Das interaktive «Black Mirror»-Storylabyrinth: «Bandersnatch»

Ein Gimmick, aber ein inhaltlich und handwerklich sehr gelungenes: «Black Mirror» ist für die Dauer eines Films interaktiv geworden.

Netflix möchte ein Spiel mit dir spielen


Cast und Crew

  • Regie: David Slade
  • Drehbuch: Charlie Brooker
  • Darsteller: Fionn Whitehead, Will Poulter, Asim Chaudhry, Craig Parkinson, Alice Lowe, Tallulah Haddon, Laura Evelyn, Catriona Knox, Jonathan Aris
  • Produktion: Russell McLean
  • Ausführende Produzentin: Annabel Jones
  • FSK: ab 16 Jahren
Etwa fünf Jahre ist es her, als Carla Engelbrecht zu Netflix gelang, um sich der Kinder- und Familienprogrammplanung des Video-on-Demand-Anbieters zu widmen. In Gesprächen mit ihrem Vorgesetzten, dem Produktchef Toyy Yellin, wurde alsbald klar, dass beide großes Interesse daran haben, an Engelbrechts Vergangenheit im Bereich des interaktiven Entertainments anzuknüpfen. Unter anderem verantwortete sie bereits «Sesamstraße»-Wii-Spiele. Gemeinsam mit DreamWorks Animation setzte man sich also dran, interaktive Filme bei Netflix anzugehen. Für Netflix war dies als Testplattform gedacht, denn: "Kinder wissen nicht, wie etwas laufen sollte", erklärt Yellin 'Wired'. Wenn Kinder solche Inhalte schon nicht akzeptieren, so ist die Chance bei Erwachsenen noch geringer. Noch während der Produktionsphase interaktiver Netflix-Kinderinhalte suchte man beim Streamingdienst jedoch den Kontakt zu den Köpfen hinter einer ganz und gar nicht kinderfreundlichen Sendung: Man konfrontierte «Black Mirror»-Schöpfer Charlie Brooker und die ausführende Produzentin der dystopischen Serie, Annabel Jones, mit den bereits getätigten Ergebnissen, in der Absicht, sie dazu zu überreden, eine interaktive Folge zu machen.

Während Yellin laut 'Wired' positive Erinnerungen an das erste Treffen im Frühling 2017 hat, erinnert sich Charlie Brooker ganz anders an seine Reaktion: "Ich glaube, wir gingen aus dem Raum heraus uns sagten: 'Nein!'" Er fühlte sich an alte CD-ROM-Videospiele erinnert, was Assoziationen mit einer sperrigen Steuerung geweckt habe. Dann aber überkam es Brooker und Jones in einem Story-Meeting für neue «Black Mirror»-Folgen: Man dachte darüber nach, eine Episode über einen Videospielentwickler in den 80er-Jahren zu machen, der versucht, einen Wähle-dein-eigenes-Abenteuer-Roman als Videospiel zu adaptieren. Brooker sei aufgeschreckt, in der Erkenntnis, dass diese Geschichte nur interaktiv ihr volles Potential entwickeln könnte. "Oh scheiße, jetzt müssen wir das so machen. Und das wird sicherlich kompliziert."

Erlebe das interaktive Abenteuer, wie Stefan ein interaktives Abenteuer adaptieren will


Brooker stieg in genau diesen Kaninchenbau herab: «Black Mirror: Bandersnatch» ist ein interaktiver Film, der die Dramaturgie typischer 80er-Jahre-Romane im Wähle-dein-eigenes-Abenteuer ebenso adaptiert wie den narrativen und steuerungstechnischen Duktus von Videospielen, die sich von ihnen inspirieren ließen. Er handelt von Stefan (Fionn Whitehead). Stefan ist ein Teenager, der in seiner Freizeit Videospiele entwickelt und großer Verehrer des Wähle-dein-eigenes-Abenteuer-Romans «Bandersnatch» ist. Als er beschließt, diesen Roman als Videospiel zu adaptieren, stellt er sich bei der Hit-Videospielfirma Tuckersoft vor, wo sein Videospiel-Entwickleridol Colin Ritman (Will Poulter) arbeitet. Und der Rest der Handlung liegt in den Händen derer, die sich den Film gerade anschauen … Oder etwa doch nicht!?

Autor Brooker verankert «Bandersnatch» auf mehreren Ebenen. Für manche wird es eher ein Referenzenfest sein, ein "So etwas habe ich lange nicht mehr erlebt"-Nostalgieerlebnis, ein "Hier verschmelzen mir bereits bekannte Medien zu einem Hybriden"-Trip: Wer Wähle-dein-eigenes-Abenteuer-Romane gelesen hat, oder Ausgaben der «Lustigen Taschenbücher» von Walt Disney mit Wähle-dein-eigenes-Abenteuer-Comics, wer Videospiele im Stile des Games gezockt hat, das Stefan hier zu programmieren versucht, oder aber alternativ Erfahrungen mit Videogames der kurzen "Full Motion Video"-Ära hat … Tja, diese Leute kann Brooker in «Bandersnatch» kaum mit Neuerungen überraschen. Sie kennen das Grundprinzip, also gilt es, eine Hommage abzuliefern, die schlicht in der Umsetzung anstrebt, zu den besseren Vertretern dieser holprigen Erzähltradition zu gehören.

Und so gibt es abrupte, frühe Wege, die Geschichte enden zu lassen. Und spätere Enden, die thematisch jedoch völlig unvorbereitet aus dem Nichts kommen und das bisher Gesehene aus links drehen. Es gibt Szenen, in denen Figuren fast schon direkt in die Kamera sprechen und mit ihren Dialogen alles andere als subtile Hinweise über die Steuerung, die Steueroptionen oder den bestmöglichen Spielverlauf geben. Manchmal hat man nur scheinbar freie Wahl. Das ist alles nicht neu, in dieser Umsetzung aber eben doch: Die Steuerung dieses filmischen Videospiels (oder videospielhaften Films) läuft wie geschmiert, die filmische Immersion bleibt deutlich stärker intakt als bei FMV-Games und allen Sackgassen zum Trotz ist die narrative Dichte stimmiger, in sich schlüssiger, als in Wähle-dein-eigenes-Abenteuer-Geschichten üblich.

Und alle, die bislang keinerlei Berührungspunkte mit dem hatten, worauf sich Brooker in «Bandersnatch» bezieht, bekommen eine Meta-«Black Mirror»-Folge zum Mitgestalten, in der die Regeln dieses Mediums zügig erklärt werden und sich das vor einem ausbreitende Geflecht aus Mystery, Psychodrama und dystopischem Thriller inhaltlich gewieft mit dem interaktiven Gimmick doppelt. Abhängig vom bislang gewählten Weg des Medienkonsums ist es hypnotische Innovation oder kesse Gimmick-Hommage – oder aber der Funke zündet einfach gar nicht und man liegt schon bald desillusioniert am Boden. Es kann ja nicht immer funktionieren.

«Bandersnatch» weiß, was du bisher getan hast (und Netflix auch)


In der «Bandersnatch»-Entwicklungsphase ging Brooker zunächst davon aus, das Skript fast so wie bei einer normalen Episode anlegen zu können – nur mit ein paar variablen Schlussoptionen. Dann aber kam ihm der Gedanke: "Was, wenn sich die Story daran erinnern könnte, wie man sich zuvor entschieden hat?" Das verkomplizierte nicht nur die Produktion enorm und sorgte unter anderem dafür, dass Netflix technische Dinge am Speicher des Nutzerinterfaces adaptieren musste, um Brooker dies zu ermöglichen. Der «Black Mirror»-Twist in unserer Realität daran ist natürlich, dass Netflix zwar einerseits einem kreativen Kopf gestattet hat, neue Wege zu beschreiten, andererseits ein Riesenkonzern nun völlig neue Pfade kennt, das Verhalten seiner Kundschaft auszuwerten. Freude!

Wie dem auch sei: Es hilft, «Bandersnatch» flüssiger und erzählerisch intuitiver zu gestalten, als von den meisten seiner Vorbilder gewohnt. Es gibt beispielsweise eine Möglichkeit, «Bandersnatch» schneller zu beenden als eine reguläre Folge von «Die Simpsons». Statt alle, die diesen Weg entlang geschritten sind, mit herausgestreckter Zunge zurück an den Filmbeginn zu schicken, damit sie mehr von ihrem interaktiven «Black Mirror»-Abend (oder -Morgen oder -Nachmittag, wen juckt's?) haben, passiert folgendes: Wer sich früh in eine Sackgasse manövriert hat, erhält eine abgewandelte Fassung des Filmbeginns voller unheimlicher Déjà-vus. So wird die atmosphärische und erzählerische Integrität wieder hergestellt.

So verläuft es zwar nicht durchweg, aber auf vielen Pfaden von «Bandersnatch»: Wenn wir an alte Stellen zurückkehren (sei es, weil wir uns bislang geweigert haben, eine Storypassage zu erreichen, die Charlie Brooker wohl als zentrales Element erachtet hat, oder weil wir uns in ein Joke-Ende gestürzt haben), verweist «Bandersnatch» darauf. Teils mit Ironie, teils, indem der psychologische Verfall unserer Hauptfigur unterstrichen wird. War alles Bisherige ein Traum? Eine Wahnvorstellung? Ist er nur eine Videospielfigur und gerade wurde das Level neu gestartet?

Gelungenes Gimmick


Es gibt fünf Enden, die Produzentin Annabel Jones laut 'The Hollywood Reporter' als "richtige Enden" betrachtet, nimmt man Joke-Enden hinzu, nach denen kaum eine an «Black Mirror» interessierte Seele sagt "jau, ich bin durch, jetzt binge ich «Fuller House»", kommt man nach jetzigem Stand auf zehn Enden. So viele haben die Fans bislang entdeckt und im Web geteilt, auch wenn Charlie Brooker bei 'The Hollywood Reporter' die These aufstellt, dass es mehr geben könnte – er selbst hätte schon vergessen, wie viele es gibt, geschweige denn, wie man sie erreicht. Wer sich alle (bekannten) Endpunkte anschauen möchte, dürfte mit einem Erlebnis von etwas mehr als zwei Stunden rechnen, Netflix selbst schätzt das Durchschnittserlebnis mit dem Film auf 90 Minuten. Dennoch gibt es rund fünf Stunden Filmmaterial – was an den winzigen Variationen liegt, die es je nach bislang gewähltem Weg gibt. So ändern manche Szenen ihren Soundtrack und auch tragische Enden von «Bandersnatch» können darin variieren, welche Nebenfiguren es miterleben.

Einen idealen Weg, «Bandersnatch» zu sehen/spielen, gibt es nicht. Jedenfalls so lange man wenigstens interaktiv mitspielt. "Wenn du gar nichts machst, bekommst du ein echt mieses Erlebnis", sagt Regisseur David Slade 'The Hollywood Reporter', der sich auch daher gegen die Veröffentlichung eines linearen Director's Cuts entschieden hat. «Bandersnatch» lebt auch von der Meta-Ebene, dass wir Stefan und seine Umgebung kontrollieren, und sowohl der Witz daran als auch die potentiellen Fragen, die das Material aufwirft, gehen verloren, wenn man sich nicht in die Geschichte hinein lehnt.

Wichtig ist wohl nur eins: Es gibt mehrere Momente, in denen «Bandersnatch» fragt, ob man eine frühere Entscheidung rückgängig machen möchte oder lieber zum Abspann übergehen will. Diese Option erscheint oben rechts am Bildrand – und hier wird leider nicht zwischen "zweitklassigen" Enden und potentiellen, runden Schlussmomenten unterschieden. Es wäre vielleicht klüger gewesen, da eine Hierarchie aufzubauen, und visuell bei manchen Enden sozusagen den Abspann als naheliegende Wahl und die Änderung als abweichende Option zu suggerieren. Ein Ende jedoch wird vom Abspann unterbrochen, ganz gleich, wie früh oder spät man es erreicht – dies ist das Ende, das laut Netflix' Prognosen vor «Bandersnatch»-Veröffentlichung "das häufigste" sein wird.

Und dann gibt es noch die Möglichkeit, dass man zahlreiche Enden durchspielt und den Protagonisten aus diversen Wahnvorstellungen, Albträumen und Horrorvisionen aufschrecken lässt, bis einen «Bandersnatch» mit dem Abspann konfrontiert, völlig ohne Option, etwas zu ändern. In dem Fall hat man zwar nicht sämtliches Filmmaterial gesehen, wohl aber eine Art erzählerisches Rundumpaket: Sowohl die thematischen Ideen hinter «Bandersnatch» über Überwachung, Kontrolle, Wahnhaftigkeit und Schicksal als auch der emotionale, figurenbezogene Bogen ist dann erschöpft. Manuell besteht die Möglichkeit, ins Menü zurückzukehren und frühere Entscheidungen rückgängig zu machen – aber hier empfiehlt es sich, lieber «Bandersnatch» sacken zu lassen und irgendwann neu zu starten, will man Komplettist sein.

Kleine Holprigkeiten gibt es also in «Bandersnatch», wenngleich Brooker und Regisseur Slade es geschafft haben, einen weitestgehend homogenen Erzählduktus einzuschlagen, der sowohl funktioniert, wenn man nach einem Ende sagt "Ich denke, das war's nun für mich", als auch bei Leuten, die sich bis zum "Zwangsabspann" durchkämpfen. Hinzu kommen das «Black Mirror»-typische, edel-dunkle Produktiondesign sowie die sehr guten Schauspielleistungen von Fionn Whitehead als zunehmend verloren wirkender Protagonist und Will Poulter, der als enigmatischer Vielleicht-Mentor schaurig, charismatisch, fragwürdig und freundlich zugleich ist.

Für solch ein gelungenes Storytelling-Serienexperiment ist es doch ein kleiner Preis, dass die einst für Ende 2018 geplante, fünfte «Black Mirror» aufgrund der von «Bandersnatch» provozierten Auslastung der Serienmacher auf dieses Jahr verschoben werden musste. Oder? Tja, es ist eure Entscheidung, uns hier zu widersprechen – aber ihr habt keine Wahl. Den Weg, dass die regulären Folgen erst 2019 erscheinen, haben wir bereits eingeschlagen …
06.01.2019 00:06 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/106316