14 Stunden 9Live – Der ganz normale Wahnsinn

Alexander Krei nahm sich einen Tag lang Zeit und schaute 14 Stunden 9Live – am Stück.

Es ist 12 Uhr. Nun soll er also beginnen, mein 9Live-„Selbstversuch“. Viel Schlimmes hat man in den vergangenen Jahren schon von „Deutschlands erstem Quizsender“, wie man sich selbstbewusst bezeichnet, gehört. Beim Einschalten bin ich auch schon vollkommen im Ratefieber: Aus den Buchstaben „I – M – K – E – R – F – A – R – B – E“ soll ein sinnvolles Wort entstehen. „Imkerfarbe“, so versichert der Moderator, der auf den Namen Matthias Lutz hört, immer wieder, sei komplett falsch. Sammeln könne man den gesuchten Begriff, die teuerste sei die „Blaue Mauritius“, wird mir erklärt. Klar, Briefmarke ist gesucht – ich weiß es ziemlich schnell. Als Gewinn werden 1.000 Euro angepriesen, das „schwierige Rätsel“ sei nur etwas für „Profis“. Prompt wird groß am oberen Bildschirmrand für eine „Profi-Runde“ geworben. Alles für 49 Cent pro Anruf. Dass wahrscheinlich schon hunderte Anrufer mit der richtigen Lösung nicht ins Studio gestellt wurden, sagt Lutz nicht, bittet jedoch die Zuschauer, auf ihr „Telefonierverhalten zu achten.“ Der „Hot Button“, zweifelsfrei neben „Euro“ und „01379 / 444 999“ das meistgenutzte Wort der fröhlichen 9Live-Animateure, hat noch immer nicht zugeschlagen. Auf Deutsch: Noch immer wurde niemand ins Studio gestellt. Mittlerweile ist es 12:13 Uhr. Wie schon vor fünf Minuten wünscht sich Lutz, dass „in zwei Minuten“ jemand „hier reingestellt wird“. 12:15 Uhr. Nichts passiert. Dramatische Musik und ein Ticken der Uhr soll den Zuschauern symbolisieren: „Jetzt ist es gleich soweit“. Wieder wünscht sich Lutz, dass gleich ein Anrufer mit der richtigen Antwort kommen soll, doch erst um 12:25 Uhr – nach Lutz’ drittem Versuch – ist es dann endlich so weit. Ein Kandidat löst endlich und nimmt 1.000 Euro mit nach Hause. Den Jackpot gewinnt er nicht.

Jetzt geht’s auf einmal verdammt schnell. Um 12:40 Uhr werden Sprichwörter gesucht, deren Buchstaben wie schon im ersten Spiel reichlich durcheinander gekommen sind. So bringt beispielsweise der Satz „NI RED RUÜZKE GIELT EID RÜWZE“ (ironischerweise „In der Kürze liegt die Würze“) einem Anrufer 40 Euro. „ALCHEN IST DEGUNS“ („Lachen ist gesund“; fraglich, über wen gelacht werden soll) ist da schon deutlich schwieriger, weshalb der „Hot Button“ plötzlich auch wieder 13 Minuten benötigt, um einen Anrufer zu finden. „Endlich wieder schnelle Runden“, denke ich mir – und so war es auch in den nächsten zehn Minuten. Doch meine Freude über das schnelle Tempo hielt nicht lange an.

In einem Wortgitter ging es darum, ein Sprichwort zu finden. Waagerecht und senkrecht galt es, nach sinnvollen Wörtern zu suchen. Was einem als erstes auffällt: „GELD STINCKT NICHT“. Kann’s aber leider nicht sein. Das scheint eine Anruferin nach nur wenigen Minuten nicht bemerkt zu haben und will das Rätsel stolz mit den Worten „Geld stinkt nicht!“ lösen. Völlig geschockt versucht Moderator Lutz der Dame begreiflich zu machen, dass ihre Antwort leider nicht die richtige sei. Doch er tröstet sie: „Ich weiß es auch nicht.“ Minuten von Warten und Bangen beginnen. Im Abstand von fünf Minuten wird eine so genannte „Tilk-Musik“, wie es der Moderator nennt, eingespielt. Spannung soll erzeugt werden. Nach vielen Hinweisen dürfte nun jedem klar sein, dass das seit 13:29 Uhr gesuchte Sprichwort „Der Ton macht die Musik“ lautet. Doch statt Anrufer gibt es immer wieder „Tilk-Musik“, Ticken und fromme Wünsche des Animateurs. „Gleich ist meine Sendung vorbei“, will Lutz den Zuschauern plausibel machen. Doch als Lutz um kurz nach 14 Uhr plötzlich nicht mehr da ist und die Zuschauer durch eine schrille Stimme aus ihren Träumen gerissen werden, wird nach wie vor nach des Rätsels Lösung gesucht. Um 14:15 Uhr hat sich endlich ein Mensch gefunden, der das mittlerweile zur „Profi-Experten-Runde hoch 3“ erklärte Spiel lösen kann – für 700 Euro.

Die schrille Stimme hat sich dem Publikum nicht vorgestellt. Erst nach ausgiebiger Recherche wird mir ihr Name bekannt: Sarah Wild. Und genau so moderiert sie auch. Um 14:15 Uhr starten schnelle Runden. In bekanntem Muster werden wieder kleinere Geldbeträge „verschenkt“, bis die Moderatorin an „David Hasselhoff“ verzweifelt. 10 Minuten lang rätseln Zuschauer und Animateurin, wer „Vida D. Hoffhassel“. Warum „D.“ angeblich alleine stehen muss, bleibt unbekannt. „Die bislang schwierigste Runde“, sagt Wild.

Aber es wird noch schwerer: Ab 14:39 Uhr werden zwei Bilder von David Hasselhoff (in 9Live-Kreisen auch Davi D. Hasselhoff) eingeblendet. Einen Fehler gilt es im rechten Bild zu entdecken. „Ich trau’ mich gar nicht, dahin zu sehen“, sagt die lebenslustige Moderatorin mit der Kermit-Stimme, die Lutz bereits am Mittag zu imitieren versuchte. Kein „Hot Button“-Spiel ist es nun, stattdessen gehe es darum, eine der vier offenen Leitungen zu erwischen. Immer wieder gibt es das mir mittlerweile bereits bekannte dramatische Ticken der Uhr. Immer wieder werden neue Countdowns gezählt. Nach vielen Minuten kreischt Wild plötzlich: Sie hat endlich den Fehler gefunden, was mich dazu veranlasst, den Fernseher etwas leiser zu drehen. 35 Minuten später sahnt ein Anrufer 600 Euro ab.

Die bekannten schnellen Spiele folgen, bis Sarah Wild am Wort „Augenarzt“ verzweifelt. Sie glaubt fest daran, dass in dem Buchstabensalat „Gartenzaun“ zu finden ist, gibt sogar den Hinweis, man könne das Lösungswort um jeden Rasen sehen. Die Redaktion muss Frau Wild allerdings enttäuschen und so entschuldigt sich die nun völlig verwirrte Moderatorin bei den Zuschauern für die falschen Tipps. Nicht einmal der Hinweise „Sinnesorgan“ bringt die 22-Jährige auf den richtigen Weg. Ständig werden Fotos von bisherigen Gewinnern eingeblendet. Überschrift: „Schlau gewinnt“. (Kein Kommentar.) Kurz vor Ende ihrer Sendung erhält Wild dann endlich den helfenden Hinweis (einen Wink mit dem Zaunpfahl, sozusagen) und animiert wieder zum Anrufen. Das Spiel läuft bereits seit 40 Minuten. Um kurz nach 16:00 Uhr treffe ich einen alten Bekannten wieder: Jürgen Milski, der Teil der ersten Staffel von „Big Brother“ war. Er übernimmt das Rätsel und gibt mit rheinischer Gemütlichkeit Tipps an die Zuschauer. Nach 55 Minuten, um 16:14 Uhr, wird endlich der „Augenarzt“ erraten. Mir fällt ein Stein vom Herzen.

Alexander Krei nahm sich einen Tag lang Zeit und schaute 14 Stunden 9Live – am Stück.

Zum meinem Erstaunen vergehen die kommenden 15 Minuten sehr schnell. Leichte Spiele und verhältnismäßig hohe Beträge werden „verschenkt“. Dann der Schock: Um 16:35 Uhr werden die Zuschauer dazu aufgefordert, alle „€uros“ zu zählen, die auf einer Tafel versteckt sind. Es sei gar nicht schwer, doch nach 83 Minuten und weit über 70 Anrufern mit der falschen Lösung wird das Spiel erstmal beendet. Milski: „Isch hab mit meiner Redakteurin gewettet, dass Sie dat nach sieben Minuten raus haben.“ Wette klar verloren. Stattdessen gibt es ab 17:58 Uhr ein „Streichholz-Spiel“. Der Moderator: „Welschen Streischholz müssen Sie umlegen, damit die Reschnung schtimmt?“. Die Gleichung „3+5=6“ wird eingeblendet. Richtige Lösung: „3+3=6“. 3.000 Euro Siegprämie werden ausgeschrieben. Bei einem solch hohen Betrag war mir nach meiner Erfahrung schnell klar: „Das kann länger dauern!“ Die für 18:00 Uhr angekündigte Wiederholungsfolge der „Sat.1 Quizshow“ entfiel und so musste ich leider auf meine wohlverdiente Pause verzichten. Um 18:30 Uhr dann: Schichtwechsel. „Der Marc“ machte mit dem Streichholz-Spiel weiter und die Minuten plätschern vor sich Doch plötzlich – um 19:17 Uhr, also geschlagene 78 Minuten später – wurde aus „3+5=6“ endlich „3+3=6“. Nach 162 Minuten hatte 9Live, wo man bis vor kurzem noch mit dem Slogan „Hier gewinnen Sie mehr“ warb, endlich seinen nächsten Sieger. Wieder folgten schnelle Runden.

Gegen 20:00 Uhr waren dann die Zeichenkünste des Moderators gefragt, doch am Wort „Donaudampfschifffahrtsgesellschaft“, das es zeichnerisch umzusetzen galt, schien das Publikum zu verzweifeln. Erst gegen 21:15 Uhr konnte gelöst werden und so nahm ein Anrufer 1.500 Euro mit nach Hause. Mit 15 Minuten Verspätung begann dann „Alle gegen Draeger“, eine Spielshow mit ‚realen Kandidaten’ – ohne Call-in. Endlich Zeit für eine Pause!

Um 21:45 Uhr ging es dann schon weiter: Anna Heesch, die „Bunte“-Leser nur als ‚die Ex vom Spengemann’ kennen, moderierte. Leichte Fragen und verhältnismäßig hohe Geldgewinne überraschten dann sogar mich. Nur auf das Wort „Sandkasten“ kommt die Blondine nicht. Sie fragt: „Bin ich blöd oder bin ich blöd?“ Aber sie gibt sich auch selbstbewusst: „Wir (9Live) müssen uns nicht verkleiden als Sportsender oder Musiksender. Wir sind die ersten und werden die letzten sein.“

>Geld wird auch ab 23:00 Uhr bei Moderatorin Tina Kaiser „verschenkt“. Und bis weit nach Mitternacht begegnet dem Publikum auch wieder das „Zählen Sie alle möglichen €uros“-Spiel von „Big Brother“ Jürgen. Wieder braucht es unzählbar viele Anrufer, die die Lösung zwischen 9 und 2115 vermuten. Doch eine Kandidatin hat Erfolg: Ob durch Nachrechnen oder Glück erhält sie 5.000 Euro – der Höchstgewinn des Tages. Bis bei 9Live die Bürgersteige hochgeklappt werden, werden die Spiele wieder einfacher. Noch knapp 90 Minuten lang werden mit selbstgemalten Bilderrätseln und Wörterschlangen Geldpreise unter das meist schon schlafende Volk gebracht, ehe dann auch ich endlich ins Bett entlassen werde. Nachdenklich stimmt mich allerdings die Tatsache, dass Tina Kaiser tatsächlich darüber verwundert scheint, dass 9Live „nicht so gute Quoten“ hat. Daran würde man aber noch arbeiten, so die Moderatorin selbstbewusst.

Mein Fazit nach 14 Stunden: 9Live ist vom Unterhaltungswert zwar nicht schlimmer als sein Ruf, allerdings immer noch schlimm genug. Das Schema ist schnell durchschaubar; der Wortschatz der Animateure hält sich in Grenzen. Rund 30.000 Euro haben die „Stars“ des Senders zwischen 12 Uhr mittags und 2 Uhr nachts verteilt. Elf Fragen bei Jauch sind allerdings weitaus spannender.
31.05.2011 06:00 Uhr  •  Alexander Krei  •  Quelle: Erstveröffentlichung 2005 Kurz-URL: qmde.de/11028