Vorbild USA: So geht moderne Fernsehwerbung

Wie halten die Sender ihre Werbekunden in Zeiten des linearen Zuschauerschwunds? In den USA gehen Networks in Sachen Vermarktung neue Wege. Dabei helfen neuartige Tools.

TV-Sehdauer 2018 nach Altersgruppen

  • ab drei Jahren: 217 Min.
  • 3-13 Jahre: 64 Min.
  • 14-29 Jahre: 94 Min.
  • 14-49 Jahre: 153 Min.
  • 30-49 Jahre: 194 Min.
Durchschnitt täglich / AGF Videoforschung
Der Zuschauerschwund im linearen Fernsehen ist eine Realität. Von Jahr zu Jahr sinkt absolut gesehen die durchschnittliche Sehdauer pro Tag. Blickt man auf die Zahlen in Deutschland, sind die Verluste auf den ersten Blick klein, denn zwischen 2016 und 2018 gab die durchschnittliche Fernsehnutzung pro Tag lediglich um sechs Minuten ab (von 223 auf 217 Minuten am Tag). Doch der Schein trügt: Die Bevölkerung wird im Schnitt immer älter und die Vielseher stammen besonders aus älteren Segmenten. Die einst als werberelevantes Publikum betitelte Altersgruppe nutzt dagegen immer häufiger Mediatheken und immer weniger lineare Angebote (siehe Info-Box). Klassische Fernsehsender wissen um diese Entwicklung. Ihre Werbeflächen sind dadurch eigentlich weniger wert. Doch in den USA orientieren sich die Sender um, damit die Werbeerlöse konstant bleiben.

Die Strategien der US-TV-Vermarkter könnten wie so oft im Falle der US-Unterhaltungsindustrie Vorboten für den deutschen Markt sein. In jedem Fall wird die deutsche Fernsehbranche genau die Entwicklungen jenseits des Atlantiks verfolgen, um dadurch eigene Modelle abzuleiten. Aus gutem Grund, denn die US-Strategien scheinen Erfolg zu versprechen, auch wenn sie wohl nicht eins zu eins für den deutschen Markt umsetzbar sind. Tatsächlich stiegen die Werbeerlöse der US-Fernsehanbieter in diesem Jahr erneut, obwohl sich immer mehr Menschen vom klassischen Fernsehen abwenden. Wie kann das sein?

Verluste durch Direct-to-Consumer-Angebote auffangen


Joyn, die gerade aus der Taufe gehobene Plattform von ProSiebenSat.1 und Discovery, kann als Reaktion der Deutschen auf die US-Vorgehensweise gesehen werden. Denn um die Verluste in Sachen Live-TV-Nutzung wettzumachen, setzen US-Anbieter schon seit Jahren verstärkt auf Direct-to-Consumer-Angebote. Anbieter mit einer langen Fernsehtradition haben dabei einen enormen Vorteil bei Werbekunden, weshalb die alteingesessenen Networks bislang sehr gut über die Runden kommen. Die Premium-Inhalte auf ihren neuen Plattformen versprechen Werbekunden eine sichere Umgebung für ihre Spots.

YouTube orientierte sich erst kürzlich um und riss die Paywall um seine Originalinhalte ein. Stattdessen werden die Inhalte nun auf der kostenfreien Plattform mit Werbung unterbrochen. Obwohl YouTube mit zwei Milliarden aktiven Nutzern die größte Reichweite verspricht, wird die Seriösität der Plattform durch unkontrollierbaren und häufig fragwürdigen User-generierten Content untergraben. Auch Facebook mit seinem Datenleck und Twitter, das im Rahmen der Zensur von Hasskriminalität und anderen strafbaren Inhalten überfordert ist, treiben auf Sicherheit bedachte Werbekunden in die Arme der etablierten Medienkonzerne.

Neue Analyse-Tools bringen Werbekunden Sicherheit


Immer stärker nutzen die Networks auch neue Analyse-Möglichkeiten um Kunden anzulocken. Für Turner, Fox und Viacom arbeitet beispielsweise das im Jahr 2017 erschaffene Ad-Targeting-Tool OpenAP. Es wurde designt, um Werbedeals abzuschließen, die Werbekunden Konsumenten aufgrund bestimmter Charakteristika ansprechen lässt, etwa „junge Mütter“ oder „erstmalige Autokäufer“. Im Industrie-Sprech wird diese Vorgehensweise „audience-buying“ genannt. 2018 schloss sich NBCUniversal dem Konsortium an Anbietern an, die OpenAP nutzen und diesen April wurde OpenAP 2.0 angekündigt, dass neue Analyse-Daten nutzt, die schon vor dem Start der eigentlichen Kampagne die Erfolgschancen bemessen und nach der Kampagne weitere Daten liefern. Das neue Tool soll Käufern von Werbezeiten erlauben, lineare oder andere Werbetypen flexibel über alle vier Network-Gruppen hinweg zu kaufen.

Ein weiteres Tool heißt A+E Precision. Es nutzt Daten, um zu identifizieren, auf welchem der A+E-Sender die Platzierung einer bestimmten Werbung am besten passt. Sobald die Werbung auf den Sendern History, Lifetime oder Viceland platziert wurde, misst das Tool die Effektivität der Kampagne. Das funktioniert so gut, dass A+E von nun an sogar Garantien an seine Werbekunden ausspricht. Das Analytics-Startup EDO wiederum misst in Echtzeit den Impact von TV-Werbung, indem es von Minute zu Minute die Entwicklungen in Online-Suchanfragen analysiert. Das Unternehmen arbeitet bereits eng mit ESPN, Turner, NBCUniversal, Warner Bros., Lionsgate und Paramount zusammen. Die Rechnung dahinter ist einfach: Zuschauer oder Nutzer fühlen sich durch gute Werbung angesprochen, was heutzutage bedeutet, dass sie eines ihrer Endgeräte in die Hand nehmen und nach dem Produkt suchen.

Weniger Werbung ist mehr


Diese neuen Strategien sind bereits etablierter in der Werbewelt als manch einer vielleicht denkt. Zusammenfassend liegt der Schlüssel für Fernsehsender darin, Zuschauer zu zählen, wo auch immer sie Inhalte anschauen. Doch trotz all der neuen Tools, die den Markt fluten, werden die meisten Deals immer noch auf Basis der Nielsen-Ratings verabschiedet, das gegenüber den deutschen Quoten einen Vorteil bietet, weil es nicht nur alle US-Haushalte umfasst, sondern auch VOD-Abrufe innerhalb von drei bis sieben Tagen miteinbezieht. Schon allein deshalb ist der US-Markt dem deutschen also deutlich voraus. Er kann verschmerzen, dass es noch kein universell akzeptiertes digitales Messsystem gibt, dass den Erfolg von Werbung garantiert. Demnach muss die Branche hierzulande aus eigener Kraft deutlich innovativer werden.

Ein weiterer, womöglich kontraintuitiver Trend lautet: Weniger Werbung. In der US-Branche wuchs in den vergangenen Jahren das Bewusstsein dafür, dass Sender und Werbekunden eher verlieren, wenn schier endlos wirkende Werbeblöcke ins Programm gepresst werden - besonders wenn Technologien zum Überspringen von Werbung und werbefreie Plattformen längst Realität sind. Fox will Werbung bis zum Jahr 2020 auf maximal zwei Minuten pro Stunde begrenzen (dabei lief Werbung 2018 noch durchschnittlich 13 Minuten in der Stunde). Auch NBCUniversal will ab dem vierten Quartal 2019 seine Werbung in der Primetime insgesamt um zehn Prozent reduzieren, wenn Original-Formate laufen sogar um 20 Prozent. Werbekunden scheinen dennoch willens zu sein, mehr Geld für ein weniger vollgestopftes Werbeumfeld auszugeben. Eine Win-Win-Win-Situation für Sender, Werbekunden und Zuschauer.
29.06.2019 11:46 Uhr  •  Timo Nöthling Kurz-URL: qmde.de/110343