Ryan Murphys Once Upon a Time in «Hollywood»

Wieso sollte Ryan Murphy nicht das tun dürfen, was ein umjubelter Filmemacher bereits perfektioniert hat? In seiner Spoiler-Kritik erklärt Serientäter Sidney Schering, weshalb er die Netflix-Miniserie «Hollywood» stark findet.

Executive Producer hinter «Hollywood»

  • Ryan Murphy
  • Ian Brennan
  • Alexis Martin Woodall
  • Janet Mock
  • Eric Kovtun
  • Ned Martel
  • Darren Criss
  • Jim Parsons
  • David Corenswet
Heute kennen wir «Inglourious Basterds» als einen der größten kommerziellen Erfolge Quentin Tarantinos, als von der Kritik laut gefeierten Geniestreich und mehrfach preisgekrönte Revision des Zweiten Weltkrieges. Doch lange, lange Zeit kannten Quentin-Tarantino-Fans «Inglourious Basterds» bloß als "diesen Film, von dem er schon lange redet, aber sicher eh nie macht". Nach langer Zeit der «Inglourious Basterds»-Ankündigungen gab es jedoch zum Glück diese eine frustrierende Nacht:

Tarantino hat sich nach eigenen Angaben in eine Sackgasse geschrieben – er sah keine Möglichkeit für ein zufriedenstellendes Ende seines Drehbuchs. Naja, eine Option gab es, aber er traute sich zunächst nicht, sie zu wählen: «Inglourious Basterds» müsste in den verfrühten Tod Adolf Hitlers münden. Also machte Tarantino der von ihm selbst verbreiteten Legende nach eine Notiz, die ihn dazu aufforderte, den Mistkerl umzulegen. Er heftete die Notiz an das Drehbuch und schlief eine Nacht darüber. Am nächsten Morgen beendete er «Inglourious Basterds» genau so, wie das Memo es befahl. Und sein Meisterwerk war geboren.

Hätte, wäre, wenn, Licht, Kamera und … Action!


Ein Beispiel für einen gelungenen Film mit revisionistischem Effekt ...

Zugleich war somit ein Mini-Trend geboren: Trittbrettfahrer entwarfen seither ihre eigenen revisionistischen Geschichten. Das narrative Konzept existierte durchaus schon vor «Inglourious Basterds», ist aber in Bewegtbildmedien seither häufiger vertreten als zuvor. Aber meist blieb es bei verlogener Tarantino-Nachahmerei, die letztlich nur auf den "Schau mal, wie subversiv ich bin!"-Schockeffekt hinaus läuft. Tarantino selbst dagegen wiederholte seinen «Inglourious Basterds»-Trick stets zu einem erfüllenden Zweck, der zum Nachdenken über die Wirklichkeit anregt und zugleich ein erlösendes Gefühl innerhalb seiner filmischen Narrative erregt.

Ryan Murphy tunkte bisher immer wieder mal ein paar Zehen in diese Gewässer – seine Flaggschiffserie «American Horror Story» entwarf nicht nur zahlreiche Schreckensgeschichten, sondern skizzierte im Vorbeigehen auch ein eigenes Universum, in dem so manche reale Ereignisse eigene Twists verliehen bekommen haben. Aber erst jetzt wagt er sich vollauf in dieses Metier – es war wohl eine Frage der Zeit, bis es dazu kommt: Murphy hat es sich nämlich auf die Fahnen geschrieben, seine nunmehr erlangte Macht im TV-Gewerbe einzusetzen, um bestehende Grenzen niederzureißen. Und so, wie er zuletzt gegen bisherige Besetzungsungleichheiten steuerte, entwirft er nun sogar ein gegen den realen Strich gebürstetes Nachkriegs-Hollywood:

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hoffen viele Veteranen, dass sie in Hollywood als Schauspieler den Durchbruch schaffen und so ein schöneres Leben führen können. Einer von ihnen ist Jack Castello (David Corenswet), ein simpel gestrickter, aber wohlmeinender, groß gewachsener Mann, der eines Abends von Ernest "Ernie" West (Dylan McDermott) angesprochen wird. Der Tankstellenwart ist zugleich Zuhälter und sieht in Jack eine geeignete Ergänzung für seine Crew. Doch als sich herausstellt, dass Ernie von seinen Jungs erwartet, dass sie Männer und Frauen gleichermaßen bedienen, bekommt Jack kalte Füße. Da er jedoch dringend Geld braucht, um für seine Frau Henrietta (Maude Apatow) und die auf dem Weg befindlichen Zwillinge sorgen zu können, fasst Jack einen Beschluss: Er sucht einfach jemanden, der für ihn die männlichen Kunden übernimmt.

So stößt Jack auf Archie Coleman (Jeremy Pope), einen schwarzen Drehbuchautor, der davon träumt, einen Massenerfolg auf die Leinwand zu bringen – und der sich bis dahin mit dem Verkauf sexueller Dienste über Wasser hält. Der Zufall wird diese Träumer mit der heimlichen Führungsriege der Ace Studios bekanntmachen: Richard "Dick" Samuels (Joe Mantello), Ellen Kincaid (Holland Taylor) und Avis Amberg (Patti LuPone), die Gattin des aufbrausenden Studiobosses (Rob Reiner). Das ist perfektes Timing, denn der aufstrebende Regisseur Raymond Ainsley (Darren Criss) will die Regeln Hollywoods neu schreiben und die Geschichten auf die Leinwand bringen, die sonst niemand auf die Leinwand bringt.

So will er der von Hollywood fallen gelassenen Legende Anna May Wong (Michelle Krusiec) zu einem Oscar verhelfen. Seine Freundin Camille Washington (Laura Harrier) wird dagegen trotz ihres großen Talents nur als lächerliches Hausmädchen besetzt – eine Rolle, mit der das unterschätzte Reichentöchterchen Claire Wood (Samara Weaving) bereits glücklich wäre. Also stellt sie sich hinter den steifen Schönling Roy Fitzgerald (Jake Picking), in der Hoffnung, mit ihm im Schlepptau endlich Rollen zu bekommen. Roy wiederum wird vom schmierigen Agenten Henry Wilson (Jim Parsons) unterstützt – und heftig ausgenutzt …

Ähnlich wie Tarantinos Geschichtsrevisionen beginnt diese von Ryan Murphy und Ian Brennan erschaffene Netflix-Miniserie nah an unserer Wirklichkeit, wobei sich schon einige fiktionalisierte Veränderungen bemerkbar machen. Reale Persönlichkeiten interagieren mit Menschen, die quasi Verschmelzungen historischer oder völlig frei erfundene Figuren sind, oder sie reagieren in einem scheinbar beiläufigen Moment anders als in Wirklichkeit, womit quasi ein Schmetterlingseffekt in Gang gesetzt wird.

Dieser erste Akt von «Hollywood» ist von Passion für Hollywoods Schöpfungen durchzogen, macht aber zugleich sehr deutlich, wie desillusionierend die goldene Studio-Ära war, blickt man erst einmal hinter die Kulissen. Vor allem Starmacher Henry Wilson zeigt sich als widerliche, machtmissbrauchende Person, und sein Schützling Roy Fitzgerald stellt sich daher als extrem bemitleidenswertes Würstchen heraus, von dem man nie erwarten würde, dass ein Superstar wie Rock Hudson aus ihm werden sollte. Und es ist überdeutlich, welch ungerechte Karten die herzensguten Sympathieträger Camille, Raymond und Archie zugeteilt bekommen haben.

Aber nach und nach verdreht «Hollywood» die filmhistorische Wirklichkeit, so dass schrittweise die Frage aufkommt, wie weit Murphy und Brennan ihre Revision treiben. Dieser Wechsel wird davon begleitet, dass die Figuren aus ihrer anfänglichen Schematik ausbrechen dürfen und der Cast mehr und mehr glänzen darf. Vor allem strahlen «Spider-Man: Homecoming»-Mimin Laura Harrier und die vornehmlich auf der Bühne beheimateten Jeremy Pope und Joe Mantello – doch der gesamte Cast trifft den tonalen Nagel auf den Kopf und balanciert klassische "Größer als das reale Leben"-Hollywood-Art und zerbrechlichere Zwischentöne sowie träumerische Hoffnung gekonnt aus.

Mit einem großen Ensemble an pointiert entworfenen Figuren, deren Wege sich dramaturgisch ausgefeilt kreuzen, einer innigen und aufrichtig vertretenen sowie unterhaltsam verpackten Aussage, punktgenau eingesetzten Brüller-Dialogen sowie dramatischen, menschlichen Untiefen vereint «Hollywood» alle Stärken Ryan Murphys. Und zugleich lässt die Serie die schlimmsten Tendenzen des Serienmachers hinter sich – wie etwa haarsträubende, effekthascherische Twists, die keinerlei inhaltliche Vorbereitung erfahren haben, grelle Karikaturen, die Murphys progressive Ader untergraben, oder ein zweites Drittel, in der die Serienstaffel uninspiriert auf der Stelle tritt. «Hollywood» nimmt sich sieben Folgen Zeit und hätte nicht eine Folge mehr oder weniger brauchen dürfen.

«Hollywood» ist nicht zwingend das Beste, was Ryan Murphy je auf die Fernsehwelt losgelassen hat, dafür sind die «American Horror Story»-Staffeln «Asylum», «Freaks» und «Cult» in ihrem glühend umgesetzten Wahnwitz einfach zu berauschend. Jedoch war Murphy wohl nie souveräner, zielstrebiger und konzentrierter – und vor allem hat er seine Position nie kunstvoller vertreten.

Ryan Murphys hoffnungsvolle Hollywood-Mär


Ähnlich wie Quentin Tarantinos «Once Upon a Time in Hollywood», ist auch «Hollywood» von einer komplexen Beziehung zu seinem zeitlichen Setting durchzogen. Zwar vereinte Quentin Tarantino seine Wehmut, seine Sehnsucht nach Revision und seine Verehrung für damalige Charaktertypen und Ästhetiken mit magnetischerem Flair und fabelhafteren Wortwechseln. Dennoch teilen sich beide Projekte den Hang dazu, betrogene Persönlichkeiten und ungerechtfertigt beschnittene Karrieren genauso zu zelebrieren wie die Looks und die Erzählweisen, die die jeweils dargestellte Ära ausgemacht haben.

Ryan Murphy und Ian Brennan revidieren nicht nur Rock Hudsons Vita, sondern spicken «Hollywood» zudem mit Anspielungen und fiktionalisierten Gastauftritten solcher Persönlichkeiten wie Anna May Wong, Hattie McDaniel, Tallulah Bankhead, George Cukor, Noël Coward und vielen weiteren, die weder vom echten Hollywood noch von der Film-Geschichtsschreibung bekommen haben, was ihnen zustand. Ästhetisch hinkt «Hollywood» seinen Ambitionen und Passionen indes etwas hinterher, selbst wenn der grundlegende Gedanke überdeutlich bleibt: Sarah Evelyns Kostüme sind ein Traum und einige der Sets sind bildschöne, detailverliebte Rekreationen des Stils der güldenen Hollywood-Ära, genauso wie die Instrumentalmusik beschwingt die 40er wieder aufleben lässt. Doch die Lichtsetzung gerät zumeist etwas schal, genauso wie die Kameraführung oftmals diesen besonderen Funken vermissen lässt, der nötig wäre, um uns wahlweise tarantinoesk mitten in die Schauplätze zu transportieren oder im «Hail, Caesar!»-Stil das Flair eines vergangenen Kinojahrzehnts zu rekreieren. Allein bei schummrigen Kinos und eleganten Bars wird das Optimum rausgeholt.

Aber die Erzählweise und -haltung wird dafür vollauf dem Anspruch dieser Miniserie gerecht: Murphy und Brennan verneigen sich nicht nur vor Idolen und unbesungenen, zuweilen tragischen Heldinnen und Helden von einst, sondern erschaffen eine Miniserie, deren verträumter "Alles ist möglich!"-Optimismus direkt aus dem Nachkriegs-Hollywood gefallen ist. Bloß, dass diese Serie nicht schon wieder von der weißen Farmerstochter erzählt, die zum Star wird, oder davon, wie eine Bande harmloser, blasser Träumer durch eine Show ein Waisenhaus, ein Kloster oder das örtliche Theater rettet. «Hollywood» wendet die Dramaturgie solcher Filme mit heutigem politischem Selbstbewusstsein auf die Leute an, die damals ausgeschlossen wurden – und erzählt ein altes Hollywood-Märchen über Menschen, die es schon in den 1940ern-Jahren in Los Angeles gab, jedoch erst jetzt Repräsentation erfahren.

So, wie Tarantino schon in mehreren Filmen die Historie umgeschrieben hat, malt sich nun Ryan Murphy aus: Was, wenn ein paar Jahrzehnte früher sozial- und medienpolitischen Durchbrüche erreicht worden wären? Umgesetzt wird es mit Atmosphäre, stimmig geschriebenen Charakterbögen und einer ebenso nostalgischen wie geschichtskritischen Haltung, was eine berückende Mischung ergibt.

Es ist eine Mischung, die auch längst nicht so "hohl" oder "naiv" ist, wie manche Verrisse dieser Serie es darstellen. Immer wieder wird in «Hollywood» deutlich, dass der reale Verlauf der Dinge nicht allein aufgrund schlechter Menschen so gekommen ist, sondern auch, weil wohlmeinende Menschen nicht zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort waren, Wege versperrt wurden und es Unmengen an Dilemmata gab. Das macht «Hollywood» zu einer seriellen Wunscherfüllung – und dennoch längst nicht zu leicht zu schluckendem Fluff.

Neben kleineren und größeren figurenbezogenen dramatischen Schnörkeln ist es vor allem der Weltschmerz-Faktor, der «Hollywood» Tiefe verleiht: Durch die ganzen Hürden, die unsere Hauptfiguren nehmen, die ganzen historischen Durchbrüche, die in der Serienrealität vorgezogen werden, verdeutlicht «Hollywood» ebenso beiläufig wie nachdrücklich, wie viele Türen in der Realität viel zu lange verschlossen waren oder gar noch immer verschlossen sind – und wie viele Rock Hudsons oder Anna May Wongs im wahren Leben deutlich weniger Glück hatten als ihre Serienpendants.

Wenn «Hollywood» mit einem zukunftsgewandten, schwärmenden "The Beginning"-Schriftzug endet, ist das in der Serienwelt so gemeint, dass die Film-Revolution erst beginnt. Vor Millionen von Bildschirmen hingegen wird mit dem Ende der Serie die Auseinandersetzung mit dem gezeigten Stoff beginnen: Murphy weiß ganz genau, dass der "Second Screen" in der Netflix-Zielgruppe stets griffbereit ist. Seit die Serie veröffentlicht wurde, sind schon zahlreiche Artikel und Videos aufgetaucht, die ausführlich auf die in «Hollywood» gezeigte Ära eingehen, aufklären, wer real und wer fiktiv ist, und welche Hollywood-Hürden wann im realen Leben erst genommen wurden. Angebote, die rege wahrgenommen werden. Daher kann man «Hollywood» gar keine Geschichtsbeschönigung vorwerfen – stattdessen ist es inspirierendes Wunschdenken und zugleich will es Stein des Anstoßes dafür sein, dass sich eine neue Generation an Filmfans bildet, die die Hollywood-Historie ebenso kritisch wie interessiert aufsaugt.

Fazit: Es gibt unzählige Filme jeder erdenklichen Qualitätsstufe, die den realen Schrecken der NS-Zeit abbilden – Quentin Tarantino stellte diesem Angebot einen kreativen Befreiungsschlag gegenüber. «Hollywood» sagt sich im Fahrwasser dessen: Es gibt einige Serien und Filme, die reale Leiden nicht-weißer und nicht-heterosexueller Menschen einfangen. Doch Bewegtbilder können nicht nur zeigen was ist, sondern auch, was sein sollte.
Statt tarantinoesk eine eskapistische Alternativwelt brutal zu erkämpfen, wird sich in «Hollywood» also frei nach der Dramaturgie des güldenen Hollywood-Zeitalters eine schimmernde Traumwelt erarbeitet. Und so lässt uns diese Netflix-Miniserie mit offenen Augen träumen.

«Hollywood» ist auf Netflix abrufbar.
03.05.2020 11:23 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/118003