Die Kino-Kritiker: «Der geheime Garten»

Wo die Welt noch in Ordnung ist.

Mit «Der geheime Garten» kommt nun schon die elfte Verfilmung des gleichnamigen Kinderromans von Francis Hodgson Burnett (1849-1924) ins Kino. Aus ihrer Feder stammen die ebenfalls beliebten Bücher „Der kleine Lord“ und „Eine kleine Prinzessin“, die ebenfalls mehrfach für Film und Fernsehen adaptiert wurden. «Der geheime Garten» bleibt aber gewiss ihr persönlichster Roman, weil die Britin damit eigene Erfahrungen mit dem Verlust von Menschen (sie verlor innerhalb von vier Jahren zuerst ihren ältesten Sohn und anschließend ihren zweiten Ehemann) verarbeitete. So beginnt auch die Neuverfilmung mit verstörenden Bildern wie man sie eher aus Gruselfilmen kennt.

Vernachlässigte Kinder und traumatisierte Erwachsene
In Indien bricht zur britischen Kolonialzeit der die Cholera aus. Die kleine Mary Lennox (Dixie Egerickx) hält sich im Haus versteckt - allein und verwahrlost. Denn sowohl ihre Eltern als auch ihr Kindermädchen sind gestorben. Schließlich wird sie aufgefunden und zu ihrem Onkel Mr. Archibald Craven (Colin Firth) nach England zurückgeschickt. Doch auch hier findet die Zehnjährige in dem alten düsteren Anwesen keinen Trost. Ihr Onkel hat wie schon ihre einst depressive Mutter keine Zeit für sie. Er trauert noch immer um seine verstorbene Frau.



So bleibt Mary nichts anderes übrig, als draußen zu spielen. Sie trifft auf einen scheinbar herrenlosen Hund, der sie an einem verwunschenen Ort führt. Ein verwilderter Garten, in dem alles und lebt. Wenig später trifft das Mädchen auf zwei Jungen. Dickon (Amir Wilson) ist der aufgeweckte Bruder der Dienstmagd, Colin (Edan Hayhurst) der arrogante und ans Bett gefesselte Sohn ihres griesgrämigen Onkels. Zumindest glaubt Colin, gehbehindert zu sein und bald sterben zu müssen. Mary will ihn vom Gegenteil überzeugen. Mit Dicksons Hilfe schafft sie es, den Knaben in den geheimen Garten zu entführen, wo alle Wunden geheilt werden können. Zu dritt verbringen sie dort wunderbare Stunden. Bis sie wieder mit der Gefühlskälte der Erwachsenen konfrontiert werden.

Entführung ins Paradies
Es hat schon seinen Grund, warum «Der geheime Garten» erst eine Altersfreigabe von sechs Jahren bekommen hat, und selbst Sechsjährige, die ein bisschen sensibler sind, müssen womöglich ihren ganzen Mut zusammennehmen, um die erste halbe Stunde durchzustehen. Denn die Protagonistin wird in einem apathischen Zustand gezeigt, mit verschmutzten Kleidern und den letzten Rest alter Suppe aus einer Untertasse trinkend. Und auch der scheinbar sichere Ort ihres Onkels wirkt alles andere als harmonisch. Ein gespenstisches altes Gemäuer mit langen Fluren und dunklen Tapeten.

Das Stimmungsbild ist perfekt, könnte auf kleine Kinder aber auch verstörend wirken. Und doch hat Regisseur Marc Munden damit alles richtig gemacht, um sein Publikum von Anfang an in den Bann zu ziehen und als krassen Gegenentwurf dann den geheimen Garten einzuführen, wo alles blüht, wo die Welt noch in Ordnung zu sein scheint. Dass er sich dabei modernster Computeranimation bedient, wenn etwa die Schmetterlinge auf Marys Kleidchen lebendig erscheinen, ist dabei absolut legitim und keinesfalls kitschig. Das entspricht den heutigen Sehgewohnheiten, um dem Publikum das Gefühl zu geben, in ein Paradies entführt worden zu sein, in dem Fiktion und Wirklichkeit verschmelzen. So gesehen ist dies wohl die bisher gelungenste Verfilmung von «Der geheime Garten», weil er dem Zauber der Originalgeschichte am nächsten kommt ohne dabei deren Tragik mit dem psychologischen Unterbau aus den Augen zu verlieren.



Ein Herz für Kinder
Angeführt wird die Besetzungsliste von Oscar-Preisträger Colin Firth («The King‘s Speech»), gefolgt von der kinderfilmerprobten Julie Walters («Harry Potter») in der Rolle der strengen Haushälterin Mrs. Medlock. Beide sind aber professionell genug, das Feld den drei jungen Hauptdarstellern zu überlassen, die sich die Sympathien der Zuschauer aber erst erspielen müssen. Bis auf Amir Wilson als bodenständiger Naturbursche Dickon aus ärmeren Verhältnissen werden sowohl Dixie Egerickx als Mary als auch Edan Hayhurst als Colin als verwöhnte Gören aus besseren Hause eingeführt, die noch viel zu lernen haben, um sich ihren eigenen Gefühlen zu nähern. Mit ihrer überzeugend gespielten Verwandlung erobern sie dann schließlich die Herzen der Zuschauer.

Fazit: Wundersame Naturbilder, liebenswürdige Figuren und eine märchenhafte Story ergeben einen Familienfilm, der verzaubert.

«Der geheime Garten» ist seit Donnerstag, den 15. Oktober 2020, in den Kinos zu sehen.
15.10.2020 11:56 Uhr  •  Markus Tschiedert Kurz-URL: qmde.de/121986