Wo ist das nächste «House of Cards»?

In Corona-Zeiten nimmt er noch mehr an Fahrt auf: der Kampf der Streaming-Dienste um Kunden. Netflix, Amazon, Disney+ und Co. sind auf der Suche nach dem nächsten eigenen Aushängeschild. Ein Start-Up hilft bei dieser Suche mit.

Zehn Millionen neue Kunden. Zehn Millionen Menschen haben sich im Zeitraum April bis Juni dafür entschieden, ein Netflix-Abo abzuschließen. Die Zahl nannte der Streaming-Riese in der vergangenen Woche und erfreute damit seine Aktionäre: Diese zehn Millionen Neukunden bedeuten mehr als das Dreifache des üblichen Kundengewinns in diesem Zeitraum – Corona sei Dank. Andere Streaming-Anbieter auf dem Markt werden ähnliche Zugewinne verzeichnet haben. Den Umstieg vom klassischen TV zu Streaming hätten die pandemiebedingten Lockdows massiv beschleunigt, so Netflix in seiner aktuellen Pressemitteilung. Gleichzeitig aber rechnet das Unternehmen mit einem starken Abflachen der Neukunden in näherer Zukunft. Kein Wunder, wird der Markt doch immer umkämpfter und größer. Disney+ ist eingeschlagen wie eine Bombe und hat alle Erwartungen übertroffen. Andere kleinere Dienste laufen ebenfalls stark, beispielsweise CBS All Access in den USA. Lediglich AppleTV+ hinkt den Erwartungen hinterher, kaufte zuletzt fremden Content hinzu, um das eigene Angebot attraktiver zu machen.

„Wir sind mit denselben Unsicherheiten konfrontiert, mit denen jeder konfrontiert ist“, so Netflix-Chef Reed Hastings jüngst angesichts der Corona-Pandemie. Auch Hastings weiß, dass am Ende der beste Content den Ausschlag dafür geben wird, wer das Rennen um die Kunden gewinnt. Und hier hat Netflix noch einen ziemlichen Vorsprung gegenüber der Konkurrenz.

Die Corona-bedingten Produktionsverzögerungen werden insbesondere 2021 zu spüren sein. Umso wichtiger wird, wer bis dahin neue Hit-Serien präsentieren kann. Kurz gesagt: Die Streaming-Anbieter sind auf der Suche nach einem neuen Aushängeschild, nach einer Serie, die die Aufmerksamkeit auf das eigene Angebot lenkt. In den Anfangszeiten von Netflix erfüllte «House of Cards» diese Rolle, das einerseits mit einem Hollywood-Star auftrumpfte und gleichzeitig eine komplexe Story bot, die die Kritiker begeisterte – und damit Aufsehen in den Medien erregte. Auch wenn «House of Cards» damit nicht die erfolgreichste Netflix-Serie wurde, so trug sie massiv zum Aufstieg und zur Popularität von Netflix bei. Was könnte also dieses nächste Aushängeschild sein? Und wo wird es zu sehen sein?

Netflix und Co: Ein Start-Up misst den Enthusiasmus-Faktor


Tatsächlich ist das Problem, dass es angesichts des wachsenden Marktes immer schwerer wird, solche potenziellen Hits vorherzusagen oder einzuschätzen: Das Angebot wird unübersehbarer und diverser, damit aber auch die Auswahl für die Zuschauer. Es wird also per se schon unwahrscheinlicher, dass ein bestimmter Anbieter einen kollektiven Hit landet, über den jeder spricht. Gleichzeitig wächst die Sättigung bei den Zuschauern, deren Sehverhalten so immer unberechenbarer wird. Der größte Streaming-Hit war 2020 bislang die Dokumentation «Tiger King» – völlig überraschend.

Das junge Start-Up Parrot Analytics hat sich ebenfalls die Frage nach dem Streaming-Aushängeschild gestellt. Und behauptet, dass es besser messen kann, was eine Show für einen Streaming-Anbieter bedeutet: Die Firma misst nicht die Zuschauerzahlen oder Abrufe wie beispielsweise Nielsen, sondern kalkuliert den Enthusiasmus der Zuschauer für das Format – und damit, wie viele potenzielle Neukunden ein Anbieter mit dieser Show gewinnen kann. Dies wird über sogenannte Signale gemessen, beispielsweise Google-Anfragen, Facebook-Likes, Wikipedia-Traffic oder illegale Downloads. Parrot behauptet so, dass «The Witcher» eine extrem erfolgreiche Serie für Netflix war – über das bislang bekannte Maß hinaus. Allzeit-Hit bleibt aktuell immer noch «Game of Thrones», gefolgt von «13 Reasons Why», dessen letzte Staffel jüngst erschienen ist. Wie wertvoll «Stranger Things» für Netflix ist, zeigt Parrot aber auch auf: Die 80er-Serie steht auf deren aktueller Rangliste auf Platz vier.

Was wird also der nächste Streaming-Hit? Möglicherweise die «Sandman»-Serie, eine Netflix-Adaption einer der beeindruckendsten Comicreihen aller Zeiten. Möglicherweise die extrem teure «Herr der Ringe» von Amazon Prime. Möglicherweise das SciFi-Drama «Raised By Wolves» von Ridley Scott, das beim neuen Streaming-Service von HBO startet. Möglicherweise das Hulu-Drama «Y: The Last Man» über den letzten lebenden Menschen auf der Erde.

Wahrscheinlich aber wird keine dieser Serien der nächste große Hit. Viel eher wird es eine, die wir nicht auf der Rechnung haben. Und eigentlich ist das auch ganz gut so: Wie interessant wäre eine Serienwelt noch, in der wir genau vorhersehen könnten, was wir sehen wollen?
20.07.2020 09:00 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/119965