischen Intuition heraus. Die Geschichte von Christiane F. hat mich seit über 40 Jahren begleitet, hat mich in ihrer Ambivalenz immer bewegt. Den Kinofilm damals fand ich absolut unvollständig. Durch den Serienboom und meine Erfahrung in dem Genre habe ich jetzt die Chance gesehen, die ganze Geschichte zu erzählen, und bin mit der Idee bei Oliver Berben wunderbarer Weise auf offene Ohren gestoßen.

Was muss man heute anders erzählen als zum Zeitpunkt der Erscheinung des Buches, auf dem Ihre Serie basiert?
Ich denke, um Geschichten erzählen, die bewegen, muss man glaubwürdige, lebendige Charaktere erschaffen – das ist unabhängig von Historie oder Jahrzehnt. Was den Inhalt angeht, ist Sucht ein menschliches Thema – jederzeit. Die Drogen heißen heute anders, aber es wird nicht weniger konsumiert. Was vielleicht anders ist als vor 40 Jahren: wir haben bewusst darauf verzichtet, unsere Rollen mit zu jungen DarstellerInnen zu besetzen. Früher wurden Kinder manchmal für Produktionen rücksichtslos verheizt, da gibt es zum Glück heute ein ganz anderes Verantwortungsbewusstsein.

Wie haben Sie sich den Figuren genähert? Haben Sie «Die Kinder vom Bahnhof Zoo» als quasi historischen Text gelesen – oder sehen Sie den Stoff genauso fest im Deutschland von heute verankert?
Ich habe das Buch als 12-Jährige gelesen, die Figuren haben sich mir eingebrannt. In meinem damaligen Umfeld gab es auch Drogenproblematiken. Ich habe das Gefühl, ich kenne diese Menschen schon lange. Mit meinen Co-AutorInnen Linda Brieda, Christiane Kalss, Johannes Rothe, Lisa Rüffer und Florian Vey haben wir sehr viel über die Figuren gesprochen, aber auch über uns, unsere Erfahrungen mit Pubertät, mit Drogen, mit Gewalt. Wir waren manchmal mehr eine Therapiegruppe als ein Writersroom. Wir haben uns tief eingefühlt und viele Aspekte der Charaktere in uns selbst gefunden. Der Stoff an sich hat seine Attraktivität nicht verloren, das Buch ist Schullektüre. Bei Instagram gibt es Fans aus aller Welt.

Die Reaktion auf die Geschichte von Christiane F. war damals insbesondere: eine Erschütterung quer durch die deutsche Gesellschaft. Welche Wirkung erhoffen Sie sich von Ihrer Serie?
Was eine gute Serie leisten kann, ist – etwas prosaisch gesagt - Empathie-Training. Ich würde mir wünschen, dass die Zuschauenden etwas von sich selbst in den Figuren erkennen. Darüber hinaus, dass sie Mitgefühl für Menschen entwickeln, die nicht perfekt funktionieren, die ihr Leben nicht im gesellschaftlich geforderten Sinne auf die Reihe bekommen. Wenn das Verständnis diesen Menschen gegenüber zunimmt, wäre ich sehr glücklich.

Welche Themen gäbe es ihrer Meinung noch, die unbedingt in den Mittelpunkt der Gesellschaft gerückt werden sollten, die womöglich eine ähnliche Erschütterung hervorrufen würde? Oder ist das im Informationszeitalter kaum noch möglich?
Das ist eine komplexe Frage. Welche Themen wann und wie einschlagen, ist nicht vorhersehbar und nicht gebunden an Informationswege. Da kann man als Autorin immer nur bei sich selbst anfangen: was bewegt mich gerade tief? Und dann schonungslos davon erzählen.

Gab es im Entwicklungsprozess der Serie auch Kontakt zu Christiane F.?
Christiane F. wusste natürlich von Anfang an von dem Projekt. Es gab auch immer mal die Idee, sich zu treffen. Aber dazu ist es bisher nicht gekommen. Sie hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.

«Die Kinder vom Bahnhof Zoo» wurde für Amazon Prime entwickelt. Würde die Serie anders aussehen, wenn sie für das öffentlich-rechtliche Fernsehen oder einen Privatsender gedreht worden wäre?
Wir haben die Drehbücher anderthalb Jahre lang entwickelt, ohne dass feststand, auf welcher Plattform die Serie laufen würde. Oliver Berben hat uns einen Raum geschaffen, in dem wir komplette kreative Freiheit hatten – was außergewöhnlich und beglückend war. Als Amazon dann dazu kam, waren wir in der Entwicklung schon sehr weit. Unser Dampfer war schon längst auf dem Ozean, wenn man so will. Der Ton der Erzählung stand fest. Es gab dann auch nur noch wenige inhaltliche Anpassungen – wie Plausibilität von Figurenbögen, Länge, Verständnisfragen, die aber bei einem öffentlich-rechtlichen Sender genauso hätten aussehen können.

Herzlichen Dank für das Gespräch!
19.02.2021 11:06 Uhr  •  Oliver Alexander, Veit-Luca Roth Kurz-URL: qmde.de/124912