«Deutschland 86»: Der Sozialismus richtet sich selbst zu Grunde

Währenddessen blüht «Deutschland 86» auf: Die Fortsetzung von «Deutschland 83» ist aufwändig, spannend und thematisch dicht.

Die Crew der Serie

  • Serienschöpfer: Anna Winger, Jörg Winger
  • Chefautorin: Anna Winger
  • Executive Producer: Anna Winger, Jörg Winger, Sebastian Werninger, Ulrike Leibfried
  • Regie: Florian Cossen, Arne Feldhusen
  • Kamera: Matthias Fleischer, Kristian Leschner
"Der Prophet gilt nichts im eigenen Land", heißt es, und 2015 hätte man die Rezeption von «Deutschland 83» kaum besser beschreiben können. International hervorragend besprochen und mit sehr guten Quoten beglückt, machte die UFA-Fiction-Produktion ihren Hauptdarsteller Jonas Nay vor allem im englischsprachigen Raum zu einer großen Nummer. Und in Deutschland? Da explodierten während der Erstausstrahlung bei RTL die sozialen Netzwerke. Nach Monaten der Vorschusslorbeeren aus aller Welt stürzten sich zahlreiche Fernsehende auf jeden noch so kleinen Lapsus in der Serie. Jahrzehntelang herrschte das Vorurteil, Kritiker seien haarspaltende Spaßallergiker, aber wer sich je Facebook- und Twitter-Diskussionen zu «Deutschland 83» durchgelesen hat, sollte von diesem Glauben abfallen.

'Normalzuschauer' verrissen die Serie, weil irgendwelche winzigen Kleinigkeiten in der Kostümgestaltung oder den Bildhintergründen nicht vollauf akkurat der Realität der frühen 80er-Jahre entsprechen würden, und ignorierten derweil sämtliche Vorzüge der Serie. Und mit guten Quoten konnte sich RTL über diese Erbsenzählerei auch nicht hinwegtrösten: «Deutschland 83» fiel mit Anlauf auf die Nase. Das ambitionierte Projekt, innerhalb von drei Staffeln über die Zusammenführung Deutschlands zu sinnieren, schien gestorben.

Aber zum Glück kam es anders: «Deutschland 83» wurde bei Amazon zu einem Erfolg, und nach einigen Verhandlungen wurde bestätigt, dass die Serie dort weitergehen soll – mit einer Zweitauswertung bei RTL. Nun, drei Jahre später, ist es endlich so weit. Auch die Welt innerhalb der Historienserie hat sich weitergedreht. Die zweite Staffel heißt nun «Deutschland 86», spielt konsequenterweise drei Jahre nach der ersten Season und zeigt den Sozialismus, wie er hinter dem Eisernen Vorhang und speziell in der DDR ausgelebt wurde, am Scheideweg. Die Schulden bei der BRD steigen in schwindelerregende Höhen, die Lebensmittelproduktion hält beim besten Willen nicht mit dem Bedarf Schritt und Moskau zeigt Ost-Deutschland nunmehr die kalte Schulter. Internationaler Handel, vor allem mit einträglicher Ware wie Waffen, soll die DDR retten. Vorwürfe, man würde nun Kapitalismus betreiben und die eigenen Ideale verraten, schüttelt man mit stoischem Gesichtsausdruck hinfort.

Kein Wendepunkt in der Geschichte des geteilten Deutschlands ohne Agent Martin Rauch (Jonas Nay): 1983 nach Südafrika verbannt, gelingt er nun dank seiner Tante, HVA-Agentin Lenora Rauch (Maria Schrader), zurück ins Feld. Seine Mission, für die er sich als Waffenhändler ausgeben muss, führt ihn von Südafrika nach Angola, Libyen und Paris bis hin nach West-Berlin und schließlich zurück in seine heimische DDR. Diese Reise konfrontiert unseren Protagonisten mit erbarmungslosen Stellvertreterkriegen, dem Kampf gegen die Apartheid und dem Aufheulen des Terrors in Westeuropa – sowie, natürlich, mit den internen Querelen der DDR-Ranghöchsten. Und erneut reiben sich Martins persönliche, ethische Überzeugungen mit den politischen Bemühungen seiner Vorgesetzten …

Das Showrunner- und Ehepaar Anna & Jörg Winger meistert in «Deutschland 86» einen überaus kniffligen Balanceakt: Einerseits wünscht man sich von einer thematisch dichten, dramatischen Serie wie «Deutschland», dass sie ihre Handlung konsequent und im besten Sinne 'stur' weitererzählt, ungeachtet jeglicher Herausforderungen hinter den Kulissen. Andererseits wäre es wohl niemandem zu verdenken, sollte ihr oder ihm nach drei Jahren Pause die Story von «Deutschland 83» nicht mehr präsent in Erinnerung sein. Was also tun? Den Erzählfluss zwischen Staffel eins und zwei brechen, um eine ungelenke Rekapitulation einzubauen? Einfach weitermachen, als seien nur ein paar Monate vergangen?

«Deutschland 86» geht einen sehr eleganten Kompromiss ein, der sich nahtlos in die Erzählstruktur fügt: Zur Strafe für sein Handeln in «Deutschland 83» wurde Martin in eine südafrikanische Schule "geparkt", abgeschnitten von der Heimat und der Weltpolitik. Als die DDR-Regierung einen Kurswechsel beschließt, wird Martin dank Vetternwirtschaft aus seiner statischen Lage geholt – und dadurch, wie er auf den neusten Stand gebracht wird, erhält das Publikum ganz beiläufig einen Crashkurs in Sachen «Deutschland 83». Der "Wir haben eine Mission, für die wir einen fähigen, aber zur Not verzichtbaren Agenten brauchen"-Aufhänger könnte in ähnlicher Form auch für den Einzelfilm oder die Auftaktstaffel einer Spionageserie herhalten – funktioniert jedoch genauso gut als stimmige Fortführung von «Deutschland 83». Und dass die Story von «Deutschland 86» internationaler ist als die der Vorgängerstaffel, ist eine dramaturgisch sinnvolle, die Fallhöhe vergrößernde Zuspitzung der Ereignisse – und es trägt dem Serienerfolg im Ausland Rechnung.

Stilistische Brüche gibt es trotzdem zwischen den beiden Staffeln – was aber in diesem Fall neutral zu verstehen ist: Anders als das wie aus einem Guss inszenierte «Deutschland 83» lässt «Deutschland 86» seinen Regisseuren etwas Freiraum, ihren eigenen Flair durchschimmern zu lassen. Auf dem Regiestuhl nahmen Florian Cossen («Mitten in Deutschland: NSU - Die Ermittler, Nur für den Dienstgebrauch») und Arne Feldhusen («Magical Mystery») Platz, die ihren einzelnen Episoden einen Hauch Individualität verleihen – ohne die Serie dadurch inkohärent werden zu lassen. Während Cossen etwa in Episode zwei mehrmals visuelle Filmreferenzen einbaut und Lavinia Wilson als Zahnärztin Brigitte Winkelmann im «Die Reifeprüfung»-Stil mit Jonas Nay flirten lässt, verleiht Arne Feldhusen im Staffelauftakt Nays ersten Undercoverauftrag nach drei Jahren Pause eine fast schon «Stromberg»-hafte Situationskomik.

Im Fokus liegt aber weiterhin das Zeitkolorit – und der ständige Vergleich mit dem Heute. Die Serie zieht viel dramatische Ironie daraus, dass schon 1986 Braunkohle als überholt und gefährlich bezeichnet wird oder daraus, welche verblendete Selbstsicherheit viele ranghohe DDR-Entscheidungsträger an den Tag legen. Mitunter übertreibt es «Deutschland 86» mit den "Niemand ist allein in der DDR!"-Scheuklappen, die das Figurenpersonal im DDR-Handlungsfaden so trägt, doch die nuancierten Performances von Anke Engelke als kaltschnäuzige Stasikassenwartin und Sylvester Groth als ranghohes HVA-Mitglied Walter Schweppenstette gleichen das wieder aus. Auch Florence Kasumba überzeugt als Kämpferin gegen die Apartheid, und Lavinia Wilson verdient sowieso mehr Aufmerksamkeit von deutschen Film- und Fernsehschaffenden – das unterstreicht auch ihre Performance in «Deutschland 86».

Mit Fortschreiten der Staffel verdichtet sich dann die Handlung und Nay, der zunächst noch vom Rest des Casts überschattet wird, kann wieder als komplexer Serienheld glänzen – der dieses Mal auch mehr handfeste Action zu durchstehen hat. Dieses Mehr an Schaueffekten hat aber nicht zu bedeuten, dass «Deutschland 86» seichter ist als die Vorgängerstaffel. Denn wie die Wingers dieses Mal minutiös recherchierte, wahrlich nicht zur Allgemeinbildung zählende Fehltritte der DDR in die Staffelhandlung weben und damit auch das Heute reflektieren, ist bei aller künstlerisch freien, narrativen Verdichtung ebenso spannend wie erhellend.

«Deutschland 86» ist ab dem 19. Oktober 2018 bei Amazon Prime abrufbar.
16.10.2018 14:30 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/104482