«Run»: Flucht nach vorne in der Sinnkrise

Zwei Ex-Partner machen gemeinsam einen Road Trip, um sich selbst zu finden. Das klingt abgedreht millenialhaft, ist aber erstaunlich geerdet und psychologisch dicht erzählt.

Cast & Crew

Produktion: DryWrite, Wild Swim und Entertainment One
Schöpferin: Vicky Jones
Darsteller: Merritt Wever, Domhnall Gleeson, Phoebe Waller-Bridge, Rich Sommer, Tamara Podemski, Archie Panjabi u.v.m.
Executive Producer: Vicky Jones, Jenny Robins, Kate Dennis, Phoebe Waller-Bridge, Emily Leo, Oliver Roskill und Lucan Toh
Irgendwann sitzt man dann also auf dem Parkplatz des örtlichen Target-Alltagskonsumtempels in einem abgewetzten Honda, die Yogamatte für den nachher anstehenden Beugen-und-Strecken-Kurs schon auf dem Beifahrersitz, während man sich am Telefon die albernen Anweisungen des stets unter Zeitdruck stehenden Ehemanns vom Leib hält. Wo um alles in der Welt bin ich in meinem Leben falsch abgebogen, dass ich hier gelandet bin?

Bei der End-Dreißigerin Ruby Richardson (Merritt Wever) stößt in diesem Moment die kurze, prägnante Textnachricht eines alten Weggefährten den Auftakt zu einem radikalen Kurswechsel an: RUN! Diese drei Buchstaben sind genug, damit Ruby (nach kurzem Reflektieren) Yoga-Matte, Ehemann und Kinder links liegen lässt, um nach New York zu fliegen und sich dort mit ihrem seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehenen Ex-Boyfriend Billy (Domhnall Gleeson) auf eine Selbstfindungstour quer durch Amerika zu begeben – so, wie sie das damals auf dem College als hypothetischen Ausweg aus dem bevorstehenden Alltagstrott beschlossen hatten.

Es wird kein sanftes Herantasten, als die Beiden in einem ausgeleierten Zug im Big Apple endlich nebeneinander sitzen. Dafür kennen sie einander zu gut, auch wenn bei ihrem letzten Aufeinandertreffen vermutlich noch die Zwillingstürme standen. Die Lebensbilanz stellt sich da ganz von selbst ein: Obwohl sie in einem anspruchsvollen Beruf arbeitet und sich davon auch Erfüllung erhofft, ist für persönliche Entfaltung kaum Raum, wenn man nebenher noch täglich durch Target und WalMart hetzen und die Kinder von Saxophonunterricht zu Fußballtraining karren muss, weil der Ehemann so egozentrisch drauf ist, dass er nicht einmal weiß, wo sich die Schule seiner Kinder überhaupt befindet.

Und Billy? Der hat seine Seele an den schnellen Dollar verkauft, hält Bullshit-Seminare über Selbstfindung, obwohl er sich selbst schon lange vergessen hat, schreibt sinnentleerte Ratgeber und zieht irgendwann einsam im Hotel die Reißleine, als seine herrische Managerin ihn in den nächsten Ausverkauf treiben will.

Dass Wegrennen keine Probleme löst, weiß auch «Run» – und ist gleichsam klug genug, die psychologische Selbstfindungsreise der Figuren angenehm auf der zweiten Ebene zu verhandeln. Dabei bleibt die Serie stets sehr dicht bei ihren Charakteren: Matthew Clarkes Kamera entgeht kaum ein beiläufiges Augenbrauenheben, und den Drehbüchern entgleitet nie ein ambivalenter Zwischenton. Beide Figuren wissen, dass der Weg das Ziel ist – und sind reflektiert genug, um zu erkennen, dass ihr Leben in der Sackgasse genau jetzt ein Ziel benötigt.

Das Hintergründige darf dabei durchwegs angenehm im Hintergrund bleiben – was so trivial klingt, ist tatsächlich ein entscheidender Schlüssel für den erzählerischen Erfolg dieses Formats: Die Autoren von «Run» kennen ihre Figuren so gut, dass sie aus ihrer Heldenreise keinen plumpen, pathetischen Erkenne-dich-selbst-Brei zimmern, sondern eine psychologisch ergebnisoffene und zwischenmenschlich warmherzige Tour, die ihnen immer neue Wahlmöglichkeiten zugesteht, anhand derer sich ihr Charakter, ihre Haltung und ihre Lebensziele offenbaren. Dieser Road Trip darf gern noch eine Weile weitergehen.

Die HBO-Serie hat noch keinen deutschen Sender gefunden.
22.04.2020 10:30 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/117707