Die Kino-Kritiker

«Pinocchio» - Das Vergehen an einem Zeichentrick-Klassiker

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Disney lässt derzeit seine Zeichentrickklassiker als Realverfilmungen neu aufleben. Das kann gut gehen oder wird wie bei Pinocchio zum Totalausfall.

Vor 82 Jahren brachte Walt Disney (1901-1966) seinen zweiten abendfüllenden Zeichentrickfilm heraus. Nahm er sich für «Schneewittchen» (1937) noch ein deutsches Grimm-Märchen vor, verfilmte er mit «Pinocchio» ein Kinderbuch des Italieners Carlo Collodi (1826-1890). Entstanden ist damals ein erzählerisches und tricktechnisches Meisterwerk, das noch heute mit seiner gestalterischen Genauigkeit und Detailversessenheit glänzt. Die Figuren werfen im Licht wie selbstverständlich sogar Schatten, was im klassischen Animationsfilm eher Seltenheit hat. Der von Leigh Harline komponierte Song „When You Wish upon a Star“ gewann nicht nur den Oscar, sondern wurde für Disney eine Art Hymne. Jeder Disney-Film beginnt heute mit den Logo des Schlosses, musikalisch untermalt mit den ersten Tönen aus „When You Wish upon a Star“. Nun verfolgt man bei Disney schon seit Jahren die Strategie, Remakes aus den alten Zeichentrick-Klassikern herstellen zu lassen, und zwar als Realfilm mit allen computer- und filmtechnischen Möglichkeiten unserer Zeit. Das gelingt wie bei «Das Dschungelbuch» mal gut, und wie bei «König der Löwen» mal weniger gut. Nun hat es auch «Pinocchio» getroffen - ein Prestigeprojekt unter der Regie des Meisters Robert Zemeckis («Zurück in die Zukunft») und mit Tom Hanks («Forrest Gump») ebenso hochkarätig besetzt. Dass das Resultat aber gar nicht erst ins Kino kam, sondern gleich ins Programm des hauseigenen Streamingdienstes Disney+ genommen wurde, sagt einiges.

Eine Holzpuppe erwacht zum Leben
Die Grille Jiminy sucht ein Nachtquartier und landet bei dem Holzschnitzer Gepetto (Tom Hanks). Der Alte hat gerade eine Marionettenpuppe fertiggestellt, der er das Aussehen seines verstorbenen Sohnes gegeben hat. Er gibt ihr den Namen Pinocchio und wünscht sich vor dem hellsten Stern am Nachthimmel nichts sehnlicher als das aus der hölzernen Puppe ein echter Junge wird. Als sich Gepetto schlafen legt, erscheint tatsächlich eine Fee (Cynthia Erivo), die Pinocchio Leben einhaucht und Jiminy erwählt, fortan auf ihn als dessen Gewissen aufzupassen. Am nächsten Morgen ist Gepetto außer sich vor Freude, verlangt aber von dem Kleinen, tugendhaft zu sein und schickt ihn in die Schule. Dort sind lebendig gewordene Holzpuppen jedoch unerwünscht, und so gerät Pinocchio unter die Fittiche eines verbrecherischen Fuchses und eines räudigen Katers, womit zugleich eine abenteuerliche Reise beginnt.

Alles so wie früher?
Auf den ersten Blick wirkt Disneys ‚neuer‘ Pinocchio wie eine real gewordene Eins-zu-Eins-Kopie des Zeichentrickfilms. Die nun dreidimensionale Puppe ähnelt dem Original tatsächlich wie aus dem Gesicht geschnitten. Hier musste der Disney-Konzern wahrscheinlich gar keine neuen Stofftiere zum Film-Release produzieren lassen, sondern konnte auf die alten Bestände zurückgreifen. Im Design hielt man sich also vollends an die Version von 1940, um damit das gleiche Wohlbefinden und für ältere Zuschauer auch ein bisschen Nostalgie zu transportieren. Auch Tom Hanks sieht dem gezeichneten Gepetto sehr ähnlich. Nur die Grille wirkt im Aussehen eine Spur zu artifiziell, womit sich ihre computeranimierte Herkunft nicht mehr leugnen lässt. Der Fuchs wiederum ist ganz gut gelungen, und am Ende gibt es auch diesmal wieder den monströsen Wal, von dem Pinocchio und Gepetto verschlungen werden. Der tricktechnische Höhepunkt des Films mit dem Wal gerät aber zum Desaster. Allzu oft spürt man, dass Tom Hanks hier in einem Studio vor einer Green Screen agierte und wahrscheinlich kübelweise auch noch mit echtem Wasser übergossen wurde. Man mag darüber hinwegsehen, aber die Frage stellt sich, warum man sich dann überhaupt an ein tricktechnisches Meisterwerk vergeht, wenn der Handlungshöhepunkt dann zu so einem Techniktiefpunkt gerät.



Disney und seine Holzköpfe
«Pinocchio» ist aber auch nicht als Action-Abenteuer gedacht, sondern versteht sich als pädagogisch wertvolle Geschichte über charakterliche Reife. Der Originalgeschichte von Carlo Collodi mangelte es nach Ansicht von Walt Disney ein wenig an Warmherzigkeit, weshalb er schon 1940 einige Änderungen vornahm, um Pinocchio nicht gar zu garstig erscheinen zu lassen. So wird die Grille bei Disney nicht von der Holzpuppe erschlagen, um anschließend als Geist aufzutauchen, sondern ist von Anfang an der gute Wegbegleiter, der nicht erst den Tod finden muss. Diese Abmilderungen wurden selbstverständlich auch fürs Remake übernommen. Abweichungen gibt es dennoch, wenn auch nur minimal.

Neu ist, dass Gepetto diesmal den Tod seines eigenen Sohnes betrauert und das lebendig gewordene Spielzeug als Wiederauferstehung verstanden werden könnte. Doch diese interessante Neuinterpretation, die vielleicht in eine andere Richtung hätte führen können, verpufft ganz schnell wieder, weil sich Regisseur Robert Zemeckis und Drehbuchautor Chris Weitz («About a Boy») dann doch zu akribisch ans Original von 1940 klammern. So werden alle Story-Stationen vom Wanderzirkus, wo Pinocchio im Marionettentheater landet, bis zum Vergnügungspark, wo ungezogene Jungs in Esel verwandeln, brav abgehakt. Hier und dort ein bisschen modernisiert, mit Reminiszenzen zu neueren Disney-Filmen, wenn etwa aus einer Spieluhr der «Toy Story»-Woody entspringt, und mit politisch korrekteren Neubesetzungen. So erscheint etwa die Fee diesmal nicht wie ein blonder Engel, sondern wird von einer kurzhaarigen Afroamerikanerin gespielt. Ansonsten ist den Holzköpfen der Disney-Company aber nichtviel Neues eingefallen. Der reale «Pinocchio» ist damit dann doch nicht mehr als ein Abklatsch des gemalten «Pinocchio».

Fazit: Leider schafft es die Realverfilmung von 2022 nicht, den gleichen Zauber zu entfalten wie die Zeichentrickversion von 1940. Wer also wählen muss, wird mit dem Original garantiert besser bedient.

«Pinocchio» gibt es bei Disney+ zusehen.

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