Hingeschaut

«Schulz & Böhmermann»: Fünf Alphamännchen und ein Mauerblümchen

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Nicht alles gelang bei der Premiere der heiß erwarteten Talkshow-Neuauflage bei ZDFneo: Schulz muss sich noch einspielen, der einzige weibliche Gast fand kaum statt und eine Neuerung floppte grandios. Und doch hob sie sich mit ihrer unverblümten Gesprächsführung gleich wieder positiv vom faden Brei ab.

Gäste der ersten Folge

  • Anika Decker (Drehbuchautorin u.a. von «Keinohrhasen» und «Rubbeldiekatz» und Regisseurin)
  • Gert Postel (Hochstapler, war mehrfach als falscher Arzt angestellt)
  • Jörg Kachelmann (einstiger ARD-Wettermoderator, kämpft seit seinem Gerichtsverfahren u.a. gegen die Berichterstattung von Springer und Burda)
  • Kollegah (deutscher Rapper, dessen letzte beiden Alben jeweils an die Spitze der Charts gelangten)
Als interessantes Gedankenspiel geisterte der Vorschlag, Olli Schulz könne doch Charlotte Roche für eine gemeinsame Talkshow mit Jan Böhmermann beerben, schon seit langem in den sozialen Netzwerken herum. Diese Zusammenarbeit lag nicht nur dank der gemeinsamen Radioshow «Sanft & Sorgfältig» nahe, sondern auch spätestens nach Schulz' mitunter großartigen Folgen seines ProSieben-Formats «Schulz in the Box», in dem er sich durch eine angenehme und vor allem tiefgründige Gesprächsführung auch für ernsthafte Aufgaben fernab seiner «HalliGalli»-Blödelorgien anzubieten wusste. Dennoch dauerte es fast drei Jahre, bis sich die Verantwortlichen auf das gemeinsame Projekt einigen konnten. Nach Sichtung der ersten von insgesamt zunächst nur vier Folgen (plus Best-of) kann schon einmal gesagt werden: Ja, es ist gut, dass es «Schulz & Böhmermann» gibt. Gleichwohl gibt es noch die eine oder andere Stellschraube, an der noch zu arbeiten ist.

Kurz zu den wichtigsten Neuerungen gegenüber dem längst zum Kult avanchierten Original: Nicht nur Schulz ist neu, auch William Cohn setzt in dieser Sendung zunächst einmal aus und lässt Sibylle Berg den Vortritt als Sprecherin der Gästevorstellungen. Diese werden nun nicht mehr mit einem zusätzlichen Einspielfilm ergänzt, sondern erfolgen rein verbal, während die Kamera das Gesicht des jeweiligen Gastes einfängt. Statt fünf Gästen gibt es nun pro Sendung nur noch derer vier, was wohl auch damit zusammenhängen dürfte, dass die Runden in den ersten beiden Staffeln mitunter etwas chaotisch dahergekommen waren. Und dann haben sich die Verantwortlichen noch ein Kartenspielchen ausgedacht - das allerdings so gar nicht aufgehen wollte.

Die Idee dahinter: Jeder Gast und Moderator kann jeweils eine Minute des aufgezeichneten Materials herausschneiden lassen, wenn er mit den allerjüngsten Dynamiken des Gesprächs nicht zufrieden ist. Zusätzlich hat jeder eine grüne Karte, durch die eine Minute lang Dinge erzählt werden können, die nur für die Runde und das Studiopublikum, jedoch nicht für die Menschen vor dem Fernseher bestimmt sind. Beide Karten können jedoch neutralisiert werden, wenn ein anderer Gesprächspartner sie durch eine der anderen Farbe ausgleicht. Klingt erstmal komplex, aber nicht völlig ohne Reiz - ging de facto allerdings völlig nach hinten los: Vier Karten wurden gleich zu Beginn auf einen Haufen geschmissen, mehr als die Hälfe überhaupt nicht eingesetzt. Und die einzige Karte, die eine gewisse Wirkung entfaltete, unterbrach das Gespräch nur unnötig, bewirkte allerdings keine für den Zuschauer ersichtliche Anschlussdynamik. Oder wie Kollegah erfrischend direkt am Ende der knapp einstündigen Sendung urteilte: "Das System ist der letzte Scheiß."

Zum Glück lässt sich selbiges Urteil nicht über den Rest der Sendung fällen, die alles in allem schon ziemlich gut das einzigartige Feeling zurückbrachte, das «Roche & Böhmermann» zu einem solchen Juwel der Fernsehlandschaft machte. Schulz nimmt zu Beginn gleich einmal das Heft in die Hand und fragt Kollegah aus, der nicht nur jede potenziell unangenehme Frage schlagfertig zu kontern weiß, sondern auch eine kleine Panne beim ihm gewidmeten Berg-Kommentar sympathisch abzufedern weiß. Ohnehin ist der oft zu plump als Ghetto-Rapper mit hohem Drang zur Egomanie verschriene Rapper der große Gewinner dieser Folge, da er einen beachtlichen Teil der Sendezeit generiert, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt den Eindruck zu erwecken, nicht Herr der Lage zu sein.

Infos zu «Roche & Böhmermann»

  • Zwei Staffeln mit insgesamt 17 Folgen im Jahr 2012
  • Lief damals noch auf ZDFkultur
  • Konkrete Gründe für die Einstellung wurden nie öffentlich - es hieß nur ganz allgemein, es habe Uneinigkeiten zwischen den Beteiligten gegeben
  • Auszeichnungen: Förderpreis des Deutschen Fernsehpreises 2012 (für Produzenten), Grimme-Preis-Nominierung (ohne Gewinn)
Für alle anderen fünf Menschen am Tisch gilt dies nicht unbedingt: Da ist zum einen Gert Postel, der sich mehrfach in verwirrende Monologe verstrickt, die Moderatoren unangnehm anmotzt und generell eine sehr herablassende Attitüde an den Tag legt. Für die Sendung ist er natürlich Gold wert als äußerst provokativer und umstrittener Charakter, ein Publikumsliebling wird er aber sicherlich nicht. Jörg Kachelmann vermag zwar seine Leidensgeschichte authentisch darzulegen, wirkt dabei aber einmal mehr sehr verbissen und schafft es nicht, für seine jetzige berufliche Tätigkeit in angemessener Form zu werben - geradezu aufdringlich drückt er sein neues Wetterportal den Mitdiskutanten und Zuschauern auf, womit es bestenfalls zum Running Gag verkommt. Und Anika Decker nimmt erst nach knapp der Hälfte der Sendezeit an der Runde aktiv teil, bleibt aber auch danach fast ausschließlich nettes Beiwerk, das bestenfalls von außen gesteuert mal etwas zur Diskussion beiträgt.

Die Moderation der Runde funktioniert gefühlt noch nicht so automatisiert und stimmig verteilt wie noch unter Roche. Schulz hat offensichtlich keinerlei Hemmungen, wirkt von Beginn an nicht nur interessiert und motiviert, sondern nimmt seinem Kollegen sogar über einige Teile der Show hinweg geradezu die Butter vom Brot. Seine Probleme: Wenn er an einem Gespräch persönlich interessiert ist, verbeißt er sich darin ein wenig und verliert das Publikum ebenso aus den Augen wie den Rest der Runde. Und bei Postels sicherlich mehr als nur streitbaren Ausführungen verliert er geradezu die Fassung, zieht über seinen Gast her und verfällt in eine mürrische grundsätzliche Antihaltung ihm gegenüber, die ein wenig Professionalität vermissen lässt. Erstaunlicherweise stellt im letzten Drittel der Sendung fast Kollegah die interessantesten und sachlichsten Fragen an den Hochstapler, da er sich nicht in ihn verbeißt und seine Motive zu verstehen versucht.

Ob diese sehr emotionale Form der Gesprächsführung grundsätzlich negativ zu bewerten ist, kann man sicherlich Auslegungssache nennen. Bei einer positiveren Interpretation ließe sich nämlich auch sagen, dass Schulz hier nicht in die blutleere Moderationsroboter-Langeweile mitsamt weichgespülten 08/15-Fragen verfällt, die konventionelle Talkshows so beliebig machen. Ebenso kann man darüber streiten, ob Schulz und der etwas zurückhaltendere Böhmermann eine stärkere Teilnahme Deckers hätten forcieren sollen: Einerseits überzeugt die Filmemacherin in ihren wenigen Momenten der aktiven Teilnahme durch einen trockenen und durchaus bissigen Humor (gerade Postel gegenüber), andererseits sind ihre Ausführungen zu ihrer Arbeit weitgehend öde und stören den Anarchismus der vier Alpharüden eher, als dass sie ihn befeuern. Schon in der Vergangenheit ließen Roche und Böhmermann immer wieder den einen oder anderen Gast durchs Raster fallen, wenn sie merkten, dass dieser nicht wirklich etwas zu sagen hatte oder die Show-Dynamik ins Stocken brachte.

«Schulz & Böhmermann»: Welcher Gast hat Sie am meisten überzeugt?
Anika Decker
3,6%
Gert Postel
8,2%
Jörg Kachelmann
11,8%
Kollegah
76,4%


Alles in allem ist «Schulz & Böhmermann» ein gelungener Auftakt geglückt, bei dem man vielleicht auch gar nicht hätte erwarten sollen, dass er ohne Pannen und problematische Momente auskommt. Die völlig gefloppte Karten-Idee lässt sich wohlwollend mit "wer nicht wagt, der nicht gewinnt" runterspielen, Schulz gibt der Sendung mit seiner sehr emotionalen Moderationsart eine etwas neue Identität und dass sich Gäste als Unsympathen oder Langweiler herausstellen, ist auch etwas, das für die Beteiligten vielleicht nicht so angenehm sein mag, allerdings einen bleibenderen Eindruck beim Publikum hinterlässt als weichgespülte Promo-Fragen zum neuesten Film oder Album eines Promis. Unterm Strich vergehen die 59 Minuten der ersten Folgen überwiegend wie im Flug und haben etliche erfrischend offene und mutige Momente zu bieten, die es anderweitig wohl kaum zu sehen gibt. Insofern hat das Team um Böhmermann und Schulz schon einiges richtig gemacht - und wird sich hoffentlich in den kommenden Wochen noch etwas steigern können.

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