First Look

«Ratched»: Wie Netflix und Ryan Murphy einen Filmklassiker verwüsten

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Die Psychiatriepflegerin aus «Einer flog über das Kuckucksnest» ist eine der faszinierendsten Figuren der amerikanischen Filmgeschichte. Das Netflix-Prequel versteht sie leider nicht.

Cast & Crew

Produktion: Further Films, Lighthouse Management + Media, Ryan Murphy Television und Touchstone Television
Schöpfer: Evan Romansky
Entwickelt von: Ryan Murphy
basierend auf dem Roman «Einer flog über das Kuckucksnest» von Ken Kesey und der gleichnamigen Filmadaption
Darsteller: Sarah Paulson, Finn Wittrock, Cynthia Nixon, Jon Jon Briones, Charlie Carver, Judy Davis, Sharon Stone
Executive Producer: Aleen Keshishian, Margaret Riley, Jacob Epstein, Michael Douglas, Robert Mitas, Jennifer Salt, Sarah Paulson, Ian Brennan, Tim Minear, Alexis Martin Woodall und Ryan Murphy
Mildred Ratched ist wahrscheinlich eine der bösartigsten, gemeinsten und furchterregendsten Figuren der amerikanischen Filmgeschichte. Anders als etwa beim Joker aus dem «Batman»-Franchise speist sich ihr Schrecken jedoch nicht aus einer soziopathischen Unberechenbarkeit. Sie braucht auch keine Maske wie die «Scream»-Killer und deren Trittbrettfahrer, um den Zuschauer stundenlang unter Spannung zu setzen, oder ein zerschundenes Äußeres wie Freddy Kruger. Was an der leitenden Psychiatriepflegerin aus «Einer flog über das Kuckucksnest» stattdessen so verstört, ist ihr unerbittlicher Dominanzanspruch, das systematische Tyrannisieren ihrer Patienten zur eigenen Selbsterhöhung, das sie hinter einem Lächeln und einer unscheinbaren, alltäglichen Sprache versteckt. Nurse Ratched ist die Quintessenz institutionalisierter Brutalität, sie kann willkürlich entscheiden, ob ihre Untergebenen weiterleben dürfen oder mittels transkranialer Lobotomie faktisch aus dem Leben scheiden, wenn sie ihr auf die Nerven gehen. Sie ist das weichere amerikanische Pendant zur auch äußerlich härteren deutschen KZ-Aufseherin (nur dass Werke wie «Der Vorleser» letztere Rolle mittlerweile mit befremdlicher Sanftmut anlegen): Beide sind Herrinnen über Leben und Tod, beide müssen sich bei dieser Entscheidung faktisch nicht an objektive Kriterien halten, beide können ohne nennenswerte äußere Kontrolle schalten und walten und dabei Menschenleben auslöschen.

Die Frage, wie Nurse Ratched zu all dem geworden ist, ist dabei literarisch und filmisch uninteressant, vielleicht auch gar nicht kohärent zu beantworten, selbst wenn man es versuchte: Das Böse kennt keine Erklärung, zumindest keine logisch oder emotional nachvollziehbare. Some people just want to see the world burn, ist noch einer der psychologisch saubersten und klügsten Analysen, und hinsichtlich ihrer inhaltlichen Überzeugungskraft immer noch recht dürftig. Auf eine Figur wie Nurse Ratched dürfte das in besonderer Weise zutreffen: Denn jeder Versuch, aus ihrer Biographie heraus zu erklären, warum sie ein paar Jahre später lästigen Patienten den präfrontalen Kortex zerschneiden lässt, würde ihre dramaturgische Funktion entwerten: Die Gesellschaft vernichtet ihr unliebsame Individuen in schier wahlloser Weise und findet dafür willige Erfüllungsgehilfen (Ratched), weil diese wiederum ernsthaft denken, damit einen wertvollen Beitrag zu einem erstrebenswerten großen Ganzen zu leisten.

Netflix wollte es trotzdem versuchen, in Form der achtteiligen ersten Staffel von «Ratched», in der Sarah Paulson in Louise Fletchers Fußstapfen tritt. Wo Sarah Paulson ist, kann in diesen Tagen auch Ryan Murphy nicht weit sein. Und in der Tat: Zwar begnügt sich Murphy hier „nur“ mit einem Developed-by- und Executive-Producer-Credit, während als Creator Evan Romansky fungiert. Trotzdem ist Murphys eigenwilliger Stil, der jeden Anflug von erzählerischer Ernsthaftigkeit spätestens im letzten Staffeldrittel hemmungslosem, effektgeilem Nonsens opfert, unübersehbar.

In der Vorstellung von Romansky und Murphy ist Nurse Ratched in den späten vierziger Jahren sublimiert homosexuell und von ihren Kriegserlebnissen im Pazifik sowie ihrer Kindheit im Pflegefamilienkarussell traumatisiert. Die einzige noch lebende Bezugsperson ist ihr „Bruder“ (Finn Wittrock) aus Kindertagen, der nun im Keller einer psychiatrischen Anstalt auf seine Hinrichtung wartet, weil er mit bestialischer Brutalität vier Priester abgeschlachtet hat, von denen einer seine leibliche Mutter geschwängert und dann in der Gosse sitzen gelassen hatte. Die Psychiatrie wird unterdessen von dem obskuren Dr. Hanover (Jon Jon Briones) geführt, dessen unorthodoxe Therapiemethoden einem gemeingefährlichen jungen Mann Arme und Beine gekostet haben, woraufhin dessen stinkreiche Mutter (Sharon Stone) ein Kopfgeld auf den Scharlatan ausgesetzt hat. Murphy halt.

Auch in der Darstellung des psychiatrischen Alltags im Nachkriegsamerika ist Murphy leider kein Grausen zu abscheulich, um daraus eine große Show zu machen. Natürlich gilt Dr. Hanover in dieser Farce gewissermaßen als Übervater der transorbitalen Lobotomie, die er stolzgeschwellt seinem faszinierten bis erbrechenden Fachpublikum vorführt. Dass Lesben in Form von brühheißen Wechselbädern ihre „sexuelle Abartigkeit“ ausgetrieben werden sollte, ist ebenfalls ein gefundenes Fressen, um das Publikum eine Viertelstunde lang genüsslich zu schockieren. Und wenn im letzten Drittel ein pfiffiges Plot Device gebraucht wird, um weite Teile des Stamm-Casts wegzumetzeln, ist eine traumatisierte Schwarze mit allerhand durchgeknallten multiplen Persönlichkeiten nicht weit.

Dass Murphy fast nie ein Interesse an der Psychologie seiner Figuren hat, dass ihm Show immer vor Substanz geht und er jeden warmen, ernsthaften Moment nahezu unverzüglich mit der nächsten, gerne depperten, aber Hauptsache: schneidigen Wendung konterkarieren muss, überschreitet im Kontext der bekannten amerikanischen Psychiatrieverbrechen erstmals die Schwelle vom Bescheuerten zum Unappetitlichen. Da wirkt es nicht nur befremdlich, dass die ruhige, bedachte, menschenfreundliche und dabei erzählerisch außerordentlich effektive Film-Adaption des «Kuckucksnest»-Stoffs aus dem Jahre 1975 mit Jack Nicholson und Louise Fletcher eine viel progressivere Botschaft hat als das geifernde Klapsmühlenmassaker des ansonsten so woken Ryan Murphy fast ein halbes Jahrhundert später. Mit seiner oberflächlichen Neuinterpretation der zentralen Figur Nurse Ratched läuft er ferner Gefahr, die wunderbare Sanftmut jenes gefeierten Werks zu entweihen, wenn nicht gar ad absurdum zu führen. Man könnte meinen, da sei auch im Writer's Room irgendwo ein Eispickel im Spiel gewesen.

«Ratched» ist bei Netflix abrufbar.

Kurz-URL: qmde.de/121627
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