Interview

Isabell Beer: ‚Investigativ-Journalismus ist sehr männlich geprägt‘

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Die Reporterin Beer arbeitet für das ARD/ZDF-Angebot funk und startete dort die neue Reihe «ultraviolett stories». Schon in der ersten Ausgabe legt man sich mit Porno-Plattformen an.

Sie sind nun bei funk mit einer neuen Reportage-Reihe namens «ultraviolett stories» zu sehen. Wieso ein neues Format und nicht beispielsweise eine Zusammenarbeit mit «STRG_F» oder anderen öffentlich-rechtlichen Projekten?
Wir haben bei funk festgestellt, dass wir mit Investigativ-Recherchen vor allem junge Männer erreichen – dabei geht Investigativ-Journalismus ja uns alle an. Darum haben wir uns gefragt: Warum ist das so? Erzählen wir unsere Recherchen vielleicht nicht so, dass sie auch junge Frauen interessieren? Oder wählen wir zu oft Themen aus, die sie nicht direkt betreffen? Und wie könnten wir das anders machen? Aus diesen Fragen ist in Zusammenarbeit mit «ZDFzoom» das Konzept für «ultraviolett stories» entstanden.

Welchen Unique Selling Point hat das neue Format «ultraviolett stories»?
Gerade Investigativ-Journalismus ist in Deutschland immer noch sehr männlich geprägt, jungen Frauen wird in der Branche oft weniger zugetraut – das musste ich in den letzten Jahren auch selbst erleben. Dabei geht die weibliche Perspektive verloren: Bei einer Undercover-Recherche unter Nazis wird man als Frau zum Beispiel andere Erfahrungen machen als ein Mann. Solche Geschichten wollen wir erzählen, genauso wie Themen, die bislang wenig Beachtung finden oder kaum sichtbar sind. Zudem wollen wir jungen Journalistinnen eine Bühne geben, ihre eigenen Recherchen umzusetzen. Wir arbeiten dabei auch immer im Team. Den größten Unterschied habe ich beim Dreh mit Anna erlebt, mit der ich für die erste Folge gesprochen habe. Wir waren ein reines Frauen-Team, vor und hinter der Kamera, und meine Kolleginnen haben es geschafft, eine Atmosphäre aufzubauen, in der sich Anna bereit gefühlt hat, mit uns über etwas zu sprechen, was sie so noch niemandem erzählt hat. Das war eine große Teamleistung, auch wenn man am Ende nur mich vor der Kamera sieht.

Sie starteten Ihre Arbeit beim „Berliner Kurier“ und gingen auch zur Wochenzeitung „Die Zeit“. Warum sind Sie nicht beim Print-Medium geblieben?
Das war eigentlich mein Plan, doch auf meine Bewerbungen als Investigativ-Journalistin bei Print-Medien habe ich nur Absagen oder gar keine Antworten erhalten. Ich konnte es mir schlichtweg nicht leisten, weiterhin frei als Investigativ-Journalistin zu arbeiten, da Redaktionen in der Regel nicht bereit sind, eine mehrmonatige Recherche einer freien Kollegin so zu bezahlen, dass man davon ansatzweise leben kann. Anstellen wollte mich aber auch niemand. Damals war ich verzweifelt und habe schon befürchtet, dass mein Weg in der Branche an dieser Stelle zu Ende ist. Gerettet hat mich das Angebot, als Investigativ-Journalistin bei funk zu arbeiten – und heute bin ich sehr froh, dort zu sein.

Schon bei der „Zeit“ setzten Sie sich mit Erotik-Plattformen und deren Missbrauch im Internet auseinander, wofür sie auch ausgezeichnet wurden.
Das war Zufall. Bei den Recherchen auf diesem Gebiet ist mir aber aufgefallen, dass ich diese heftigen Bilder und Videos aushalten kann, wo zum Teil auch Gewalt und Missbrauch zu sehen ist – und dass es den meisten Kolleg:innen dabei anders geht, was ich durchaus nachvollziehen kann. Und ich habe festgestellt, dass dort viel Unrecht passiert, über das aber kaum berichtet wird, weil die Aufnahmen so schwer zu ertragen sind. Darum möchte ich dort hinsehen, wo man eigentlich nur noch wegschauen möchte.

In ihrem ersten Film für «ultraviolett stories» wollen Sie mit Ihren Kollegen Missstände aufdecken. Seit 24. November sind Sie im Netz mit einem heißen Eisen: Wieso gelangen Nacktfotos und erotische Videos ohne Einwilligung der Gezeigten auf Pornoseiten?
Auf einigen Pornoseiten kann jeder nach der Registrierung einfach Inhalte hochladen. Oft muss man dann bestätigen, dass man die Rechte an den Aufnahmen hätte – ob das stimmt, wird aber offensichtlich nicht richtig geprüft, sonst wären in Deutschland nicht so viele Menschen – besonders Frauen – davon betroffen. Wie die Recherche gezeigt hat, wird auf einigen Pornoseiten auch nicht ausreichend kontrolliert, wie alt die Personen in den Videos sind. So landet verbotene Jugendpornografie auf legalen Pornoseiten.

Arbeiten die Betreiber von Pornoseiten eigentlich konstruktiv mit den unfreiwillig gezeigten Opfern zusammen oder ist das für die Menschen ein schwerer Kampf?
Es fehlen leider funktionierende Kontrollmechanismen, was zu absurden Situationen führt. Als Anna, die Betroffene aus dem Film, ihre Aufnahmen löschen lassen wollte, forderte die Pornoseite von ihr einen Nachweis, dass sie die Rechte an den Aufnahmen hat. Der Uploader konnte die Aufnahmen aber offenbar ohne Probleme gegen ihren Willen dort hochladen – obwohl sie auf einigen noch minderjährig war und es sich somit sogar um verbotene Jugendpornografie handelte. Und mit jedem Tag, an dem solche Aufnahmen online sind, verbreiten sie sich weiter, bis es nahezu unmöglich ist, sie restlos aus dem Netz zu kriegen. Zu dem Thema wird es bei «ultraviolett stories» in den kommenden Wochen noch einen Anschluss-Film geben, in dem es um genau diese Frage gehen wird. Darin spreche ich mit meiner Kollegin Yannah Alfering vom funk-Format «Der Fall», die für die «Vice undercover» im Löschteam der Pornoseite xHamster gearbeitet hat.

Vor knapp einem Jahr löschten einige Webseiten zahlreiche Bilder und Videos, die nicht authentifiziert waren. War die Aktion glaubwürdig oder eher eine Aktion für die Presse?
Ich denke, das war ein wichtiger Schritt. Es gibt aber leider viele Seiten, auf denen weiterhin solche Inhalte online und sogar gewünscht sind. Es wird hier an vielen Stellen immer noch zu wenig getan und so verdienen einige Seiten weiterhin Geld mit dem Leid von Frauen, die nie zugestimmt haben, dort zu sehen zu sein. Und viele wissen wahrscheinlich gar nicht, dass sie betroffen sind. So ging es einigen Betroffenen, mit denen ich für andere Recherche gesprochen habe.

Sie widmen sich schwierigen Themen. Was machen Sie nach Ihrer Arbeit?
Zwar kann ich Vieles, was ich bei der Arbeit sehe, gut aushalten – aber dennoch macht das natürlich auch was mit mir. Ich denke, es wäre auch eher seltsam, wenn dem nicht so wäre. Darum spreche ich mit Kolleg:innen darüber, das hilft mir sehr. Bei meiner Recherche für «ultraviolett stories» bin ich zum ersten Mal an einen Punkt gekommen, an dem das nicht ausgereicht hat und ich nicht mehr konnte, weil die Aufnahmen so furchtbar waren. Gut war, dass ich im Team offen darüber sprechen konnte und ich schnell Hilfe bekommen habe durch ein psychologisches Coaching bei funk. So habe ich gelernt, mit bestimmten Techniken das Gesehene zu verarbeiten und konnte die Recherche fortführen, ohne dabei psychischen Schaden zu nehmen. Solche Angebote braucht es unbedingt auch in anderen Redaktionen.

Sie arbeiten für das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Vor kurzem hat ProSieben mit «Zervakis und Opdenhödel. Live.» ein eigenes Reportage-Magazin gestartet. Warum hat es Sie nicht dahin verschlagen?
Ehrlich gesagt wollte mich noch niemand zum Privatfernsehen abwerben (lacht). Darum kann ich auch nichts zu den Aussichten dort sagen. Ich kann aber sagen, dass ich mich bei funk sehr wohl fühle und das sage ich nicht, weil das hier meine Chefs lesen. Ich habe noch nie zuvor in so einer tollen Arbeitsatmosphäre recherchiert, in so einem tollen Team und es tut unfassbar gut, als Mensch in einer Redaktion wahrgenommen zu werden und nicht nur als Journalistin, die funktionieren muss.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

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