Der Thriller zum Mauerfall-Jubiläum: Hinter den «Wendezeit»-Kulissen

Quotenmeter.de hat mit «Wendezeit»-Produzentin Heike Voßler und -Autorin Silke Steiner über komplexe Frauenrollen, die Darstellung der DDR und Tonalität gesprochen.

Produzentin Heike Voßler: 'Ich finde, nach 30 Jahren kann man auch mal einen Thriller dazu machen!'


Im Fernsehen erfährt man ja nur zeitversetzt, was das Publikum denkt. Daher ist es immer ganz spannend, sich die Fünf-Minuten-Schritte bei den Quotendaten anzuschauen: Wann sind die Leute eingestiegen, wann sind sie ausgestiegen? Aber ich finde, es ist schwer zu sagen, wie groß die Aussagekraft dieser Daten letztlich ist, da bei den Quoten auch immer andere Faktoren wie das Gegenprogramm mitspielen.
Heike Voßler
Wir sprechen uns kurz nach der «Wendezeit»-Aufführung auf dem Festival des Deutschen Films. Wie ist es, ausnahmsweise eine direkte, hörbare Publikumsresonanz zu haben, statt einen Film zu senden und sich am Morgen danach halt die Quoten anzuschauen?
Das war eine sehr schöne Erfahrung. Wir haben den Film vor über 1.200 Leuten gezeigt, da bin ich sehr glücklich und auch voller Stolz, weil die direkte Publikumsresonanz zeigte, dass die Leute ihn auch sehr spannend fanden. Man kann in der Drehbuchentwicklung so viel diskutieren: Gehen wir Weg A oder Weg B? Aber nun direkt zu erleben, wie diese Entscheidungen ankommen, ist eine ganz besondere Situation für Fernsehproduzenten. Im Fernsehen erfährt man ja nur zeitversetzt, was das Publikum denkt. Daher ist es immer ganz spannend, sich die Fünf-Minuten-Schritte bei den Quotendaten anzuschauen: Wann sind die Leute eingestiegen, wann sind sie ausgestiegen? Aber ich finde, es ist schwer zu sagen, wie groß die Aussagekraft dieser Daten letztlich ist, da bei den Quoten auch immer andere Faktoren wie das Gegenprogramm mitspielen.

Mir ist mehrmals die These begegnet, dass das Publikum Männerfiguren mehr verzeiht als Frauenfiguren. Würden Sie dem zustimmen?
Generell würde ich der These zustimmen. Frauenfiguren haben noch einen langen Weg vor sich, bis sie dasselbe tun dürfen wie Männerfiguren und trotzdem gemocht werden. Aber in unserem Fall war das kein Thema, wir haben uns nur die Frage gestellt: Wie machen wir diese Agentin glaubwürdig? Das Wichtigste ist, eine Figur zu haben, mit der man mitgeht. In diesem Fall ist es eine hin und her gerissene Frau, die am Anfang jemanden erschießt und daher nach klassischen Maßstäben unsympathisch ist – aber es ist spannend, sich zu fragen, weshalb sie so handelt, so handeln muss. Man kann immer ihre Entscheidungen nachvollziehen, selbst wenn sie moralisch falsch sind.

Im Fernsehen besteht ja durchaus die Gefahr, dass die Leute umschalten, wenn sie die Hauptfigur unsympathisch finden. Wir haben dank zahlreicher Komödien eine Erzähltradition, die Geschichte des fiesen alten Sacks, der herumgrantelt, aber ein Herz findet. Man erahnt aber, dass die unsympathische Figur nicht unsympathisch bleibt. Was uns in «Wendezeit»wichtig war: Es muss für die Protagonistin um Leben und Tod gehen. Zudem hatten wir das Glück, dass Petra Schmidt-Schaller die Hauptfigur spielt, da sie im Guten wie im Schlechten deutlich machen kann, wie sehr es in der Figur rumort.

Wie lief eigentlich die Entstehung von «Wendezeit» ab? Gab es erst den Stoff oder erst das Jubiläum?
Es gab zuerst den Stoff. Silke Steiner und Michel Dreher kamen auf uns zu. Wir mochten den Stoff und haben sehr lange überlegt, wie wir das verkaufen können. 2016 nahm der Prozess an Fahrt auf: Wir bemerkten, dass wir auf das Mauerfall-Jubiläum zusteuern. Das hat uns genutzt, Aufmerksamkeit für den Stoff zu bekommen.

Ich finde, nach 30 Jahren kann man auch mal einen Thriller dazu machen! Man musste natürlich erst einmal Abstand zum Ereignis gewinnen, es ist ja ein emotionaler, traumatischer Geschichtsabschnitt. Gleichzeitig ist es wichtig, junges Publikum für das Thema zu gewinnen, das bislang nicht angesprochen wurde.
Heike Voßler
«Wendezeit» ist ein Einzelfilm mit einer Laufzeit von über 90 Minuten – ich dachte, das geht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht?
Weil wir anlässlich des Mauerfall-Jubiläums einen Sondertermin hatten, bekamen wir einen Eventsendeplatz und wussten, dass wir mehr als 90 Minuten zur Verfügung bekommen. Zunächst wurden uns 105 Minuten gegeben, aber wir hatten so viel Material, das zudem so gut funktioniert hat, dass Regisseur Sven Bohse erst eine Fassung von 130 Minuten und dann eine mit 121 Minuten geschnitten hat. Die fanden die Redaktion und wir so überzeugend, dass wir den Film nicht weiter zu kürzen mussten. Wir sind sehr, sehr dankbar für diese Ausnahme.

«Wendezeit» hat, glaube ich, gute Chancen, Leuten einen neuen Zugang zu dem Thema deutsch-deutscher Geschichte zu bahnen, weil es ein rarer Spannungsfilm in einem Metier ist, in dem Historiendramen vorherrschen …
Ja, ich finde, nach 30 Jahren kann man auch mal einen Thriller dazu machen! Man musste natürlich erst einmal Abstand zum Ereignis gewinnen, es ist ja ein emotionaler, traumatischer Geschichtsabschnitt. Gleichzeitig ist es wichtig, junges Publikum für das Thema zu gewinnen, das bislang nicht angesprochen wurde, um ihnen zu zeigen, wie aufwühlend diese Zeit war.

Vielen Dank für das Gespräch.
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Autorin Silke Steiner: 'Mich stört es nicht, wenn man meine weiblichen Hauptfiguren schwierig findet'


Ursprünglich war es eine Serienkonzeption, die sehr breit erzählt werden sollte. Als die Filmversion feststand, hieß es zuerst, dass es 105 Minuten werden sollen, letztlich wurden es knapp 120 Minuten – das war schon eine große Herausforderung, diese Fülle an Stoff auf diese Laufzeit zu stutzen.
Silke Steiner
Wie lief die Entwicklung von «Wendezeit» ab?
Das war ein etwas spezieller Fall: Ursprünglich war es eine Serienkonzeption, die sehr breit erzählt werden sollte. Als die Filmversion feststand, hieß es zuerst, dass es 105 Minuten werden sollen, letztlich wurden es knapp 120 Minuten – das war schon eine große Herausforderung, diese Fülle an Stoff auf diese Laufzeit zu stutzen.

Wie sah die Serienversion von «Wendezeit» aus?
Michael Dreher hatte die Idee von einer Doppelagentin, deren Existenz durch den Mauerfall bedroht wird. Ich war davon gebannt, denn ich mag es generell, Geschichten über Frauen zu erzählen, denn da gibt es noch viel Raum für authentische Geschichten, die bislang unerzählt geblieben sind. Die Serie stellten wir uns als Achtteiler mit 45-minütigen Folgen vor. Die Serie hatte natürlich auch mehr Erzählstränge: Die Opposition, Markus Wolf und seine politische Agenda… Aber als klar war, dass es keine Serie, sondern ein Film wird, stand außer Frage, auf welchen Strang ich mich konzentrieren sollte: Die emotionalste Erzählung – die einer Mutter und Ehefrau, die wegen der politischen Entwicklungen gezwungen ist, sich zwischen Ideologie und Familie zu entscheiden.

Was bremste die Idee aus, «Wendezeit» als Serie anzupacken?
Als «Deutschland '83» für RTL keine überragenden Quoten geholt hat. Das war für die Sender ein Signal, dass eine Serie über innerdeutsche Spionage nicht unbedingt die Massen an die Mattscheiben holt. Ich war sehr traurig, als es so aussah, dass dieser Stoff nicht umgesetzt wird, denn ich hatte nicht nur viel Zeit und Mühe in «Wendezeit» gesteckt, sondern auch viel Herzblut. Als dann das Wendejubiläum näher gerückt ist, hatte die Produktion die Idee, den Stoff als Eventfilm zum Mauerfall anzubieten. Zum Glück hat das geklappt, denn so hatten wir die seltene Möglichkeit, so eine emotionale Geschichte mit realer Historie zu verbinden und dann noch als Agententhriller! Ich liebe dieses Genre und es bietet eine neue Perspektive auf dieses Kapitel deutscher Geschichte …

Uns war klar, dass eine Doppelagentin der HVA keine Helikoptermutter sein kann. Wenn man sie als unterkühlt wahrnimmt, finde ich das interessant. Neben dem Muttermythos gibt es ja noch mehr Frauen- und Mutterbilder und mich stört es nicht, wenn man meine weiblichen Hauptfiguren schwierig findet. Auch wenn das bedeuten kann, dass ich meine Stoffe schwerer verkauft kriege …
Silke Steiner
Ich habe schon mehrmals die These gehört: Das Publikum verzeiht Frauenrollen weniger als Männerrollen – war das in der Konzeption von «Wendezeit» eine Sorge, die Sie mit sich getragen haben?
Ich denke, dass diese These zutrifft, aber ich hatte sie beim Schreiben überhaupt nicht im Sinn. In «The Americans» ist ja auch die weibliche Hauptfigur härter als ihr männliches Pendant – und die Serie ist großartig, sie war mir ein Vorbild. Ich habe als Kritikpunkt an «Wendezeit» gesagt bekommen, dass die Hauptfigur unsympathisch sei, weil sie so eine unterkühlte Mutter wäre. Darüber habe ich beim Schreiben nicht nachgedacht und auch bei den Drehbuchgesprächen war das nie Thema. Uns war klar, dass eine Doppelagentin der HVA keine Helikoptermutter sein kann. Wenn man sie als unterkühlt wahrnimmt, finde ich das interessant. Neben dem Muttermythos gibt es ja noch mehr Frauen- und Mutterbilder und mich stört es nicht, wenn man meine weiblichen Hauptfiguren schwierig findet. Auch wenn das bedeuten kann, dass ich meine Stoffe schwerer verkauft kriege …

Wie balancieren Sie beim Schreiben die Recherche mit Ihrer Erzählung? Gab es mehrere "Kontrollrunden", in denen Sie Ihre Geschichte mit der Historie abgeglichen haben?
Ach, der Schreibprozess ist für mich magisch, da kann man nicht planen. Daher habe ich zuerst sehr, sehr viel recherchiert, um die Zeit, die Fakten und das Milieu zu verinnerlichen – und dann ging es ans Schreiben innerhalb dieser Parameter. Ich bin nicht wirklich oft zurück zum Recherchematerial gegangen – das war das Grundgerüst, das ich zuerst erarbeitet habe.

Gab es für Sie "Anti-Inspirationen", also Filme oder Serie, deren Stil Sie vermeiden wollten?
Mir war es wichtig, die DDR, ihre Bürger und Politik nicht durch und durch negativ zu zeichnen und alle als Karikaturen darzustellen. Ich wollte diese Zeit und diese Menschen ernst nehmen – das bedeutet ja nicht sogleich, die DDR zu verklären. «Wendezeit» sollte authentisch bleiben. Wir mussten daher auch viel über die Darstellung der Spionagearbeit diskutieren, denn der Zuschauer hat viele Vorurteile und daher falsche Erwartungen, wie sie im Film auszusehen hat. Es ist viel mehr Bürojob, als man erwarten würde.

Vielen Dank für das Gespräch.

Anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls zeigt Das Erste am Mittwoch, den 2. Oktober 2019, um 20.15 Uhr den historischen Spionagethriller «Wendezeit».
02.10.2019 11:46 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/112609