«You – Du wirst mich lieben» Staffel 2: Diesmal wird alles anders …

Joe Goldberg ist zurück, diesmal in Los Angeles. Und natürlich trifft er innerhalb kürzester Zeit die nächste große Liebe seines Lebens. Seine Vergangenheit holt ihn allerdings schneller ein, als ihm lieb sein kann, jedoch ist das wohl so …als Mörder.

Wer auffallen will, hat bekanntermaßen gute Chancen, sein Ziel zu erreichen, wenn er etwas Provokantes macht. Aber was ist in einer Zeit, in der sich Filme, Serien, Bücher, Comics oder Videospiele immer mehr trauen, noch wirklich provokant? Dies gilt nicht erst seit 2019, sondern galt auch bereits 2015, als Caroline Kepnes mit „You – Du wirst mich lieben“ den Roman veröffentlicht hat, auf dem Staffel 1 des einst auf Lifetime erstausgestrahlten Formats basiert. Weltweite Bekanntheit erlangte es allerdings erst als Teil des globalen Netflix-Portfolios. Die zweite Season wird unter anderem deshalb auch als Netflix Original ausgewiesen.

Um das Thema „Stalking“ kreisten bekanntlich schon unzählige Thriller oder Krimis. Wie gelang es diesem Werk also, so sehr aus der Masse hervorzustechen? Übrigens mit der Folge, dass sich unglaublich schnell eine riesige Fanbase entwickelte, die Staffel 2 bereits entgegenfieberte, als diese noch nicht einmal angekündigt war. Ein wesentlicher Faktor war ganz sicherlich das ungemein kluge Casting. Selten sorgte allein die Besetzung der Hauptrolle dafür, dass eine im Wesentlichen nur gekürzte, jedoch (vermeintlich) nicht wesentlich veränderte Geschichte auf das lesende Publikum deutlich anders wirkte als auf das vor dem heimischen Bildschirm zuschauende.

In der Buchversion hat man nur Joe Goldbergs Gedanken – von Anfang an – und weiß deswegen in jeder Sekunde, wie er Situationen, Dinge oder Menschen beurteilt. Man weiß, wie er sich und die Welt sieht, weshalb die Autorin es uns nahezu unmöglich macht, ihn sympathisch zu finden. Schließlich sind wir Zeuge, wie er jede seiner Handlungen rechtfertigt und wie er stets eine Erklärung dafür findet, warum alles, was er tut, zwar auch in seinem, aber in erster Linie in Guinevere Becks – kurz Beck – Sinne ist. „Erschwerend“ kommt hinzu, dass er über sein Aussehen nur wenige Worte verliert – und wenn, dann logischerweise nicht direkt in Form einer Lobesarie auf sich selbst. Daher ist es nur schwer vorstellbar, dass der Mann, den sich die Buchkäuferinnen und Buchkäufer vorstellen, auch nur ansatzweise so aussieht, als könne er zumindest den Anschein erwecken, ein angenehmer Zeitgenosse zu sein. Die Konsequenz: Der Roman lebt primär davon, dass man maximal mutmaßen kann, was als Nächstes passiert, denn Joe, das lernt man recht schnell, ist eine Menge zuzutrauen.


Der fehlende Perspektivwechsel sorgt allerdings irgendwann unweigerlich dafür, dass das Dargebotene etwas eintönig wird und der Protagonist außerdem mehr und mehr an Bedrohlichkeit verliert, obwohl seine Vergehen schwerwiegender werden. Selbst Überraschendes ist ab einem Punkt X nicht mehr dem Wortsinne nach richtig „überraschend“, weil der wohl durchtriebenste Buchhändler New Yorks gewissermaßen „erwartbar unberechenbar“ agiert. Ohne einen echten Gegenpart fehlt folglich eine dramatische Zuspitzung. Und dass stets in einem gleichmäßigen Tempo erzählt wird, ist in diesem Kontext natürlich auch nicht unbedingt hilfreich. Man kann diesen Ansatz wählen, muss sich jedoch dann sehr genau überlegen, wie viele Seiten das eigene Werk umfassen soll. Zumal Joes Alltag ebenfalls Teil seiner Gedanken ist, was zur Folge hat, dass über längere Passagen schlicht und und ergreifend wenig Bedeutsames passiert.



Bei der Serienversion dagegen sind die Ausgangsvoraussetzungen vollkommen andere, aber die Kernhandlung ist (von vereinzelten Ausnahmen abgesehen) identisch. Worin liegen also dann solch bedeutsame Unterschiede begründet, die die Adaption letztendlich zur besseren Umsetzung des Ausgangsstoffes machen? Nun, ganz einfach: In der Tatsache, dass die Streamenden diesen Joe Goldberg auch sehen, während er denkt – und (logischerweise) nicht nur ihn. Dadurch bekommt das Ganze selbstredend eine völlig andere Dynamik, da Handlung und Wirkung stets miterlebt und anschließend mit dem Kopfkino der Hauptfigur abgeglichen werden können. Und da man nun mit Sicherheit sagen kann, was sich vor ihm abspielt respektive ob er nicht vielleicht doch übertreibt und da sich die auf dem heimischen Sofa Sitzenden erstmals ein eigenes Bild von Beck, die von Elizabeth Lail verkörpert wird, machen können.

Das mag im ersten Moment unspektakulär und nicht sonderlich erwähnenswert klingen, hat allerdings weitreichende Konsequenzen für die Beurteilung des Präsentierten. Und maßgeblich dafür verantwortlich ist – wie gesagt – das gelungene Casting. Den Hauptcharakter mit einem Darsteller zu besetzen, der über Jahre in einer Serie mitgewirkt hat, deren Zielgruppe auch «You – Du wirst mich lieben» ansprechen dürfte, war schlicht ein brillanter Schachzug seitens der Macher Greg Berlanti, seinerseits unter anderem prägender Kopf hinter dem „Arrowverse“, und Sera Gamble («Supernatural», «Aquarius», «The Magicians»). Immerhin gehörte Penn Badgley von der ersten bis zur letzten Folge zum „Main Cast“ von «Gossip Girl», einem Format, dessen Fanbase bekanntermaßen beträchtlich ist. Der Akteur verkörperte jedoch nicht einfach nur Dan Humphrey, er war so viel mehr als das – vor allem aber war er „Lonely Boy/Einsamer Junge“. Derjenige, der wieder und wieder das Richtige und Vernünftige tat oder tun wollte und oftmals dafür nicht unbedingt belohnt wurde – dessen Handeln rückblickend allerdings aufgrund bestimmter Ereignisse noch einmal neu bewertet werden muss. Heißt: Die von dem US-Amerikaner dargestellte Figur hatte aus diesem Grund die Mitfiebernden fast über den gesamten Ausstrahlungszeitraum von «GG» auf seiner Seite.

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Und deshalb ist es nur logisch, dass die Treuesten der Treuen sich sehr schwer damit tun, in ihrem einstigen Liebling plötzlich nicht mehr den positiv konnotierten Helden der Geschichte zu sehen – zumal sich alles um Joe dreht. An diesem Umstand lässt sich im Übrigen gut zeigen, wie sehr das Publikum es gewohnt ist, sich auf die Seite des Protagonisten zu schlagen, auf die Seite desjenigen also, der (normalerweise) im Recht ist und den es zu unterstützen gilt. Und Voiceover sind zudem ebenfalls in den Köpfen der meisten für Märchenprinzen oder „Nachwuchs-Aschenputtel“ reserviert, da dieses Gestaltungsmittel bevorzugt in romantischen Komödien oder in Telenovelas zum Einsatz kommt.

All das wiederum führt dazu, dass die kreativ Verantwortlichen ihren „Antihelden“ zum Ende hin schlimme Dinge so explizit wie möglich tun und sagen lassen, um den Zuschauerinnen und Zuschauern in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen, wie bereitwillig sie sich haben manipulieren lassen. Es kommt zu einem echten Bruch, zu einem Moment, der diejenigen, die dieser Szenerie beiwohnen, zwingt, „aufzuwachen“. Und obwohl dieser Moment in der Vorlage theoretisch ebenfalls existiert, hatte er dort jedoch aus oben genannten Gründen bei Weitem nicht denselben Effekt. Musste er aber auch nicht, da – wie beschrieben – sich schon nach der Lektüre der ersten Seiten kaum jemand mehr finden wird, der mit Joe Goldberg sympathisiert.

In beiden Fällen ist allerdings nachvollziehbar, warum die Rezipientinnen und Rezipienten wissen wollen, wie es mit dem leidenschaftlich gerne bedeutende Literaten Zitierenden weitergeht, obwohl das jeweilige Ende (ob in Worten oder bewegten Bildern festgehalten) ein sehr stimmiges offenes gewesen wäre. Doch Erfolg und Stillstand haben bekanntermaßen noch nie viel miteinander zu tun gehabt, weswegen es auch niemanden sonderlich verwundert haben dürfte, dass Autorin Kepnes bereits 2016 mit „Hidden Bodies – Du wirst mich finden“ nachlegte und damit gleichzeitig der vor wenigen Tagen angelaufenen zweiten Season den Weg ebnete. Und mittlerweile wurde darüber hinaus noch bestätigt, dass es definitiv einen dritten sowie einen vierten Band geben wird beziehungsweise hat die Schriftstellerin ihren dritten Ausflug in die Welt des etwas anderen Killers sogar schon beendet. Und wer um den Verlauf des zweiten weiß, könnte sicher aus dem Stehgreif viele Argumente dafür nennen, weshalb sich auch dieser lohnen könnte, jedoch bestimmt mindestens genauso viele, warum es immer komplizierter werden dürfte, das Grundkonzept weiterhin überzeugend mit Leben zu füllen, ohne sich einerseits zu weit vom Kern des Ganzen zu entfernen oder andererseits sich zu sehr zu wiederholen.


Aber wieso das Feld von hinten aufrollen, wenn es sich gerade zu Beginn entscheidet, ob man abermals gewillt ist, in Joseph Goldbergs Psyche einzutauchen. Um nicht redundant zu werden und weil im Zentrum dieser Besprechung selbstverständlich die Serienumsetzung, die diesmal wesentlich freier mit dem Ausgangsmaterial umgeht, stehen soll, wird von nun an aber nur noch in Ausnahmefällen auf die Buchversion verwiesen – zumal ohnehin jede Adaption in der Lage sein muss, für sich zu stehen und die Mehrheit der Streamenden den Roman höchstwahrscheinlich nicht gelesen hat. Und weil es über diese Staffel wahrlich genug zu sagen gibt – selbst dann, wenn man auf eine Menge verzichtet, weil diverse Spoiler in diesem Fall das (erstmalige) Sehvergnügen wirklich schmälern würden. Denn Joe treibt nun nicht mehr in New York, sondern inzwischen in Los Angeles sein Unwesen, und zwar als Will Bettelheim. Diese wenigen Fakten genügen bereits, um wieder komplett auf „You-Modus“ zu schalten und sich – und damit eigentlich dem Format – zahlreiche Fragen zu stellen: Wieso ausgerechnet die „Stadt der Engel“? Wie kam der Mann aus Brooklyn an den neuen Namen? Hat er aus seinen Fehlern gelernt? Wird man ihm auf die Spur kommen und natürlich: Wird der falsche Will sich wieder verlieben?



Abermals findet die Produktion auf nahezu alle plausible Antworten – zugegeben, wenn man hin und wieder etwas länger über bestimmte Entwicklungen und deren Zustandekommen nachdenkt, kommt einem womöglich für einen kurzen Moment ein Wort wie „aberwitzig“ oder „absurd“ in den Sinn, nur: Das war von Anfang an der Deal. Von der allerersten Episode an werden Zuseherinnen und Zuseher in schöner Regelmäßigkeit mit Situationen konfrontiert, die sich in ihrer Skurrilität überbieten. Dem zweiten 10-Folgen-Paket gelingt es allerdings nun endgültig, dass man eher geneigt ist, in diesen Augenblicken zu dem Schluss zu kommen, dass das Leben tatsächlich die verrücktesten Geschichten schreibt – solche, von denen man am ehesten denken würde, dass sie sich niemals so zugetragen haben können und die sich deswegen einfach jemand ausgedacht haben muss. Und das ist ohne jede Frage eine beachtliche Leistung und hat unter anderem viel mit der Erzählweise sowie dem „Pacing“ zu tun. Denn das Einstreuen von Informationen, die in der Regel erst später wirklich relevant werden, hat im Vergleich zur ersten Season deutlich zugenommen. Obwohl dieser Vorgang einmal expliziter und einmal impliziter vonstattengeht, ist es den Fans theoretisch konsequent möglich, (beinahe) alle Hinweise, die Rückschlüsse auf den weiteren Verlauf der Handlung zulassen, zu sammeln und zu deuten. Das liegt hauptsächlich daran, dass das Erzähltempo gleichbleibend und – bis auf wenige (gewollte) Ausnahmen – nie von Hektik geprägt ist, sondern zumeist von einer gewissen Ruhe.

Diese Tatsache lässt sich in erster Linie auf Joes neue Rolle zurückführen: Aus dem „eigenwilligen“ Jäger ist ein Gejagter geworden. Daran, dass er in seinem Kopf pausenlos mehrere Szenarien durchspielt, ist man seit dem Piloten gewöhnt. Damals ging es jedoch vornehmlich um seine nächsten Schritte in Bezug auf Beck oder auf die (endgültige) Beseitigung der sich dabei für ihn ergebenden Probleme. Vielleicht auch ein wenig darum, nicht erwischt zu werden, der New Yorker vertraute in dieser Hinsicht aber im Grunde genommen sehr auf seine Fähigkeiten und seine – in seinen Augen – an sich lückenlosen Pläne. In L.A. sieht das Ganze hingegen etwas anders aus. Er ist etwa mit der Gegend nicht vertraut und kennt anfangs niemanden. Wer nun einwendet, dass Letzteres für einen Einzelgänger, wie „Will“ es immer schon war, nicht besonders wichtig ist, verkennt, dass er stets auch vertraute Gesichter – mehrheitlich, ohne dass sie es wissen – für seine Zwecke nutzt – beispielsweise, um sich ein Alibi zu verschaffen. In seiner neuen Heimat allerdings muss er quasi komplett bei null beginnen. Womit selbst der sich mit Vorliebe als vorausschauender Stratege Feiernde dagegen nicht gerechnet haben dürfte, ist, dass er – vermutlich erstmals überhaupt – mehrere Leute zeitgleich Teil seines Lebens werden lässt.

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Bei der Auflistung der entsprechenden Personen muss natürlich zuerst die neueste Frau seiner Träume Erwähnung finden, die Love (Victoria Pedretti) heißt – und auch wenn dies im ersten Moment unglaublich übertrieben und platt anmutet, die Drehbücher liefern ausreichend Gründe, durch die diese Entscheidung in der Retrospektive absolut nachvollziehbar erscheint. Zunächst will der falsche Mr. Bettelheim sich und allen, die von der Couch aus sein Treiben mitverfolgen, mit aller Macht beweisen, dass er sich geändert hat und alte Verhaltensmuster ablegen will. Und das Dargebotene respektive die Präsentation dessen lassen es auch durchaus zu, anzunehmen, dass er seine guten Vorsätze wenigstens für ein paar Tage wird aufrechterhalten können – vorausgesetzt, man schiebt alle mehr als berechtigten Zweifel (zum x-ten Mal) wider besseres Wissen beiseite. Jedoch wirkt es fast so, als hätten es sich vor und hinter der Kamera alle zur Aufgabe gemacht, selbst diejenigen, die dem „Neu-Angeleno" seit jeher misstraut haben, ins Grübeln zu bringen. Denn einerseits lässt sich – so viel kann man vorwegnehmen – Love viel mehr auf ihn ein, als es Beck je getan hätte, was wiederum in ihm zumindest den Wunsch aufrechterhält, ein besserer Mensch werden zu wollen, und andererseits kommt er durch sie vermehrt in Situationen, in denen er seine Absicht mit Taten unterstreichen möchte und kann.

Meistens ist Forty (James Scully), der Zwillingsbruder seiner Angebeteten – die Vornamen der beiden dürften Tennis-Liebhaber schmunzeln lassen –, in irgendeiner Form involviert, da der exzentrische, ichbezogene verhinderte Star-Regisseur aus gutem Hause, das Chaos magisch anzuziehen scheint. An ihm lässt sich auch wunderbar veranschaulichen, dass für seinen „Traum-Schwager" wenig so herausfordernd ist wie unberechenbare Menschen, solche, bei denen es schwierig bis unmöglich ist, ihren nächsten Zug vorauszusehen, da sie ihn selbst nicht kennen oder aufgrund übermäßigen Rauschmittelgenusses gar nicht kennen können. Und dass dies Joe dennoch nicht davon abhält, diesen „Risikofaktor“ zu akzeptieren, sich mit ihm zu arrangieren und irgendwann – auf seine Weise – gar einen Hauch Sympathie in Bezug auf ihn durchblicken zu lassen, ist ein Beleg dafür, wie ernst es ihm mit Love ist. Schließlich ist ihm – ob er es artikuliert oder nicht – absolut bewusst, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sein „spezieller Freund“ ihm Probleme bereiten wird, sehr hoch. Aber auch ganz allgemein wird von Episode zu Episode offensichtlicher, dass mit jedem Freund, Bekannten oder Familiengehörigen der „Twins“, den der „Neuankömmling“ kennenlernt, die Gefahr, dass er auffliegt, größer wird. Da ein Kennenlernprozess selbstredend nie ohne ein „Fragenbombardement“ auskommt, und es daher nicht nur eine in sich stimmige Geschichte braucht, die wieder und wieder um (sich unmittelbar einzuprägende) Details ergänzt werden kann, sondern ebenfalls jemanden, der sie glaubhaft mit Leben zu füllen weiß.

Der ursprüngliche Mikrokosmos des „Dauerschauspielers“, den dieser in einer der größten Städte der Welt errichtet hatte, war bekanntlich am Ende arg „einsturzgefährdet“, deshalb ist es nur logisch, dass sein in der nächsten Ausnahmemetropole erschaffener noch wesentlich fragiler ist – und das gerade auch, weil er zulässt, dass ihm ein zweites Geschwisterpaar „wichtig“ wird: die Alves-Schwestern. Die Mitzwanzigerin Delilah (Carmela Zumbado) ist Gebäudemangerin des Hauses, in das „Will Bettelheim“ zieht, wodurch er automatisch zu ihrem Nachbarn und dem der 15-jährigen Ellie (Jenna Ortega) wird. Erstere misstraut so ziemlich allen Männern und wäre gerne eine erfolgreiche Enthüllungsjournalistin – also die perfekte Kombination für den Protagonisten, um stets daran erinnert zu werden, dass er keinesfalls leichtsinnig oder unvorsichtig werden darf. Die Jüngere der beiden verleitet ihn hingegen interessanterweise bereits bei einem ihrer ersten Aufeinandertreffen exakt dazu, und zwar indem ihr das bis dato Undenkbare gelingt: Sie überzeugt Joe Goldberg davon, seiner falschen Identität einen Social-Media-Account zu erstellen – ein folgenschwerer Fehler, wie sich bald herausstellen sollte. Da Loves Profil allerdings kein öffentliches war – und sie keine Selbstdarstellerin wie Beck oder Forty ist –, kam der Mörder mit dem „Ich-kann-keiner-Fliege-etwas-zuleide-tun-Gesicht“ zu dem Schluss, dass die sich durch eine digitale Präsenz ergebenden Risiken mit Blick auf die dadurch entstehenden Vorzüge vertretbar waren.


Außerdem gefällt sich der zugezogene Ostküstler sichtlich in der Rolle des großen Bruders mit „Ersatz-Vater-Tendenzen“. Überraschen dürfte das eigentlich niemanden; immerhin war und ist Joe – in seiner Version der Realität – zuallererst ein „Kümmerer“, ein „Beschützer“. Und das will er ebenfalls für seine „Tochter-Schwester“ sein. Die gemeinsamen Szenen von Penn Badgley und Jenna Ortega gehören überdies eindeutig zu den sehenswertesten der Serie, da die beiden eine fantastische Chemie haben – wobei an dieser Stelle definitiv ebenso zur Sprache kommen muss, dass ihre deutschen Stimmen Robin Kahnmeyer und Lea Kalbhenn ebenfalls einen herausragenden Job gemacht haben. Ortega, die auch in Disneys «Mittendrin und kein Entkommen» sowie der Neuauflage von «Richie Rich» mitgewirkt hat, versteht es zudem ausgesprochen gut, Ellies Vielschichtigkeit darzustellen. Sie ist nämlich einerseits wahnsinnig klug, auf der Höhe der Zeit, begeisterte Filmliebhaberin, ziemlich tough und macht einen reifen Eindruck, andererseits jedoch eben auch der Teenager, der sich nach Geborgenheit, Konstanz und einem echten Zuhause und damit letztendlich nach Zuwendung und Liebe sehnt. Die innere Zerrissenheit, die die Hauptfigur von «You – Du wirst mich lieben» auszeichnet, ist zwar eine vollkommen andere, aber ebendies macht den Reiz ihrer gemeinsamen Dialoge aus. Beide machen sich selbst und anderen mehrheitlich etwas vor und dennoch kommt es zwischen dem falschen Will und dem jungen Mädchen zu einigen „echten“ Momenten – und genau nach denen suchen im Grunde beide. Dass sie ihn darüber hinaus dazu bringt, Teil dieser künstlichen digitalen Welt zu werden, der er – so er nicht gerade ihre Schwachstellen ausnutzt – ähnlich viel abgewinnen kann wie Los Angeles, dessen Bewohnerinnen und Bewohner seiner Meinung nach Oberflächlichkeit in Reinform verkörpern, verleiht dieser Beziehung noch eine Metaebene. Dass er sich von ihr überzeugen lässt, liegt primär an ihr als Person, einem 15-jährigen Teenie, der ihn mehr beeindruckt hat als jeder andere bisher eingeführte Charakter und den er – auf seine Weise – mag.


Somit steckt in dem Betätigen des „Erstellen“-Buttons der Grundkonflikt dieser Staffel, der das klassische „Ein-Mann-zwischen-zwei-Frauen-Motiv“ zum Thema hat, das allerdings selten so innovativ verarbeitet worden ist. Außerdem steht dieser Akt sinnbildlich für seine (vergeblichen) Bemühungen, ein besserer Mensch werden zu wollen, für diesen permanenten Wechsel zwischen Schein und Sein, den alle seine Handlungen kennzeichnen und ihm irgendwann vor Augen führen, dass er selbst oft gar nicht weiß, was er fühlt, nicht weiß, ob er sich nicht permanent selbst belügt und was es eigentlich bedeutet, zu lieben. Und solche Unsicherheiten, die ihn, den mehrfachen Mörder, so nahbar und fast schon bemitleidenswert erscheinen lassen, betten die Macher in Season 2 zudem mit voller Absicht in Rückblicke, die die schwere Kindheit des kleinen Joey zeigen, ein. Infolgedessen muss sich das Publikum logischerweise diesmal um ein Vielfaches mehr kneifen, um sich darauf besinnen zu können, wie viele Gesetze dieses „Längst-nicht-mehr-Kind“ mittlerweile gebrochen und welch schwere Verbrechen dieser erwachsene Mann begangen hat.

Darüber hinaus erleben es die Zuschauerinnen und Zuschauer erstmalig, dass jemand, der viel Schuld auf sich geladen hat, in dessen Visier gerät, wodurch sie automatisch dazu gezwungen werden, sich zu fragen, ob nicht manchmal vielleicht doch der Zweck die Mittel heiligt. Womit man den Kritikern der ersten Stunde wieder ausreichend Futter geliefert hat, jenen, die dem Format seit Tag 1 die Heroisierung eines mordenden Kriminellen vorgeworfen haben und die damit vor einigen Monaten eine ähnliche Debatte in Gang gesetzt hatten wie diejenige, die kürzlich rund um «Joker» entbrannt ist. Vollkommen entkräften lässt sich der Vorwurf wohl auch nicht, dennoch spricht eine Menge dafür, das endgültige Urteil in dieser Angelegenheit erst zu fällen, sobald die finale Klappe gefallen ist. Nicht ausgeblendet werden darf in diesem Zusammenhang jedoch, dass den Streamenden nichts vorenthalten wird, dass sie Joseph Goldberg, den Manipulator, den Stalker und Joseph Goldberg, den Killer, mehr als einmal in Aktion gesehen haben. Dieser Umstand lässt es nämlich zu, dem Gezeigten einen pädagogischen Mehrwert zuzugestehen: Zum Beispiel wird besonders Jüngeren – wie gesagt – auf diese Weise eindrucksvoll demonstriert, wie leicht wir zu manipulieren sind oder wieso man sich intensiv mit den Privatsphäreinstellungen auf den Sozialen Medien auseinandersetzen sollte.

Abschließend lässt sich folglich konstatieren, dass die zweite Staffel von «You – Du wirst mich lieben» enorm von der Vergrößerung des „Youniverse“ profitiert und sich spürbar weiterentwickelt hat, ohne dadurch das zu verlieren, was die erste Season derart populär hat werden lassen. Vor allem aber hat sie schon das Feld für das dritte 10-Folgen-Paket bereitet und bewiesen, dass Joes Geschichte noch lange nicht auserzählt ist.
Die ersten beiden Staffeln von «You – Du wirst mich lieben» sind auf Netflix verfügbar.
04.01.2020 10:00 Uhr  •  Florian Kaiser Kurz-URL: qmde.de/114791