Mit Disney+ hoch hinaus: «Free Solo»

Sie gewann 2019 den Oscar für die beste Dokumentation, nun ist «Free Solo» bei Disney+ zu sehen und entpuppt sich als weit mehr denn eine schnöde Kletterdoku.

Filmfacts: «Free Solo»

  • VÖ: Disney+
  • FSK: 6
  • Genre: Dokumentation
  • Laufzeit: 100 Min.
  • Kamera: Jimmy Chin, Clair Popkin, Mikey Schaefer
  • Musik: Marco Beltrami
  • Regie: Jimmy Chin, Elizabeth Chai Vasarhelyi
  • OT: Free Solo (USA 2018)
Eine wirklich gute Dokumentation ist in der Lage, Interesse, im besten Fall sogar Begeisterung für ein Thema zu schüren, mit dem man bislang keinerlei Berührungspunkte hatte. Damit erfüllt Jimmy Chins und Elizabeth Chai Vasarhelyis «Free Solo» schon mal sämtliche Voraussetzungen für einen potenziellen Hit in diesem so oft unterschätzten Genre, denn seien wir einmal ehrlich: Wer von uns hat denn bitte bisher den Klettersport und insbesondere dessen besonders risikoreichen Emporkömmling Free Soloing verfolgt? Der Name ist hier Programm: Free Solo wird allein ausgeübt – und mit „allein“ ist nicht bloß gemeint, dass sich die Sportler ohne Kollegen und andere Athleten in schwindelerregende Höhen begeben, sondern – und hier wird es besonders haarig – sie dabei auf jedwede Sicherung verzichten. Ergänzt man jetzt auch noch, dass die zu besteigenden Felswände in der Regel senkrecht nach oben ragen, das alles aus physikalischer Sicht also eigentlich gar nicht funktionieren dürfte, und die zu erklimmenden Berge nicht selten die 2000-Meter-Marke übersteigen, erschließt sich einem zu gleichen Teilen die ganze Faszination und der Wahnsinn hinter dem Free Climbing, mit dem sich bereits vor fünf Jahren schon die gefeierte Kletterdoku «Valley Uprising» befasste.

Damals war der hier als alleiniger Protagonist zu sehende Newcomer Alex Honnold nur in einigen wenigen Szenen zu sehen. Jimmy Chin und Elizabeth Chai Vasarhelyi widmen ihm und seinem „Projekt El Capitan“ nun einen Solofilm – und die gibt dem Begriff „atemberaubend“ eine ganz neue, wortwörtliche Bedeutung.



Sein Leben für einen Traum


Jeder Fehler, jede kleinste Unaufmerksamkeit kann den Tod bedeuten: Free-Solo-Kletterer Alex Honnold bereitet sich im Sommer 2017 auf die Erfüllung seines Lebenstraums vor. Er will den bekanntesten Felsen der Welt erklimmen, den 975 Meter hohen und fast senkrechten El Capitan im Yosemite-Nationalpark in Kalifornien. Free Solo bedeutet: im Alleingang, ohne Seil und ohne Sicherung. Die mehrfach preisgekrönte Dokumentarfilmerin Elizabeth Chai Vasarhelyi und ihr Kameramann, Profi-Bergsteiger Jimmy Chin, durften Honnold begleiten und fesseln die Zuschauer mit sensationellen Naturaufnahmen in schwindelerregenden Bildern.

Jimmy Chin und Elizabeth Vasarhelyi, die schon gemeinsam die Kletterdoku «Meru» verantworteten und mit der Materie entsprechend vertraut sind (Chin ist selbst Profikletterer), wählten für ihr Porträt des heute 33-jährigen Alex Honnold zwar die Inszenierungsform des Dokumentarfilms. Im Grunde ist ihr «Free Solo» allerdings ein Abstecher durch noch viele weitere Genres. Die natürlich einen Großteil der Laufzeit ausmachenden Kletterszenen entwickeln die Spannung eines Thrillers, obwohl sich Honnold für sein Training am El Capitan – anders als später beim finalen Aufstieg – sehr wohl von einem Kumpan absichern lässt. Doch Honnold studiert die Kletterschritte ja nicht umsonst ganz genau ein, denn nur mit einer exakten Choreographie lässt sich das Bergmonster später ohne Absicherung bezwingen. Der Weg dorthin ist gespickt mit Stürzen und Verletzungen, wenngleich es noch einmal viel spannender ist, zu beobachten, wie Honnold und sein Team für jede einzelne Schikane am „El Cap“ eine Lösung entwickeln.

Besonders beeindruckend: An einer Stelle lässt sich die vorgegebene Free-Climbing-Strecke nur dann weiterverfolgen, wenn der Kletterer entweder springt (!), oder sich mithilfe eines Karate-Kicks und einer anschließend genau eingeübten Fußabfolge und Fingerfertigkeit um die Ecke manövriert. Immer wieder scheitert Honnold an dieser Passage und bricht einen Trainingslauf vor dem eigentlichen Aufstieg am 3. Juni 2017 sogar direkt ab, weil ihm das Risiko zu groß ist. Die Anspannung bei Alex und seiner Crew sind daher auch ohne gekünstelte (Über-)Dramaturgie zu jedem Zeitpunkt nachvollzieh- und spürbar.

Psychothriller trifft Charakterdrama


Gerade dieser Druck auf den Protagonisten ist es, der «Free Solo» um eine weitere erzählerische Dimension ergänzt und immer wieder die Frage aufwirft, wie vertretbar es überhaupt ist, ein solch halsbrecherisches Manöver wie das hier beschriebene überhaupt mit der Kamera zu verfolgen. Am alles entscheidenden Tag fragt ein am Boden gebliebener Kameramann mit Tränen in den Augen seine umstehenden Kollegen, wie diese sich Alex‘ Aufstieg überhaupt ansehen können – erst recht, als dieser an der Boulder-Passage (wo er sich übrigens für den Karate-Kick entscheidet, anstatt zu springen) dem Tod nur um Haaresbreite entkommt. Diesem filmischen Dilemma, ob die Dokumentation einer echten Tragödie – schließlich könnte Alex Honnold vor den Augen der Kameraleute in die Tiefe stürzen – moralisch vertretbar ist, oder nicht, geben die Macher von «Free Solo» viel Raum, zusätzlich unterstützt von einer ergreifenden Szene, in der die Hauptfigur vom tödlichen Kletterunfall eines befreundeten Free-Solo-Akteurs erfährt.

Ohne dass es unbedingt nötig gewesen wäre, sich aber aufgrund der Tatsache, dass es nun mal genau während der Dreharbeiten passiert ist, nun mal angeboten hat, näher darauf einzugehen, führt einem dieser tragische Zwischenfall noch einmal besonders vor Augen, wie wahnsinnig dieser Extremsport eigentlich ist. Oder um es mit den Worten eines der engsten Vertrauten Alex Honnolds auszudrücken auszudrücken: „Leute, die ein wenig was vom Klettern verstehen, sagen: Er sagt, er kann es, also passiert ihm nichts. Und Leute, die genau wissen, was er macht, kriegen Panik!“

Doch so spannend, spektakulär und bisweilen selbstkritisch «Free Solo» auch ist: All das ist nichts gegen die emotionale Komponente, die die Verantwortlichen hier besonders hervorkehren. Nur dadurch gelingt es ihnen, aus dem vermeintlich Irren eine nachvollziehbar handelnde Persönlichkeit zu machen, deren Vision man im Anschluss an den Film zu keinem Zeitpunkt mehr hinterfragen wird – erst recht, wenn man erst einmal erfährt, weshalb der junge Mann scheinbar keinerlei Angstgefühl verspürt. Dafür genügen einige kurze Abstecher in die Kindheit sowie ausgewählte Szenen aus Alex jetzigem Alltag, den er mit seiner Freundin Sanni bestreitet. Es ist rührend, wie sich die junge Frau um ihren Partner sorgt und dieser irgendwie versucht, die Liebe zu ihr und die Leidenschaft für den Klettersport unter einen Hut zu bringen.

Gleichzeitig wird zu jedem Zeitpunkt deutlich, dass er sich nur für Sanni kaum von seinem Vorhaben abbringen lassen würde, den El Capitan zu besteigen (Alex‘ Mutter äußert sich in einigen ausgewählten Interviewpassagen zum exakt selben Dilemma – die Angst um ihren geliebten Sohn); verschweigt ihr bisweilen sogar Dinge wie einen genauen Zeitplan und lässt sie kurz vor dem Manöver gehen, um sich nicht von ihr ablenken zu lassen. «Free Solo» ist zwar keine Romanze im klassischen Sinne, lässt im Zuschauer allerdings die Hoffnung nach einem Happy End für das Liebespaar aufkommen.

Fazit


«Free Solo» ist mehr als eine Kletterdoku: Das Porträt des perfektionistischen Free-Solo-Akteurs Alex Honnold ist spannend wie ein Thriller, berührend wie ein Drama, emotional wie eine Romanze und inspiriert ohne Pathos und Kitsch, sodass man am Ende des Films verstehen kann, weshalb Jemand ohne Netz und doppeltem Boden eine 90 Grad steile Felswand hinaufklettern will. Darüber hinaus sprechen die atemberaubenden Landschaftsaufnahmen für sich.

«Free Solo» ist bei Disney+ abrufbar.
11.04.2020 10:00 Uhr  •  Antje Wessels Kurz-URL: qmde.de/117380