«The King of Staten Island» - Selbstfindung eines Losers

Mit seiner Tragikomödie «The King of Staten Island» bleibt Regisseur und Autor Judd Apatow seiner seit vielen Jahren eingeschlagenen Linie treu und inszeniert eine sympathische Losergeschichte direkt aus dem Alltag der Hauptfigur.

«The King of Staten Island»

  • Kinostart: 30. Juli 2020 (Kino), 31. Juli 2020 (Leihstream)
  • Laufzeit: 136 Min.
  • FSK: 12
  • Genre: Tragikomödie
  • Kamera: Robert Elswit
  • Musik: Michael Andrews
  • Buch: Judd Apatow, Pete Davidson, Dave Sirus
  • Regie: Judd Apatow
  • Darsteller: Pete Davidson, Bel Powley, Bill Burr, Marisa Tomei, Ricky Velez, Maude Apatow
  • OT: The King of Staten Island (USA 2020)
Es gibt nur wenige Filmemacher, denen sich so etwas wie eine Drehbuchhandschrift attestieren lässt. Die Werke von Regievirtuosen wie Gaspar Noé («Climax»), Nicolas Winding Refn («The Neon Demon») oder die auf Romanen von Nicholas Sparks basierenden Filme («The Choice») erkennt man zwar häufig an ihren optischen Reizen, doch wiederkehrende Erzählmotive gibt es in der Regel selten; auch, weil sich Kreative ja schnell dem Vorwurf ausgesetzt sehen, immer nur das gleiche zu machen. Bei Regisseur, Autor und Produzent Judd Apatow («Dating Queen») hat es allerdings funktioniert. Seine Filme – selbst jene, die er nur produziert hat – erkennt man in der Regel ohne Blick auf die Crew-Liste. Denn der sich viel an eigenen Erfahrungen bedienende Auteur, auch «The King of Staten Island» ist in Teilen biographisch von seinem Hauptdarsteller geprägt, filmt in seinen zumeist mit üppiger Lauflänge ausgestatteten Filmen vor allem den mit Hindernissen gespickten Alltag ganz normaler Personen ab und versetzt ihn gleichermaßen mit einer Handvoll derbem Humor als auch jeder Menge Herz.

Nun könnte man argumentieren, dass das nur bedingt etwas Besonderes ist. Schließlich verfahren einige Kollegen Apatows ganz ähnlich. Richard Linklater („Bernadette“) beispielsweise oder auch Noah Baumbach («Marriage Story»). Doch während beide eher im Arthouse-Sektor fischen, bedient Apatow ganz klar ein Mainstreampublikum. Auch sein neuestes Werk «The King of Staten Island» macht da keine Ausnahme und ist durch und durch ein Apatow-Film. Vor allem im positiven Sinne.



Slacker aus Leidenschaft


Scott (Pete Davidson) war erst sieben Jahre alt, als sein Vater bei einem Einsatz als Feuerwehrmann ums Leben gekommen ist. Inzwischen ist er Mitte Zwanzig und hat im Leben nicht viel erreicht – sein Traum von einer Karriere als Tattoo-Künstler scheint in weiter Ferne zu liegen. Während seine ambitionierte jüngere Schwester (Maude Apatow) aufs College geht, wohnt Scott noch immer bei seiner überarbeiteten Mutter (Marisa Tomei). Sein Alltag besteht aus dem Konsum nicht immer legaler Substanzen, Abhängen mit seinen ebenso verpeilten Freunden und gelegentlichen Sex-Dates mit seiner Kindheitsfreundin Kelsey (Bel Powley). Doch als seine Mutter beginnt, einen großmäuligen Feuerwehrmann (Bill Burr) zu daten, löst das eine Kette von Ereignissen aus, die Scott zwingen, sich seiner Vergangenheit zu stellen und sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Normalerweise besetzt Apatow in seinen Filmen vornehmlich Publikumslieblinge. In «Dating Queen» verliebten sich Amy Schumer und Bill Hader, in «Immer Ärger mit 40» mussten sich Paul Rudd und Leslie Mann mit den Folgen des Älterwerdens herumschlagen und «Beim ersten Mal» begleitete Katherine Heigl und Seth Rogen beim unverhofften Babyglück. Stand-Up-Komiker und Schauspieler Pete Davidson, der bereits in «Dating Queen» einen kleinen Gastauftritt hatte, fällt nur bedingt in die Kategorie „Everybody’s Darling“ und eckt mit seiner derben Comedy regelmäßig beim Publikum an, stand aufgrund seiner vorlauten Klappe sogar schon im Zentrum des ein oder anderen Skandals. Wo nun die Äußerung naheliegt, Apatow würde in «The King of Staten Island» zumindest von seinen Besetzungsgewohnheiten abrücken, so wird man doch recht schnell eines Besseren belehrt, sobald man auch nur ein paar Minuten der Tragikomödie gesehen hat. Die Geschichte um einen erfolglosen Loser, der sein Leben seit dem frühen Unfalltod seines Vaters nie auf die Reihe gekriegt hat und sich in der Selbstmitleidsrolle mittlerweile ganz gut gefällt, ließe sich anhand eines klassischen Hollywood-Beaus kaum glaubhaft erzählen. Es benötigt schon einen Charakter, dem man seine lustlose Slacker-Attitüde abkauft, dem man aber vor allem seinen steten Wandel hin zum ganz normal sein Tagwerk verrichtenden Zeitgenossen abnimmt, ohne daraus direkt eine klischeehafte Selbstfindungs- und Aufstiegsstory zu machen.

Mit der tief in seiner Handschrift verwurzelten Art, liebevoll ironisch aber auch mit der notwendigen Ernsthaftigkeit auf seine Figuren zu blicken, lässt uns Apatow in die Seele dieser innerlich eigentlich todtraurigen Person schauen. Am Ende gönnt man selbst einer zu Beginn so unausstehlichen Figur wie Scott, dass sich sein Leben endlich zum Guten wenden möge.

Mehr Zeit führt zu mehr Authentizität


Dass diese Entwicklung nie klischeehaft verläuft, dafür sorgt Apatow, indem er seine anderen handwerklichen Skills anwendet. Gerade in der ersten Hälfte ist «The King of Staten Island» gern mal grobschlächtige Komödie. Ohne den nicht selten angewandten Fäkalhumor zwar, doch Szenen, in denen Scott einen Neunjährigen (!) tätowiert oder sich exzessiv mit seiner Schwester zofft, bloß weil er auf ihrer Abschlussfeier keinen Anzug tragen möchte, leben – auch im wahrsten Sinne des Wortes – von ihrer Lautstärke und nicht gerade von detaillierten Figurenanalysen. Auch Apatows Beobachtungsgabe im Hinblick auf die Zeichnung ganz normaler Menschen, wie es sie direkt in unserer Nachbarschaft geben könnte, kommt in «The King of Staten Island» zum Tragen. Insbesondere in den Dialogen wirken Scott und seine am Weltgeschehen eher desinteressierten Freunde in ihrer Interaktion intuitiv, die gesprochenen Worte improvisiert. Mit dem was gesagt wird, rücken sich Scott, seine Freundin Kelsey und der Rest der Clique hin und wieder sogar ins White-Trash-Milieu; ein interessanter, wenngleich nicht immer ganz authentisch wirkender Kontrast zur eigentlich recht wohlsituierten Lebenswelt der Young Adults.

Doch selbst hierfür findet Judd Apatow eine bildliche und gleichermaßen erzählerisch authentische Entsprechung, die das Ganze in der buchstäblich aller letzten Sekunde geraderückt. Beginnt «The King of Staten Island» mit einem Bild, in dem nur die Augen des Protagonisten im Rückspiegel seines Wagens zu sehen sind, der Blick also auf das Wesentliche beschränkt ist, endet der Film mit einer Einstellung, in der Scott mit weit geöffneten Augen die Skyline New Yorks erblickt. Im Laufe des Films haben sich seine Augen geöffnet, ist er aus der selbst gewählten Isolation ausgebrochen.

Ob man dafür nun einmal mehr zweieinhalb Stunden benötigt, um den Charakterwandel des Protagonisten zu erzählen, lassen wir einmal dahingestellt. Ein ums andere Mal wird Apatow seine Vorliebe für lange Einstellungen (Kamera: Robert Elswit, «Suburbicon») und immer ein wenig zu ausführliche Dialoge zum Verhängnis; vielleicht auch deshalb, weil ihm bei der Postproduktion des Films weitestgehend freie Hand gelassen wird. In «The King of Staten Island» funktioniert dieser Stil allerdings besser als bei manch anderen Apatow-Produktionen, denn um nicht in die Klischee- und Stereotypenfalle zu tappen, benötigen die Macher eben ein paar Szenen zur Abstufung mehr, um den Charakterwandel nicht zu sehr zu forcieren. Die lange Phase vor dem Kennenlernen zwischen Scotts Mutter (Marisa Tomei ist in der Rolle kaum wiederzuerkennen) und ihrem neuen Love Interest lässt das Publikum ausführlich an der ambivalenten Welt(sicht) der jungen Erwachsenen teilhaben, wenn hier ihre Träume, Ängste und Sehnsüchte offenbart werden.

Anschließend folgt Scotts Auseinandersetzung damit, dass er schon bald das heimische „Hotel Mama“ verlassen und auf eigenen Beinen stehen muss. Etwas, was ihn trotz seines Alters von 24 Jahren vor eine schier unlösbare Aufgabe stellt. Welche glaubhaften, nie allzu konstruierten Hürden er dabei zu nehmen hat, bildet «The King of Staten Island» mit gleichermaßen viel Witz wie Tragik ab und ignoriert dabei nicht die naive Streitbarkeit des Hauptcharakters. Doch ganz langsam beginnt man, ihm sein Glück zu gönnen. Und am Ende wird Apatow den Wunsch seines Publikums mit einer zuckersüßen Understatement-Szene befriedigen.

Fazit


Regisseur und Autor Judd Apatow macht mit «The King of Staten Island» das, was er am besten kann und wirft einen authentischen, gleichermaßen tragischen wie komischen Blick auf einen zunächst unausstehlichen, später jedoch immer liebenswürdigeren Loser, den Pete Davidson mit absoluter Hingabe verkörpert. Ausgerechnet dank der üppigen Laufzeit von zweieinhalb Stunden umgeht Apatow dabei viele Klischees.

«The King of Staten Island» ist ab dem 30. Juli im Kino zu sehen und als Leihstream erhältlich.
29.07.2020 13:00 Uhr  •  Antje Wessels Kurz-URL: qmde.de/120205