«Vivarium»: Der Hirnwindungen zersetzende Horror namens Häuslichkeit

Unerwartet häuslich geworden: In «Vivarium» betreten Imogen Poots und Jesse Eisenberg eine Plansiedlung, die sie nicht mehr loslässt.

Filmfacts «Vivarium»

  • Regie: Lorcan Finnegan
  • Drehbuch: Garret Shanley
  • Cast: Imogen Poots, Jesse Eisenberg, Jonathan Aris, Eanna Hardwicke, Senan Jennings
  • Produktion: Brendan McCarthy, John McDonnell
  • Musik: Kristian Eidnes Andersen
  • Kamera: MacGregor
  • Schnitt: Tony Cranstoun
  • Laufzeit: 98 Minuten
  • FSK: ab 16 Jahren
Für viele Menschen ist es der große Traum vom Familienidyll: Die Person fürs Leben finden, sich im Vorort niederlassen, ein Eigenheim kaufen, ein Kind in die Welt setzen, ein Elternteil bleibt zuhause und der andere geht einer geregelten, sicheren, keine unvorhergesehenen Aufregungen zulassenden Arbeit nach. Und sie waren harmonisch bis an ihr Lebensende …

Doch wie gestaltet sich die klassische Vorstellung des trauten Heimes für jene, die keine Schwäche für die althergebrachte Einfamilienromantik haben? Der irische Regisseur Lorcan Finnegan schafft mit «Vivarium» einen verstörend-poetischen, bewusst plakativen und prägnanten Einblick darin, wie die Vorstellung des Daseins als Vorstadtfamilie zuweilen auf jene wirkt, die dem nicht sehnsuchtsvoll entgegenfiebern:

Regisseur Finnegan und Drehbuchautor Garret Shanley erzählen von der Grundschullehrerin Gemma (Imogen Poots) und dem Hausmeister/Gärtner Tom (Jesse Eisenberg), deren Beziehung ernst genug geworden ist, dass sie spontan beschließen, aus Jux ein Haus in der akribisch gepflegten und detailgenau geplanten Bausiedlung Yonder zu besichtigen. Ihr beunruhigend-sonderbarer, steifer Makler Martin (Jonathan Aris) lässt sie für einen kurzen Augenblick allein in dem säuberlich, akkurat und unpersönlich eingerichteten Einfamilienhaus – und schon sind Gemma und Tom völlig verloren. In mehrfachem Wortsinne, denn nicht nur, dass sie sich in dieser befremdlich-nichtssagenden Umgebung völlig deplatziert fühlen – sie verlieren auch ihren Orientierungssinn. Und das ist fatal, denn urplötzlich ist Martin verschwunden, so dass das junge Paar allein ist auf weiter, verlassener, geistloser Flur …



In dem Moment, in dem Gemma und Tom Yonder betreten, wird das zuvor in gräulichen, ungeschliffenen Bildern eingefangene Geschehen geordnet, ruhig … und subtil bizarr: Der Himmel über Yonder ist in ein Babyblau gehalten, auf dem symmetrisch die immergleichen, statischen, dezent an die ikonische Tapete aus dem «Toy Story»-Vorspann erinnernden Wolken platziert sind. Hauswände sind in einem sanften, zugleich giftig-unnatürlichen Minzgrün gehalten und einfach alles in dieser Umgebung, durch die ein klinisch-gedämpfter Grundton hallt, ist schmerzlich-akkurat arrangiert, als wären Gemma und Tom in ein Wirklichkeit gewordenes, uraltes Werbeprospekt mit kühlen, pseudo-utopischen Kleinstadtvorstellungen getreten.

Und die kahlgeschlagene, freudlose Prospektwelt zeigt alsbald ihre Auswirkung auf Gemma und Tom: Einmal nicht richtig aufgepasst, da wird aus dem sich schnippisch neckenden, jungen Pärchen, das verspielt miteinander umgeht und eine gewisse Prise Ironie in seinen Gesprächen hegt, eine Vorstadtfamilie nach konservativem Vorbild: Raspelkurzer Rasen, aufgeräumter Garten, spießiger Zaun, der sie von den (nicht vorhandenen) Nachbarn abgrenzt und eine seelenlose Einrichtung, so dass das eigene Fertighaus nicht nur außen, sondern auch innen nicht von den umliegenden zu unterscheiden ist.

Obendrein verschwindet jegliches Zeitgefühl: Der Tag-Nacht-Zyklus in Yonder ist genauso undurchsichtig wie Nachbarschaft und Tagesablauf eintönig sind – Tage und Wochen verschwimmen für dieses unbeabsichtigt an die Spießigkeit verlorene Paar, was Finnegan und Cutter Tony Cranstoun auf filmischer Ebene durch einen bildlich assoziativen, inhaltliche Orientierungspunkte auflösenden Schnitt verdeutlichen. Tom und Gemma mögen zwar zunächst bis zum (fast) letzten Atem darum ringen, den Ausweg aus Yonder zu finden, dennoch sifft Yonders konservative Heile-Welt-Ödnis in ihr Inneres, ohne dass sie sich rechtzeitig dagegen wehren und ihren anfänglichen Rapport miteinander bewahren könnten.

Eben noch scherzten Tom und Gemma unverbindlich über ihre Zukunftspläne, schlagartig haben sie ein Kind. Und spätestens damit verschieben sich, ohne dass sich das Paar bewusst und selbstkritisch damit auseinandersetzen würde, in der pedantischen, gestrigen Welt der Vorstadtsiedlung Yonder ihre Rollendynamiken: Zu Beginn des Films lernen wir Gemma als engagierte, liebevolle Lehrerin kennen, während Tom die Grünanlagen ihrer Schule pflegt. Beide haben also seriöse, handfeste Berufe, bei denen wohl niemand über mangelnde, dauerhafte Perspektiven mäkeln würde. Doch es steht ebenso wenig außer Frage, dass Gemmas Tätigkeit gesellschaftlich stärker geachtet ist – Lehrkörper stehen auf der sozialen Hackordnung gemeinhin über den Hausmeistern und Gärtnern, die Schulen in Schuss halten.

Dass sich Gemma, sobald sie und Tom im sterilen Labyrinth namens Yonder gefangen sind, seufzend, doch ohne größeres Zaudern bereiterklärt, das unverhofft erhaltene Kind zu hegen, pflegen und zu erziehen, ist brillant-ökonomisches Erzählen seitens Finnegan und Shanley: Es ist geradezu intuitiv, so plausibel ist es, dass sich die fürsorgende Lehrerin für diese Aufgabe aufopfert, während ihr Lebensgefährte Tom, der schon seit jeher mit den Händen arbeitet und im Dreck wühlt, beschließt, tagtäglich vor die Tür zu gehen, um dort zu ackern und zu ackern.

Aber genauso vermeintlich selbstredend, wie sich speziell in diesem Fall Lehrerin Gemma in die Rolle der Hausfrau drängen lässt, und der handwerklich begabte Tom vollauf die Position des körperlich arbeitenden, abends erschöpft und genervt heimkehrenden Ehemanns und Arbeiters einnimmt, dient dieser Wandel als gleißender, thematischer Argumentationspunkt: Kaum verändern sich die Vorzeichen, unter denen das Protagonisten-Pärchen in «Vivarium» seinen Tätigkeiten nachgeht, verschieben sich auch die Wertigkeiten.

Im vermeintlich behüteten Idyll des Daseins als altbackene Modellfamilie übt Gemma nicht weiter eine selbstgewählte, sie erfüllende Aufgabe aus, sondern lässt sich eine Pflicht auferlegen, gegen die sie aufgrund einer humanistischen Ader nur spärlich rebelliert. Tom derweil, der einst konstruktiv ein Grundstück instand gehalten hat, geht nunmehr stumpf und repetitiv einer ermattenden Tätigkeit nach – und hält sich für den wichtigeren, größere Opfer bringenden Teil in diesem Familienkonstrukt. Weil er ja "wirklich" was machen würde, muss er dafür doch das Haus verlassen, mit Werkzeug hantieren und seine Muskeln strapazieren …

Das verinnerlichen Tom und Gemma dermaßen, dass sich ihr Miteinander gemeinhin zu einem nicht weiter engagierten, disharmonischen Nebeneinander verschiebt, in dem Toms Flamme für Gemma erlischt, er sie nicht weiter auf Augenhöhe betrachtet, und Gemma Tom nur noch zähneknirschend hinnimmt. Eisenberg und Poots spielen dieses schleichende Entschwinden der Individualität ihrer Figuren und das Erkalten sowie Erhärten des Umgangs zwischen Tom und Gemma auf fesselnde, erschaudernde Weise – es erzeugt riesiges Unbehagen, wie diese Zwei an Vitalität verlieren und auf ihre Funktion reduziert werden.

Allein schon durch die überdeutliche, beiläufig-unheimliche Stilisierung und mysteriös-soghafte Inszenierung unterstreicht Finnegan, dass «Vivarium» nicht jedermanns Alltag abbildet. Von der überzogen-allegorischen Handlung ganz zu schweigen. Selbstredend muss es nicht bei allen Paaren so verlaufen wie hier abgebildet – wohl aber skizziert «Vivarium», wie schnell gewisse Mechanismen greifen und den Menschen als Individuum verschlingen können. Und eben dieser hier sezierte, in seiner Belanglosigkeit so verstörende Entwurf des geordneten Familienlebens dient als Abbildung dessen, wie sich das Idyll mancher zum zermürbenden Albtraum jener verzerrt, die nicht danach streben. Oder auch, was mit manchen geschieht, die sich kopflos in dieses Familienleben stürzen …


Die am stärksten treibende Kraft dahinter, wie Tom und Gemma ihre Persönlichkeit verlieren sowie ihre individuelle Antriebskraft, ist jedoch nicht ihre monotone Umgebung, das abgeschottete Leben ohne Freunde oder ihr immer gleicher Tagesablauf, sondern das bereits erwähnte Kind: Ein unerwünscht vor ihrem Haus abgelegter Junge, den sie wie ihren eigenen Spross großziehen sollen, damit sie befreit werden, und der sich als ihnen alsbald (sinnbildlich wie wortwörtlich) über den Kopf wachsende Plage erweist.

Zunächst von Senan Jennings, später von Eanna Hardwicke markerschütternd gespielt, ist der Junge arrogant, neunmalklug, stets entweder ohrenbetäubend laut oder unheilvoll leise, und selbstredend unersättlich. Er ist irritierend fremdartig oder schauerlich akkurat darin, seine Eltern zu imitieren – aber er fühlt sich nie "richtig" an, so dass die fürchterliche Frage im Raum steht, ob Tom und Gemma etwas falsch gemacht haben oder der Junge von Natur aus unverbesserlich ist.

Mutmaßlich völlig unschuldig an der Misere, so treibt er die ungewollten Eltern dennoch unentwegt zur Verzweiflung. Sei es, indem er Medien konsumiert, die sich ihnen auf verstörende Weise nicht erschließen, sich quälend lang gegen jegliche Lektion wehrt, Anstand zu lernen, oder seine Eltern durch einen abrupten, zu diesem Zeitpunkt nicht weiter erhofften Abnabelungsprozess und ihre somit verbundene Unklarheit verängstigt.

All dies mündet in ein psychedelisch-psychotisches Finale, in dem die nüchternen, konturlosen Bilder von Kameramann MacGregor verzerren, die antiseptischen Pastelltöne verdrecken und die aufdringlich-banale Musik von Kristian Eidnes Andersen (Sound-Verantwortlicher bei «Dancer in the Dark») schlagartig ins Schmerzvoll-Verlorene umkippt. Anders gesagt: Der wahre Albtraum in «Vivarium» wartet, wenn sich der zuvor gezeigte, nervenaufreibende Schrecken dem vermeintlichen Ende entgegen neigt und sich offenbart, wie wenig danach folgt.

Zurück bleibt dennoch eine nagende Frage. Die Frage danach, wozu wir das alles überhaupt machen. Und die Feststellung, dass die manch eine Person beruhigende Antwort, dass wir leben, damit wir arbeiten und einen anderen Menschen versorgen können, der später dieselbe Funktion in diesem Kreislauf übernimmt, manch andere Seele nachhaltig zu deprimieren versteht. Was denen eine beruhigende, bestimmte Aufgabe, ist jenen eine demoralisierende, Selbstverwirklichung zersetzende Ziellosigkeit. «Vivarium»: Ein Kreislauf als Irrgarten voller Sackgassen.

«Vivarium» ist ab dem 12. Juni 2020 auf DVD und Blu-ray sowie als digitaler Bezahltitel erhältlich.
10.06.2020 17:17 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/118973