Popcorn und Rollenwechsel: Abspann

Die Musik steigert ihre Intensität und Lautstärke. Wir wissen, dass es zu Ende geht. Ein letzter Satz, ein letzter Blick, eine letzte Geste der Figur, mit der wir aus der Geschichte aussteigen. Schnitt. Abspann.

Die jungen Liebenden stehen sich gegenüber. Sie schenkt ihm ein verschmitztes Lächeln. Sie fallen sich küssend in die Arme. Romantische Musik schwillt an. Ist dies das Ende? Nein, ist es nicht, denn wir gleiten rüber in das salzige Nass der Karibik und betrachten den verwegenen Szenendieb des Filmes, wie er sein geliebtes Schiff erblickt und an Bord gezogen wird. Frühere Wegbegleiter und frische Bekannte begrüßen ihn dreckig grinsend – ja, sie haben ihn zuvor zurückgelassen, aber ein Sinneswandel führte zu einer Wiedervereinigung.

Der trunkene, unberechenbare Pirat mit dem chaotischen Anschein und dem mehrere Schritte vorausdenkenden, dessen ungeachtet äußerst improvisationsfähigen Verstand bekommt den Kapitänsmantel umgehängt. Er geht ans Steuer. Sein Gestus wandelt sich. Bis hier hin strahlte seine Körperlichkeit eine unablässige Schlacksigkeit aus. Eine torkelnd-trunkene Armut an Kontrolle – teils gespielt, um das Gegenüber zu täuschen. Teils wahrlich sein Inneres widerspiegelnd, da er unvollständig war. Das Symbol seiner Träume, seiner Freiheit und seines ethischen Kompasses war ihm entrissen. Nun sind sie wiedervereint. Er liebkost mit einer Handbewegung das Steuerrad, sein Rückgrat begradigt sich, sein ulkiger, verschmitzter Blick weicht einer abenteuerlichen, verwegenen Zielstrebigkeit.

Er fordert, an den Horizont gebracht zu werden. Wirft einen prüfenden Blick auf den Kompass, der ihn sonst wo hinführt, jedoch nicht nach Norden. Ein Kinderlied zweckentfremdend trällert er: "Trinkt aus, Piraten, yo-ho!", lässt den Kompass zuschnappen, während er einen bestimmten Blick vorwärts wirft, die Musik im Hintergrund triumphal an Intensität gewinnt und der Schnitt zum Abspann erfolgt. Perfekt aufeinander abgestimmt, die Musik explodiert hin ins Fach der ikonischen Epik, als der erste Name die Leinwand erfüllt. He's a Pirate!

Schnitt.

Wenn gemeinhin über einen Abspann gesprochen wird, dann, weil er aus dem Rahmen fällt und nicht einfach in Weiß auf Schwarz die Beteiligten auflistet. Wir reden über riesige Plottwists, die während des Abspanns auf uns einprasseln, wie es die Marvel Studios gelegentlich einfädeln. Wir reden über wunderschöne Zeichnungen, die non-verbal den Plot fortführen, wie in «WALL·E». Wir reden über eingeblendete Pannen vom Dreh, wie Jackie-Chan-Stuntunfälle oder Versprecher der «Bullyparade»-Gang. Oder über besonders bunte, kreative Abspannsequenzen, etwa, wenn in «The LEGO Movie 2» ein hoch ironischer Song ausgerechnet den Abspann als das Beste am Film feiert, während Klötzchen krude Nachbildungen vergangener Szenen kreieren. Oder wenn in «Ghostbusters – Answer the Call» Chris Hemsworth völlig losgelöst tanzt, während knallige Farben das restliche Bild erfüllen.

Wir reden ebenso darüber, wenn rührende finale Szenen unter den Abspann gelegt werden – wie etwa bei «Call Me By Your Name». Oder aber, wenn in «Der Herr der Ringe» mittelaltereske Zeichnungen die Stimmung des Films weiterleben lassen – und der Credit für Harvey und Bob Weinstein sowie eine arme Seele, die sich die Tafel mit den Beiden teilen muss, von der Zeichnung eines Mannes begleitet wird, der mit einer Lanze gigantische, widerliche Trolle abwehrt.

Und doch: Es benötigt keine bewegten Bilder, keine schrillen Einfälle (wie Fake-Credits, die sich in Filmen des Trios Zucker-Abrahams-Zucker während des Abspanns verstecken), um einen Abspann zu kreieren, der sich einbrennt. Ich kann das bezeugen: Die Abspannerinnerungen, zu denen ich am häufigsten zurückkehre, die Augenblicke beim Abspannanschauen, die mich am meisten bewegt haben, stammen von eher handelsüblichen oder gar durch und durch normalen End-Credits-Sequenzen. Denn es ist nicht der Abspann für sich genommen, der dieses Sitzen im Dunkeln im Kino vor vornehmlich schwarz erfüllter Leinwand zu güldenen Momenten meines Filmliebhaberdaseins geformt hat. Sondern die Sekunden davor. Es ist nicht das Wie? des Abspanns, sondern sein Wann?, das unbezahlbaren Wert in sich trägt.

Schnitt.

Der Publikumsliebling wurde von einem Monstrum verschluckt. Die Heldin, deren Wandlung wir eng verfolgen, hockt von Schuldgefühlen angenagt und aufgrund von Gewissensfrost schüttelnd in einer morbiden Holzhütte im Halbsumpf, sich an einen metallenen Krug klammernd. Ihr Geliebter, ihr Verlobter, ihr Beinahe-wäre-da-nicht-dieser-kapitalistische-Großkotz-von-Schurke-aufgetaucht-um-die-Zeremonie-zu-stören-Gatte … Er schenkt ihr ein von Bedauern verwässertes Lächeln und stimmt in den Nachruf des aufgrund eines Missverständnisses als ernstzunehmenden Nebenbuhler aufgefassten Verschiedenen mit ein. Wenn er könnte, würde er ihn zurückholen.

Entgegen seiner Erwartung ruft die gerade als Gastgeberin der Trauergemeinde agierende, schwarz bezahnte Voodoo-Hexe aus, dass es eine Möglichkeit gibt. Es sei möglich, den einmaligen Publikumsliebling mit den Dreadlocks und den Goldzähnen zurückzuholen. Dazu müsse man lediglich bis zum Untertitel der bereits im Dreh befindlichen Fortsetzung und darüber hinaus – und sich einem Kapitän anschließen, der sich in diesen Gewässern auskennt.

Schwere, selbstbewusste Stiefelstapfer stapfen die morschen Holztreppen hinunter. Die verwunderte Brigade an mit allen salzigen Meereswassern gewaschenen Helden, Antihelden, Opportunisten und einer moralisch über ihre Grenzen hinaus gesegelten Frau blickt gleichermaßen verwundert wie ehrfürchtig wie verdattert drein.

Umschnitt. Der Schurke des ersten Films fragt, was aus seinem Schiff geworden ist, während sein geliebter Affe auf seine Schulter springt. Er beißt genüsslich in einen extrem saftigen, grünen Apfel, dessen Saft sogleich in seinen struppigen Kinnbart sifft. Der Fiesling lacht hämisch als die Musik anschwillt. Moment, der ist doch im ersten Teil gestorben?! Verwirrung im Kinosaal. Man spürt eine elektrische Energie im Publikum. Alle sind aufgeregt und voller Spannung. Müssten wir nicht eigentlich erschrocken sein, dass der Bösewicht aus dem Erstling zurück ist? Nein, wir sind auf freudig-aufgeregte Weise voller Fragezeichen, schließlich war dieser Schurke ein extrem genüsslicher Teil seines Films – und nach dem deprimierenden Ausgang des Finalkampfes in dieser Fortsetzung ist diese perfekt inszenierte, mit diebischer Freude gespielte, unerwartete Rückkehr ein froh stimmendes Geschenk!

Harter Schnitt auf Schwarz. Noch im selben Atemzug: Die Musik explodiert, als weiße Buchstaben auf schwarzem Grund den Beginn des Abspanns markieren und das allseits beliebte, epochale, dynamische Erkennungsmotiv aus dem ersten Film aus den Boxen zimmert, das während dieses Films bisher bewusst nur spärlich eingesetzt wurde. Es ist ein beschwingter Nachklapp dieses pompösen, monumentalen und dramatischen Filmabschlusses, und dieses Mal mündet dieses piratige Motiv in ein sich panisch steigerndes, dunkleres Thema aus dem gerade endenden Film. Ein echtes Kinoerlebnis, ganz ohne die Art bunter, bewegter Bilder, für die wir ins Lichtspielhaus eingekehrt sind.

Schnitt.

Es benötigt keine bunten Bilder, keine verrückten visuellen Einfälle, kein inhaltliches Bonusmaterial, um einen Abspann unsterblich zu machen. Für immer und ewig in mein Gedächtnis zu brennen und ihn tief, tief in meinem Herzen zu verankern. Das Timing ist es. Die erzählerische und musikalische Dramaturgie, wann die Handlung endet und der Abspann auf die Leinwand brettert. Das ist es, was einem Film einen finalen, großen, unvergleichlichen Schuss Energie verleiht, dem ich mich nicht entziehen kann.

In exakt der Sekunde auf Schwarz blenden oder schneiden, in der es eine unbändige Wirkkraft hat und die Möglichkeit, ungeheuerlich nachzuhallen – kunsthandwerklich und emotional. Eine Punktlandung. Die ideale Ausfahrt nehmen. Ein logistisches Muss verwandelt sich zum schreiberisch gekonnt eingesetzten, kalligrafisch eindrucksvoll und bildschön gestalteten Ausrufezeichen. Oder Fragezeichen. Oder zum famos gewählten Dreipunkt. Es ist eine rare, besondere Kunst, die ich nicht noch energischer, passionierter feiern könnte. Und wenn dann auch noch die instrumentale Suite mitreißend geschrieben ist und genau die in mir befindlichen Emotionen kunstvoller in den Saal hinaus schallen lässt, als ich es selbst in Gedanken benennen könnte, oder aber der verwendete Song vortrefflich ausgesucht ist … Dann ist das Kunstwerk vollauf perfekt abgerundet.

Schnitt.

Der trunkene, einmalige, verwegene und vergnügliche Pirat sitzt in einer winzigen Schaluppe und summt vor sich hin. Er studiert eine sagenumwobene Karte, die ihm den Weg zu mystischen Orten und Artefakten weisen soll, darunter zu der Quelle der ewigen Jugend. Sein Kompass, der nicht nach Norden zeigt, sondern dorthin, wo sich jenes befindet, was er am meisten begehrt auf der Welt, weist hinter den seetüchtigen Plünderer und Abenteurer. Es ist eine Flasche mit erquickendem Rum, die er sogleich entkorkt, auf dass er sich den alkoholischen Trunk in die Kehle kippen kann. Sein zuvor kurz verworrenes Gesicht klart auf. Gen Horizont blickend, als sich die Kompassnadel neu ausrichtet. Dieser einst von einer Sache besessene Mantel- und Dreispitzträger ist losgelöst. Improvisiert mehr denn je in seinem Leben voll der Improvisation. Setzt sich neue Ziele, empfindet neue Begierden, gibt sich mit einem Umstand zufrieden, der ihn einst nicht zufrieden gestellt hätte.

Die Reise, die er bis hier hin tätigte, veränderte ihn, ließ ihn sich über sich hinauswachsen – und die jüngsten Entwicklungen drängten ihn dazu, sich in ein neues Boot zu setzen und ohne Altlasten dorthin zu steuern, wo er sich nunmehr Erfüllung verspricht. Und die Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass sein Name durch die Ewigkeit hallen wird. Auf eine Weise, die er kontrolliert. Und nicht wieder einmal angetrieben durch jemanden, der ihm schaden würde.

Die Kamera gleitet hinfort, so dass wir die Schaluppe im Wellengang vorantreiben sehen, hinein in einen atemberaubenden, malerischen Sonnenuntergang, während das verspielt erklingende Seemannsmotiv und dieses hinein gestreute, ominös-verzauberte Thema Platz machen. Platz für eben jene vorantreibenden Streicher, die schon den Abschluss der beiden Vorgängerfilme andeuteten und die Gänsehaut entstehen lassen, da wir konditioniert sind. Konditioniert, zu wissen, dass nun das immens populäre, kraftvolle Erkennungsthema ertönen wird, das sich in unsere Gehirne eingebrannt und in den vergangenen fast drei Stunden extrem rar gemacht hat. Eine Belohnung naht. Die Katharsis, triumphal diese Musik vernehmen zu dürfen. Jetzt. Gleich. Im Bruchstück eines Atemzugs.

Friedvolle, ein Weiterlaufen der liebgewonnenen Welt suggerierende Schwarzblende. Die Musik explodiert und der erste Name erfüllt die Leinwand. Wir baden uns in diesen großartigen Klängen, saugen die Assoziationen auf, die sie wecken, fühlen uns frei wie der Pirat, der niemanden mehr jagt, der von niemandem mehr gejagt wird, und der keinem Rechenschaft schuldig ist. Bis wieder diese aufpeitschenden Streicher herbei geprescht kommen, die stets so gekonnt in die Reprise einer anderen Erkennungsmelodie überleiten.

Aber dieses Mal bereiten sie keine panische Abenteuerdüsternis vor, sondern sorgen für eine klangdramatische Fallhöhe, die sich schlagartig auflösen sollte. Siegesgewisse, melodische Abenteuerromantik liegt in der akustischen Luft, als stünden wir in dieser Schaluppe, mit weit ausgebreiteten Armen, die Meeresluft einsaugend und von den kommenden, neuen Horizonten und den noch ausstehenden, schöneren Unternehmungen träumend. Auch diese Melodie plätschert aus, ehe sich ein verzücktes, verspieltes Motiv und ein großes, vom ganzen Herzen kommendes Thema voller Emotion überkreuzen, sich steigern und steigern und dann friedvoll zusammenlaufen. Vereinen. Kurze Ruhepause, ein Piratenwalzer des Widerstands geleitet uns in ausgedehnter Macht und Pracht durch den weiteren Abspann. Die Königin wurde vom König entführt / Am Ende siegte er / Es ist vollbracht / Er hat die Macht / Uns gehört das Meer. Yo-ho, zugleich. Hisst die Flagge, zeigt sie! Soll'n sie / Uns verdammen / Doch wir sterben nie!

Aufblende.

Hach. Diese Reihe. Diese verfluchte Reihe voller mieser, fieser Piraten. Sie liegt mir mehr am Herzen als jede andere Filmreihe, komme da Ebbe, Windflaute, Sturm, Malstrom oder eine Zerteilung des Ozeans, die eine tiefe Furche bis an den Meeresgrund hinterlässt. Die Gründe dafür zu erläutern, das würde gar ewig dauern, bedenkt man, wie viele Bits und Bytes ich hier im Internet nun schon allein dafür in Beschlag genommen habe, um zu imitieren, um zu signalisieren, um zu verbalisieren, wie sehr mich diese Augenblicke mitnehmen, in denen die ersten drei Teile ihre Kernerzählung beenden, um den Abspann beginnen zu lassen.

Und auch wenn die anderen bislang veröffentlichten Teile ebenfalls gute "Rausschmeißer" haben … Ein pointiertes, freudetrunkenes Zähnegrinsen mit verspielt zuckenden Augenbrauen in Großaufnahme. Eine konventionelle Happy-End-Abwandlung des Endes von Teil drei, die jedoch rund strukturiert auf ein herzzusammensetzendes Wiedersehen folgt … So wird doch klar: Dieses unverwechselbare Gespür für ein prononciertes Einsetzen des Abspanns, das ist nicht etwa das cineastische Geburtsrecht bestimmter Filmsagen. Sondern eine künstlerische Sensibilität, ein handschriftlicher Zug und eine audiovisuell-erzählerische Vorliebe, die man halt hat und auslebt, oder eben nicht. Weshalb es nicht verwundert, dass bestimmte Regietalente wiederholt solche grandiosen "Rausschmeißer" kreieren.

Christopher Nolan beispielsweise. Unvergessen bleibt es, wie ich im Kino sitze. In der Vorpremiere. Auf die Riesenleinwand starrend. Spürend, wie alle um mich herum von Gary Oldmans Rede an den Rand des Kinosessels gezogen werden, umhüllt von den zerbrechlich-widersprüchlichen, intensiven Gefühlen, die James Newton Howard und Hans Zimmer mit ihrer Musik auslösen. Und dann, als Batman in die Ferne düst, Gary Oldman den Filmtitel rezitiert, die volle Kraft des Score entfesselt wird und in exakt der richtigen Millisekunde die Einblendung erscheint: «The Dark Knight»! Gleißendweiß auf Nachtschwarz! Große Filmmagie, unterstrichen durch das Wissen, wann exakt der richtige Augenblick angelangt ist, das Ende bekannt zu geben.

Oder «Inception». Oh, «Inception». Nolan und Zimmer, ihr vermaledeiten Füchse, wie ihr uns rauslockt, nach vorne lehnend, beobachtend, beobachtend, den Atem anhaltend, in Gedanken auf die Leinwand einredend, dass sie nun den Akt der Gravitation zeigen soll, nach dem wir uns sehnen. Das emotional aufgeladene musikalische Leitthema hat uns am Schlafittchen. Einschneidend hoher, schriller Klang. Schnitt. Stille. Schwarz. Filmtitel. Anderes Leitthema. Ein Saal voller Menschen, die in den verschiedensten Interjektionen damit ringen, was in ihrem Herzen gerade vorgeht.

Doch all meinen bisherigen Beispielen zum Trotz, so ist es nicht den Blockbustern vorbehalten, mit einem wuchtigen "Rausschmeißer" zu enden. Auch Regisseure, die mit weitaus weniger Geld hantieren als die Verantwortlichen von filmischen Mammutprojekten, vermögen es, dem Publikum den Abspann mit einer derartigen Wucht ins Gesicht zu schleudern, dass dieser Sekundenbruchteil allein schon große Kunst ist. Eine große Kunst, die rückwirkend das bereits Gezeigte emporhebt, so wie ein Tusch im richtigen Moment nicht nur wachrüttelt, sondern die Erinnerungen an das Davor neu ordnet – griffiger, findiger. Wie das Spiegelbild eines formidablen Auftakts, der Erwartungen schürt und Neugier weckt. Solch ein prägnanter Abspannbeginn bestätigt die positiven Wahrnehmungen, intensiviert die Glanzmomente, ist die schnitttechnische Anleitung dazu, die zuvor gesammelten Eindrücke nun destilliert erneut in uns aufzunehmen, statt den Film verdunsten zu lassen. Dänemarks Enfant terrible Lars von Trier ist beispielsweise ganz groß darin. Kein Wunder – "dem Publikum ins Gesicht schleudern" ist seit jeher zu etwa 70 Prozent sein Modus Operandi.

Orgelmusik. Ein Splitscreen teilt das Bild in drei gleichgroße Teile.

Wir erleben einen Cantus firmus. Unsere Protagonistin lässt sich verwöhnen, liebkosen und leidenschaftlich dominieren, während wohlig wogend im Dreiklang Bach georgelt wird und gelegentliche Aufnahmen aus Fauna, Kunst und Kirche vertiefende Assoziationen zu den erotischen Eskapaden der jungen Frau wecken. Abrupt springt mit einem tosend-eiskalten Klang die Play-Taste des Kassettendecks hervor und die Musik stoppt. Das angestrengte, energische Stöhnen ihres Lovers hallt unerwidert durch den Raum, während sie unfokussiert, mit müde-regungslosem Blick ins Leere starrt. Er fragt sie, was los sei, woraufhin sie sich wie gelähmt ihm zudreht, ihm einen verstörten, schlaffen Kuss gibt und ihre Gesichtsregung zerfällt: "Ich kann nichts fühlen", ächzt sie. Er richtet ihren Kopf mit liebenden, firmen Händen auf, sie schaut ihn kränklich-ratlos an. "Ich kann nichts fühlen", statuiert sie. Die Protagonistin schüttelt ihren Kopf, die Feststellung sackt, sie seufzt entgeistert: "Ich kann nichts fühlen." Das Bild blendet langsam auf Schwarz, als er sie mit Nachdruck küsst und sein Körper wieder zu stoßen beginnt. Vollkommen verzweifelt seufzt, keucht, jammert, wimmert sie: "Ich kann nichts fühlen!" Ein kümmerliches Atmen erklingt, nun, da die Leinwand vollkommen in Schwarz getaucht ist.

WUMMS! Mit dröhnender Lautstärke bummsen die Drums, metallenen Girattenklänge und der schwere Bass Rammsteins in unsere Ohren, als der Filmtitel eingeblendet wird und der Hinweis, dass Teil eins von «Nymph()maniac» beendet ist. In vollkommener Fernsehhaftigkeit peitscht Lars von Trier einen Cliffhanger in sein fieskomisches, explizites Sexdrama. Ungläubiges Lachen im Kinosaal mischt sich mit Gänsehaut und schneidender, empathischer Sorge um die junge, zierliche Nymphomanin. Wird sie wieder etwas fühlen können? Bitte, bitte lasst sie wieder etwas fühlen – ihr dauerhaft das zu nehmen, was sie erfüllt, wäre nach diesen zwei Stunden des Sympathieaufbaus selbst für einen von Trier zu harsch und herzlos. So geht ein Drama-"Rausschmeißer". Ist das feist, tolldreist und effekthaschend? Ja. Aber es ist auch fucking Trier!

Schnitt.

Nach langen, zehrenden, wortkargen, hochsymbolischen, desolaten Minuten endet der Film hoffnungslos und abrupt. Wie beendet Lars von Trier sein Epos der Unmenschlichkeit? Mit einem Abspann, durch den ein beschwingter Klassiker des R&B swingt, die Titelfigur beim Namen nennend und auffordernd, sich sonst wo hin zu scheren. Verwirrung im Saal. Ein großer Teil des Festivalpublikums schaut weiterhin entgeistert zur Leinwand, als würde das die vielen fiktiven Tode der vergangenen Stunden rückgängig machen. Ich dagegen strahle, werfe mich glücklich im Kinosessel zurück und applaudiere schalllos, um meiner aus mir platzenden Freude Ausdruck zu verleihen, ohne jene zu stören, die verstört sind. Es ist ein fantastischer Abspann, die grandiose Meisterpointe in einem urkomischen Film voller starker Pointen. Wenn man denn auf derselben Comedyfrequenz liegt wie der umstrittene Regisseur.

Womit ich hier endlich konkret einen Abspann lobend herausstelle. Denn für eine Abspann-Kolumne enthält das hier doch unfassbar viele Absätze über die Sekunden davor. Über die Hinleitung hin zum Abspann und deren Wirkung. Über den Bruchteil einer Sekunde, die für den Augenaufschlag nötig ist, in der das laufende Bild der ersten Texttafel des Abspanns weicht. Und dann all dieser Nachhall, der sich daraus ergibt und über den klanglich denkwürdig untermalten Abspann ergießt.

Doch wenn es furios gemacht ist, trifft es halt genau meinen Geschmack. Und Gore Verbinski ist ein Meister darin, meinen Geschmack zu treffen. Vor allem, jedoch nicht nur mit seiner piratigen Trilogie. All seine Filme reizen mich. Sein derzeit jüngster Film «A Cure for Wellness» läuft obendrein wundervoll spitz auf den Abspann zu. Der überarbeitete junge Mann lässt die brennende Bald-Ruine hinter sich, in der er gequält wurde. Er wird von seinem Ex-Chef angeraunzt und strampelt mit dem klapprigen Fahrrad ins Ungewisse davon. In die Freiheit, womöglich? Definitiv aber auf die Kamera hinzu. Benjamin Wallfisch lässt seine Streicher einen Akkord mit Tuschwirkung spielen, während sich das Gesicht des Protagonisten zur breit grinsenden Fratze verzieht. Schnitt auf Schwarz. Abspann. Die Musik bauscht sich neu auf, in Form eines tumultartigen, dramatischen, wahnhaften Walzers mit befreiender Konnotation.

Ich würde mitwalzern wollen. Doch ich muss das Thema wechseln. Ganz gleich, wie unschlagbar Gore in meinen Augen darin ist, in den Abspann überzuleiten. So sollte diese Abspann-Kolumne wenigstens noch ganz konkret auf einen Abspann eingehen. Und ich habe dafür genau den richtigen Kandidaten. Der steht völlig außer Frage. Seit Anbeginn meiner freiberuflichen Tätigkeit als Schreiberling gab es keinen neuen Abspann, der mir (frei davon, in welcher Filmmillisekunde genau er denn nun eingesetzt hat) so präsent in Erinnerung geblieben ist. Es ist ein überaus schön gestalteter, geradezu majestätischer Abspann, ein beneidenswert heldenhafter Abschluss.

Schnitt. Schwarzbild. Zeithüpfer.

Es ist der 23. April 2019. Mittag in Düsseldorf. Einen Tag vor Deutschlandstart von «Avengers || Endgame». Etwa ein Dutzend Stunden vor Ende des Embargos. Keiner der Anwesenden weiß, was geschehen wird. Ich sitze in einer der vordersten Reihen des größten, besten Saals des UFAs. Ganz gleich, was andere Stimmen später sagen sollten. Das ist Kino. Die vollen Soundmöglichkeiten der Lautsprecher belastende Action. Die riesige Leinwand bis ins kleinste Detail füllende Bilder. Und das erst im letzten Fünftel. Zuvor: Charaktergesteuerte, feinfühlige Momente der Verlustverarbeitung. Kreative, liebevolle, statt arrogant-kokettierende Momente der humorigen Selbstreferenz. Übermenschliche Figuren, die übermäßig menscheln. Und kleine Emotionen, ganz groß gemacht. Wer zu oberflächlich schaut, sieht darin Effekte und Überzeichnungen, die nichts mit sich bringen. Der geübte Blick sieht Bände, die dort gesprochen werden. Etwa wenn die verbissene Dauerversagerin einem großmauligen, somit seine Unsicherheit verbergenden Experiment mit dem Äußeren eines Waschbären tröstend die Hand reicht. Oder Stunden später im erfüllt tänzelnden, abschließenden Kuss zwischen dem, der sich stets beruflich verausgabte, und der, der er einen zwischenmenschlichen, privaten Gefallen schuldete. Und dann: Aus und vorbei. Der Abspann beginnt. Ich reflektiere die vergangenen Stunden.

Es ist eine Pressevorführung. Also einer dieser Kinobesuche, bei denen üblicherweise alle versuchen, mit ihren Emotionen hinter dem Berg zu halten. Aus falscher Scham. Aus Spießigkeit. Oder um der Konkurrenz nicht die Möglichkeit zu geben, einem in die Karten zu blicken. Und doch. «Avengers || Endgame» gelang es, die Anwesenden aus der Deckung zu locken. Noch bevor der Filmtitel eingeblendet wurde. Und es steigerte sich. Und es steigerte sich. Und es steigerte sich. Das ist die Kraft eines Langzeitprojekts, das ebenso sehr von langer Hand geplant war, wie es vermochte, behutsam auf den Publikumsgeschmack einzugehen und zu improvisieren. Der Saal riecht nach Tränen. Der Überwältigung. Der Rührung. Vor dem Erzählten. Vor dem geleisteten Geschick darin, all dies so einzufädeln, wie es eingefädelt wurde. Trotz aller nur erdenklicher Hinter-den-Kulissen-Hindernisse auf dem Weg bis hier hin.

Der Abspann lenkt meine Aufmerksamkeit wieder voll auf sich. Die Formalität der bis hier hin verzerrten Abspannbilder verändert sich, die bildlichen Erinnerungen an Bisher werden anders, prominenter eingesetzt. Die Musik eines auf Hochtouren laufenden Alan Silvestri steigert sich in mühevoll-berechtigt erarbeitetes Pathos. Eine Best-of-Montage erstrahlt, Jeremy Renners Silhouette wird von diesen Erinnerungen flankiert und ehrfürchtig in Szene gesetzt, ebenso wie seine Unterschrift. Und dann die von Scarlett Johansson. Und die von Mark Ruffalo. Chris Hemsworth. Die Musik nimmt förmlich erneut Anlauf. Für Chris Evans. Und für Robert Downey Junior. Tusch. Und um mich herum sind alle erneut von ihren Emotionen überwältigt.

Ich verspüre Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, das unvorbereitet, unvoreingenommen, ungespoilert, als Einer der Ersten erleben zu dürfen. Diesen Film, diesen Abschluss einer außergewöhnlichen Filmsaga. Und diese ungewöhnliche Situation: Ein Abspann ringt der Presse Tränen ab. Das ist die Macht des großen, überdimensional erzählten Kinos. Eine Macht, die ich mit meiner Kolumne niemals imitieren könnte. Geschweige denn rekreieren. Das müssen wir Filmkritisierenden einfach einsehen – auch der mit dem größten Herzblut verfasste Kommentar wird schwerlich an das heranreichen, was so manche Filmschaffende allein damit erreichen, dass Laufbänder oder Tafeln voller Namen und Berufe erscheinen. Aber ganz gleich, wie obskur die Ehrfurcht vor dem brillant eingeschobenen und klanglich exzellenten Abspann sein mag – ich kann ihm hier wenigstens huldigen. Und wenn es das Letzte ist, was ich an diesem digitalen Ort und an dieser unternehmerischen Stelle tue!

Schnitt. Schwarz. Stille.

Aufblende. Eine Schreibstube bei Nacht.

Die Abgabe naht. Der weiße Bildschirm starrt den Autor an. Fordernd. Das digitale Pendant zum blanken, letzten Absatz eines bereits beschrifteten Blattes Papier in der Schreibmaschine scheint zu wissen, was nun geschieht. Es sogar zu wollen.

Das Unvermeidliche hinauszögernd und zugleich neckisch das Beenden eines über zehn Jahre langen Kapitels zelebrierend, schmeißt der Autor die Soundboxen an. Verspielte Hans-Zimmer-Musik klimpert vor sich hin. In einer trunken-torkelnden Rhythmik erfüllt eine spitzbübische Melodie den Raum. Der Autor schüttet sich noch ein Glas ein und befeuchtet die Kehle, erfrischt den nächsten Schritt antizipierend. Er stellt sich vor den Laptop und fährt seine Zeigefinger aus. Der linke senkt sich tänzelnd hinab zur Feststelltaste. Die Musik nimmt eine selbstverliebte, bewusste Form der Anspannung ein. Die Erwartung auf den letzten Knall schürend, bevor die Szene gemeinsam mit der nächsten Handlung enden und Raum für das Danach machen kann. Auf dass der Score dann frei dreht. Frivol-selbstironisch verziehen sich die Mundwinkel des Autoren gen oben, als der rechte Zeigefinger nach unten schnellt. Der Autor hackt auf die Tastatur ein. Auf dem Bildschirm springt es auf. Sein letztes Zeichen.

29.09.2020 17:30 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/121670