«Avengers || Endgame». Semikolon.

21 Filme, 11 Jahre. All dies führte hier hin. Zum «Endgame». Übernimmt sich Marvel mit dem Versuch, der umfassenden Infinity-Saga ein harmonisches Finale zu bereiten, ohne dabei endgültig die Comic-Segel zu streichen? Oder gelingt dem Erfolgsstudio ein formvollendetes Film-Semikolon?

«Kill Bill Vol. 2»


Das 'Marvel Cinematic Universe' in Deutschland

  • «Iron Man»: 0,8 Mio. Ticketverkäufe
  • «Der unglaubliche Hulk»: 0,2 Mio. Ticketverkäufe
  • «Iron Man 2»: 1,0 Mio. Ticketverkäufe
  • «Thor»: 1,1 Mio. Ticketverkäufe
  • «Captain America»: 0,3 Mio. Ticketverkäufe
  • «Avengers»: 2,2 Mio. Ticketverkäufe
  • «Iron Man 3»: 1,9 Mio. Ticketverkäufe
  • «Thor – The Dark Kingdom»: 1,4 Mio. Ticketverkäufe
  • «The Return of the First Avenger»: 0,8 Mio. Ticketverkäufe
  • «Guardians of the Galaxy»: 1,8 Mio. Ticketverkäufe
  • «Avengers – Age of Ultron»: 2,4 Mio. Ticketverkäufe
  • «Ant-Man»: 0,5 Mio. Ticketverkäufe
  • «The First Avenger – Civil War»: 1,7 Mio. Ticketverkäufe
  • «Doctor Strange»: 1,5 Mio. Ticketverkäufe
  • «Guardians of the Galaxy Vol. 2»: 2,5 Mio. Ticketverkäufe
  • «Spider-Man: Homecoming»: 1,0 Mio. Ticketverkäufe
  • «Thor – Tag der Entscheidung»: 1,5 Mio. Ticketverkäufe
  • «Black Panther»: 1,7 Mio. Ticketverkäufe
  • «Avengers | Infinity War»: 3,4 Mio. Ticketverkäufe
  • «Ant-Man and the Wasp»: 0,8 Mio. Ticketverkäufe
  • «Captain Marvel»: 1,9 Mio. Ticketverkäufe
Gesamtergebnisse; Stand: 22. April 2019
2003 stürmte Quentin Tarantino mit «Kill Bill Vol. 1» auf die Leinwand, einem wilden, wütenden Actionfeldzug von einem Film. Vor allem die letzte große Schlacht ist wild. Und sie ist wütend. Und sie ist, so lange sie läuft, überaus befriedigend. Für die Protagonistin. Und das Zielpublikum, das hier mit einem ruhelosen, stark choreografierten Wust an Actionszenen attackiert wird. Doch der Heldin bleibt das Happy End verwehrt. Im 2004 veröffentlichten nächsten Part führt der Oscar-Preisträger die so stürmisch begonnene Geschichte fort – wechselt dabei jedoch Erzähltempo und Tonalität. In «Kill Bill Vol. 2» hofft die Rächerin Beatrix Kiddo, brillant gespielt von Uma Thurman, Wiedergutmachung für all ihr Leid zu erfahren: Alles, was ihr lieb und teuer ist, wurde ihr genommen. Und der Mann, der dafür verantwortlich ist, soll dafür zahlen.

Bloß sieht Regisseur und Autor Quentin Tarantino nicht ein, den entfesselten Actionritt des ersten Teils nahtlos fortzuführen. Er entschleunigt die Erzählung vehement, entführt Beatrix Kiddo (und das Publikum) aus der rasanten, actiongetriebenen Filmwelt des Vorgängers, hin in eine Art Genrefilmdrama. Es entfaltet sich eine mit lakonischem Dialogwitz und lose gesäter Situationskomik aufgelockerte Narrative über die bislang unterdrückten Emotionen der Filmheldin. Es geht um ihr aufgezwungene sowie um von ihr selbst vorangetriebene Reflexionen über Kummer, Selbsthass ob vertaner Chancen und Ratlosigkeit ob ihrer jetzigen Situation. Kampfszenen lassen sich, gemäß der Genrenatur sowie der Persönlichkeit Kiddos und ihrer Widersacher, nicht vermeiden, sind nun aber komprimierter und geschehen in größeren Abständen zueinander.

So sehr er auch schon beim Kinostart geachtet wurde: «Kill Bill Vol. 2» enttäuschte einst vereinzelte Kinogängerinnen und Kinogänger, die sich stur auf eine exakte Fortführung dessen eingestellt haben, was «Kill Bill Vol. 1» zuvor an Tempo und ausgedehnten, kurzweiligen Kämpfen aufgefahren hat. Aber «Kill Bill Vol. 2» ist, versteift man sich nicht auf eben diese Erwartungshaltung, ein erzählerisch genialer Kniff, der die Ereignisse konsequent, dramatisch und mit großem Respekt vor dem Innenleben der handelnden Figuren weiterspinnt. Kein Wunder, dass die Zeit mehr als nur gnädig mit der «Kill Bill Vol. 2»-Rezeption umging – er wird zunehmend als das gesehen, was er sein will und in Tarantinos Augen sein muss, statt als das, was actionhungrige Filmfans erhofften, denen im Zuge von Teil eins der Sinn nach Übersättigung stand.

«Ocean's 13»


Das eingespielte Team ist nicht mehr dasselbe: Ein ausgebuffter Fiesling hat es geschafft und zumindest einen von ihnen dermaßen überlistet, dass er nun Schachmatt ist. Die verbleibenden Mitglieder dieses bunt zusammengewürfelten Trupps wollen Genugtuung für den (ans Krankenbett) verlorenen Kameraden und plant einen Rachefeldzug. In Steven Soderberghs Heist-Komödie «Ocean's 13» bedeutet dies jedoch nicht, dass Waffengewalt sowie fliegende Fäuste auf der Tagesordnung stehen.

Nein, in der 2007 gestarteten, sich verflixt kreativ entfaltenden Fortsetzung einer Erfolgsfilmreihe voller berühmter Namen hecken die Heroen einen verschachtelten Plan aus, um ihr Ziel zu erreichen. Dieser verlangt paradoxerweise ähnlich viel Improvisationstalent wie punktgenaues Planungsvermögen, verzweifelte Maßnahmen und jede Menge Köpfchen.

Gewiss, schon in «Ocean's Eleven» und «Ocean's 12» zeigten sich die Hauptfiguren nicht gerade als aggressiv, doch in «Ocean's 13» verzichtet Soderbergh nun völlig auf diverse Genrekonventionen, um auch ohne klassische Raubzug-Zutaten einen Film zu kreieren, der durch und durch sein Genre auslebt. «Ocean's 13» ist ein Heist-Movie par excellence, ohne dass es zu Verfolgungsjagden kommt oder die Helden Waffen zücken müssten – stattdessen verlassen sie sich auf ihren originellen, minutiösen Plan, was zu mehreren gewitzten Situationen führt und ihnen mehrmals Gelegenheit gibt, zu glänzen, indem sie ihre Persönlichkeit und ihre ganz eigenen Fähigkeiten ausspielen.

«Endgame»


Filmfacts: «Avengers || Endgame»

  • Regie: Joe & Anthony Russo
  • Drehbuch: Christopher Markus & Stephen McFeely
  • Produktion: Kevin Feige
  • Darsteller: Robert Downey junior, Chris Evans, Mark Ruffalo, Chris Hemsworth, Scarlett Joahnsson, Jeremy Renner, Don Cheadle, Paul Rudd, Brie Larson, Karen Gillan, Danai Gurira, Bradley Cooper, Gwyneth Paltrow, Josh Brolin
  • Kamera: Trent Opaloch
  • Schnitt: Jeffrey Ford, Matthew Schmidt
  • Musik: Alan Silvestri
  • Laufzeit: 182 Minuten
  • FSK: ab 12 Jahren
Ihr kennt das Spiel vielleicht bereits aus unserer Vorabrezension zu «Avengers | Infinity War»: Es bringt nichts, an dieser Stelle die alltäglichen Kritikerpfade zu beschreiten. Zunächst, da die Presse dem Verleih versichern musste, keine inhaltliche Überraschungen zu verraten – was angesichts des sehr vage gehaltenen Marketings dieses Mal noch schwerer einzuhalten ist als beim dritten «Avengers»-Film. Vorab wurden schließlich nur sehr rudimentäre inhaltliche Aspekte aus «Avengers || Endgame» kommuniziert.

Mehr noch verpflichten wir uns in dieser Kritik dazu, uns mittels ungefährer Vergleiche und nicht all zu expliziter Urteile auszudrücken, um jenen gerecht zu werden, die sich diesen Artikel mehrheitlich im direkten zeitlichen Umfeld des «Avengers || Endgame»-Starts durchlesen dürften. Denn ein großer Teil der Marvel-Fangemeinde möchte dem Promoruf der Marvel Studios folgen und möglichst ahnungslos ins Kino schreiten, statt die Möglichkeit eines ungetrübten Filmgenusses durch eine Überraschungen schwach hütende Filmkritik dahinschwinden zu sehen.

Dessen ungeachtet sollte selbst eine spoilerfreie Kritik zu solch einem vor kompromissloser Passion zum Ausgangsmaterial und den Vorgängerfilmen strotzenden, mit dem Budget einer mittelgroßen Nation hantierenden Leinwandevent, das elf Kinojahre abrundet, gerne mehr ausdrücken als bloß: "Hui! Ein überaus würdiger Abschluss!" Wie also dieses Mal die Erwartungshaltung von Fans, Gelegenheitskinogängern und Zweifelnden einnorden, dem Film gerecht werden und trotzdem vage bleiben? Lasst es uns erneut versuchen: Die regieführenden Brüder Joe & Anthony Russo lieben es nach eigener Aussage, sich mit ihren Filmen in Ecken zu malen. «The Return of the First Avenger» löst die zuvor im Marvel-Filmuniversum so wichtige Organisation S.H.I.E.L.D. auf, «The First Avenger: Civil War» bricht die Avengers auseinander und «Avengers | Infinity War» endet mit der katastrophalsten Niederlage, die sich die Titelhelden je hätten denken können.

Was die Russos so sehr daran reizt, mit dem Rücken zur erzählerischen Wand zu stehen: Es zwingt sie (und viel mehr noch die mit ihnen kollaborierenden Autoren Christopher Markus & Stephen McFeely), kreative Anstrengungen zu unternehmen, um eine Antwort auf das scheinbar Unbeantwortbare zu finden. So manche Fernsehserie und Comicreihe tat sich leicht darin, ähnliche Zwickmühlen mit einem läppischen "Na gut, es war alles nur ein Traum!" oder ähnlichen feigen Reaktionen aufzulösen. «Avengers || Endgame» dagegen verpflichtet sich der emotionalen Schwere dessen, was «Avengers | Infinity War» gezeigt hat – und bremst somit den wuchtigen Schwall an Action aus dem Vorgängerteil massiv aus. «Avengers || Endgame» ist daher, zwar nur partiell, aber sehr wohl zu einem nicht zu beachtenden Teil, ein Überlebenden-Drama:

McFeely, Markus und die Russos fangen ein, was Thanos' Schnippsen mit jenen gemacht hat, die nicht zu Staub zerfallen sind – und gehen dabei überraschende, dennoch der bisherigen Charakterzeichnung der Überlebenden angemessene Wege. Während ein Ex-Avenger ein offenes Ohr für die Sorgen und Schuldgefühle Anderer hat, brodelt woanders Zorn und wieder woanders werden bisherige Lebensentwürfe über Bord geworfen. Das ermöglicht es dem Cast, sich weiter in seinen Marvel-Rollen zu entfalten. Die menschelnden Zwischentöne, die charaktergetriebenen ruhigen Momente, haben den besten Filmen des Marvel Cinematic Universe erst ihr Profil gegeben, und «Avengers || Endgame» lebt davon, das, was bisher nur Zwischentöne waren, zur Sinfonie auszuweiten.

Ein altes Marvel-Motto besagt, dass dieses Comichaus von Superhelden mit Superproblemen erzählt – und «Avengers || Endgame» unterwirft sich diesem Versprechen auf bislang nie dagewesene Weise, unterstreicht es doch doppelt und dreifach den letzten Part. Aber es ginge nicht um Superhelden mit Superproblemen, stünden allein die Superprobleme im Vordergrund – logisch. «Avengers || Endgame» dreht sich nun einmal um die Avengers (oder besser: um das, was von ihnen übrig ist), und die sitzen all ihrem Kummer zum Trotz nicht den ganzen Film über tatenlos herum und blasen Trübsal. Sie klammern sich an jedem Strohhalm, der ihnen Genugtuung für Thanos' Taten verspricht. Und so kommt es in den drei Stunden Laufzeit zwar zu deutlich weniger Action als noch in «Avengers | Infinity War», dessen ungeachtet kommt es zu ihr.

Diese Passagen sind (weitestgehend) kompakter als im Vorläufer, da die Marvel Studios dieses Mal (ähnlich wie in «The First Avenger: Civil War», nur auf einer deutlich größeren Bühne mit drastischerer Fallhöhe) mehr Raum als gewohnt für die Empfindungen der Figuren lassen: Was macht das, was geschehen ist und wie es beantwortet wird, mit Captain America, Ant-Man, Nebula, Black Widow und Konsorten? Und wie beeinflusst das Befinden dieser Heldentruppe ihren halb improvisierten, halb punktgenau durchdachten Plan?

Das Ergebnis sind figurengetriebene, findige Actionpassagen von passionierten Comicfilmschaffenden für das Marvel-Fanpublikum, die mit Erwartungen spielen und mehr von ihrer (dem Ernst des Ganzen nicht im Weg stehenden) gewitzten Kreativität leben als von der Wucht, dem Tempo und der Grandeur aus «Avengers | Infinity War». Es ist, auf eine verquere Art, ein Marvel-Mix aus der entschleunigten, sinnierenden Art von «Kill Bill Vol. 2» und der verspielt Genreaspekte auslassenden und dennoch diebisch das volle Gangsterpossenerlebnis bietenden Attitüde von «Ocean's 13».

Finalität


Eine noch größere Bürde als das Anschließen an «Avengers | Infinity War», die «Avengers || Endgame» zu tragen hat, ist die Erwartungshaltung, dass dieser Film ein Finale bietet und dennoch die Tür für weitere Einträge ins Marvel Cinematic Universe offen lässt. Es ist so, als hätte man einst von «Lost» nicht nur ein endgültiges, emotionales sowie überraschendes Ende erwartet, sondern zudem das Vorbereiten von Spin-Offs. «Avengers || Endgame» hält in Sachen Geheimhaltung, Einfallsreichtum und gebotener Emotionalität mit dem kultigen ABC-Hit mit, übertrifft ihn gar – wie aber sieht es mit diesem kniffligen Balanceakt aus, die Infinity-Saga dieser Filmreihe abzuschließen und dennoch auf stimmige Weise nicht den Endpunkt für die Marvel Studios darzustellen?

An diesem Punkt macht es sich wohl bezahlt, altgediente Storytelling-Erwartungen aufzugeben. Als etwa die «Der Herr der Ringe»-Trilogie beendet wurde, war einfach Schluss. Es stand kein Legolas-Film in den Startlöchern oder eine Gandalf-Fernsehserie. «Avengers || Endgame» spielt ein anderes Spiel. Es werden nicht ausschließlich Schlusspunkte gesetzt, gleichwohl endet der Film nicht mit dem narrativen Pendant zu einem Komma. «Avengers || Endgame» ist in vielerlei Hinblick ein Abschluss, ohne das Weiterschreiben des Marvel Cinematic Universe zu verhindern.

Das mag, emotional nüchtern und aus der Ferne gediegener Erzähltraditionen betrachtet, so anmuten, als wolle Marvel zwei unvereinbare Dinge auf einmal haben wollen. Und doch finden die Marvel Studios einen Weg, der zumindest für die meisten versöhnlich sein dürfte, die Sympathie für diese Filmwelt aufbringen. Dieser immense Erzählabschnitt des MCU endet schlüssig und konsequent, gleichwohl bleibt der Raum offen, um neue Konflikte entstehen zu lassen. Das nimmt «Avengers || Endgame» dank der versierten Regieführung der Russos und des die Figuren intuitiv verstehenden Drehbuchs des Duos McFeely & Markus nichts vom dem empfundenen Finalcharakter.

Es ist zwar schade, dass ein großer Actionmoment aufgrund der gräulichen Farbästhetik und der nicht an die Klarheit von «Avengers» oder «Avengers | Infinity War» heranreichenden Choreografie deutlich chaotischer ausfällt, als es dem so dekonstruierenden Rest des Films zu Gesicht stünde. Aber die treffsicheren Charaktermomente, die sich in ihm ergeben, gleichen das wieder aus und machen «Avengers || Endgame» so zu der das Marvel-Filmuniversum kulminieren lassenden Antwort, die «Avengers | Infinity War» provoziert hat. Selbst wenn (oder eher: gerade weil) es Erwartungen verformt.

Fazit: Nach dem ruhelosem Katastrophenfilm «Avengers | Infintiy War» und seinem bedrohlichen "…" erfolgt mit «Avengers || Endgame» ein außergewöhnliches Superheldendrama, das dennoch abenteuerlich-spaßige Passagen mitbringt und mit einem ";" ausklingt, einem Ende, das trotzdem eine Weiterführung gestattet. «Avengers || Endgame» ist ganz großes Superheldenkino, das seinen Konventionen trotzt und dennoch beispiellos die Genreessenz trifft.

«Avengers || Endgame» ist ab sofort in vielen deutschen Kinos zu sehen – in 3D und 2D.
24.04.2019 00:01 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/108823