Die Kritiker

«I’m Thinking of Ending Things»: Bitte setze hier deine existenzielle Krise ein

von

Der neue Film von «Being John Malkovich»-Autor und «Anomalisa»-Regisseur Charlie Kaufman ist ein echtes Kunstwerk.

Filmfacts «I’m Thinking of Ending Things»

  • Regie: Charlie Kaufman
  • Produktion: Stephanie Azpiazu, Anthony Bregman, Robert Salerno, Charlie Kaufman
  • Drehbuch: Charlie Kaufman; basierend auf dem Roman von Iain Reid
  • Cast: Jesse Plemons, Jessie Buckley, Toni Collette, David Thewlis
  • Musik: Jay Wadley
  • Kamera: Łukasz Żal
  • Schnitt: Robert Frazen
  • Laufzeit: 134 Minuten
"Ich denke darüber nach, Schluss zu machen. Einmal gedacht, wird man diesen Gedanken nicht wieder los. Er bleibt und beherrscht einen", haucht sie gedankenverloren. "Er ist da, wenn ich esse, wenn ich ins Bett gehe, während ich schlafe, und wenn ich wieder aufwache. Dieser Gedanke ist immer präsent", stellt sie fest, mit der zugleich sanftesten wie vehementesten Energie, die man hauchend geflüstert über die Lippen bringen kann. "Immer. Ich denke noch nicht lange darüber nach. Die Idee ist neu. Aber gleichzeitig fühlt sie sich sehr vertraut an. Wann fing das Ganze eigentlich an?", fragt sie sich, und da ich schon wenige Augenblicke nach Filmbeginn mit dem Kopf in den Wolken stecke, die sich "Wie behandle ich den Film für meinen Auftraggeber?" nennen, und irgendwas in mir beschlossen hat, die zweite Charlie-Kaufman-Realfilm-Regiearbeit nicht mit einer handelsüblichen Kritik nach üblichem Schema abzugelten, sucht mein Langzeitgedächtnis bereits nach einem frühen Artikel von mir, der in einem ähnlichen, grüblerischen Gedankenstromstil gehalten wurde. Wenn ich schon dabei scheitere, mich vor Kaufman zu verneigen, so will ich wenigstens ein paar Klicks abgreifen.

Sie beißt sich weiter fest in ihren Zweifeln: "Und was, wenn das gar nicht mein Gedanke ist, sondern ein fremder?" Sie, von der ich hier berichte, ist "Die junge Frau". Oder "Louisa". Oder "Lucy", Oder doch "Cindy"? Egal. Die Protagonistin halt. Diese von Jessie Buckley so eindringlich verkörperte. So vermeintlich mühelos überaus komplex ausgefüllte. Diese enorme Sogkraft aufweisende. Überaus spezifisch angelegte. Und doch großes "Denk dir deinen eigenen Teil"-Identifikationspotential mitbringende Frau mit rostroten Haaren und sich beim Lachen kräuselnder Nase, deren Gedanken einen großen Teil von «I’m Thinking of Ending Things» ausmachen.

Vielleicht ist es ihre Fähigkeit, allein mit den Augen ein inneres Lachen auszudrücken, oder ihr Können, durch ein schmales Nicht-mehr-Lächeln enorme Verlorenheit zu vermitteln. Aber Buckley bringt einen enormen Brie-Larson-Vibe mit sich, so dass es mir überdeutlich wird, dass diese Rolle anfangs für den «Captain Marvel»-Star vorhergesehen war. Aber auch wenn der Netflix-Algorithmus Larson gewiss lieber gehabt hätte. So ist es eine gute Sache, dass Buckley die Rolle hat. Sie ist die unbeschriebene Brie, die Brie von vor fünf, sechs, sieben Jahren, was dem Kaufman-Element des "Ich habe eine klare Vision, was mein Film bedeutet, und es gibt genügend Hinweise, ihr auf die Schliche zu kommen – aber spiegle gern da rein, was dir in den Sinn kommt" zuspielt.

Buckley ist einfach eine Wucht. Ihr vielschichtiges Spiel, ausgeführt durch die winzigsten mimischen und gestischen Bewegungen, wie halt einer sich kräuselnden Nase oder schleichend direkt in die Kamera wandernder Pupillen, lässt mich unentwegt nachdenken. Assoziieren. Reflektieren. Und doch füllt ihre Präsenz, ihr Stimmvolumen … Dieses sporadische Ausbrechen hoch expressiver Mundbewegungen beim Sprechen, das sie ihrer Rolle aufzwängt. Es zieht mich in den Film herein. Während mein Kopf rattert und rattert, kleben meine Augen und meine Aufmerksamkeit an dieser Figur, die vielfache Bezeichnungen erhält, über die Dauer des Films verteilt. Die frisch gebackene Freundin eines Bauernsohns, mit an seine «Game Night»-Rolle erinnernder, sozial ungeschickter Intensität versehen von Jesse Plemons. Jessie und Jesse – Zufall oder will Kaufman mir was sagen? Nicht weiter rätseln, wieder hinschauen. Sich in Lucys Gefühlswelt saugen lassen.

Schau ihn dir doch nur an


Sie will nicht mehr. Diese Beziehung macht sie nur unglücklich. Er ist creepy. Macht sich falsch-bescheiden klein und labert sie dann voll. Fragt bei Kleinigkeiten sehr genau nach, und dann trifft er andere Entscheidungen, größere, frei Schnauze. Girl, I feel you! Wer kennt sowas nicht? Es muss ja nicht der feste Freund seit wenigen Wochen sein. Es kann auch der langjährige Lebensabschnittsmitmensch sein. Wer aus dem Kollegium, oder der Familie. Oder die Person im Freundeskreis, die runterzieht und ausbremst und einfach abdriftet, während du, also ich, also man, also eins … auf dem Beifahrersitz festsitzt und rausschaut. Fragend, wann man ankommt.

Die Erzählerin (?) von «I’m Thinking of Ending Things» hadert mit dem Beenden einer Sache. Hat ein (vorschnelles?) Vorab-schlechtes-Gewissen. Vorab-schlechtes-Gewissen? Wer war nie in einer vergleichbaren Situation? Selbst, wenn wir Kaufmans Brotkrumen nicht folgen, um seine Story, basierend auf einem Roman, zu entschlüsseln, wie er es sich dachte, gibt «I’m Thinking of Ending Things» viel her. Kaufman schrieb stets feministisch, behandelte kaputte männliche Wahrnehmung, Gefühlstaubheit und eingebildete Deutungshoheit, dann immer mit großer Sympathie für die Kollateralschäden. Und manchmal mit Mitleid für jene, die sich in Gefühlstaubheit haben lenken lassen. Erstmals aber setzt er in «I’m Thinking of Ending Things» eine Frau ans Steuer. Nun ja. Nicht innerhalb der Erzählung. Da fährt ihr Freund, Jake. Aber sie ist der Fokuspunkt der Story. Die, deren Gedankenwelt das Geschehen filtert. Zumindest lange.

Rückblick am Galaabend


Sprung nach vorne. Nach dem Film fällt es mir wieder ein. Kaufman hat eine irrsinnig große Fanbase unter Transgendern. Und frühe Stimmen über «I’m Thinking of Ending Things» spiegelten diesen Aspekt sehr energisch wider, und es gibt Schreibende, die besser und vor allem befähigter erklären können, weshalb. Es ist eine sehr überzeugende Interpretation. Sucht sie. Oder lasst es. Bleibt bei eurem Ansatz. Euren Gedanken und Gefühlen. Denn das Schöne an «I’m Thinking of Ending Things»: Es ist allgemeingültig durch Spezifischsein. Trans-Deutung, feministische Lesart, Demenz, die metaphorische Verdeutlichung des Gefühls, kein Gespür mehr für den Verlauf der Zeit zu haben. Reue, etwas getan zu haben. Reue, es nicht getan zu haben. Irgendwie passt es alles. Und doch ist der Film nicht beliebig.

«I’m Thinking of Ending Things» ist, wie oft in guter, surrealer Kunst, reine Interpretationssache. Und doch nicht leer. Vielsagend und dennoch zugänglich, sofern man einfach vorher durchatmet, hinschaut und sich auf die Wirkung einlässt. Und sei es für manche halt "nur" ein Film, der zeigt, wie sich eine Frau fühlt, die Schluss machen will, aber dauernd hadert, und dann in der Monotonie versackt. Und die Eltern ihres Freundes creepy findet. Und die genauso lacht wie seine Mutter. Was sie selber nicht bemerkt, aber durch Schnitt-Gegenschnitt uns unter die Nase gerieben wird. Und creepy ist.

Kaufman inszeniert «I’m Thinking of Ending Things» mit stetigen kleinen, sporadischen enormen Kuriositäten. Mit einer dichten, aber uneindeutigen Atmosphäre. Tiefschwarzer Humor, wehmütig vergilbter Kummer, erdrückende Angst, die man an keinem spezifischen Punkt festmachen kann und daher nur ein "Stell dich nicht an" ernten würde, spräche man sie an. Liebevolle Details erfüllen die Szenerie. Zeichentrickelemente bringen automatische Pluspunkte, da kann ich nicht anders.

Und die Monologe halt. Oh, die Monologe. Ich musste mich zusammenreißen, hier nicht einfach drei Viertel des Films zu zitieren. Sondern nach dem Intro, also dem meiner Kritik und des Films, mit den Zitaten aufzuhören. Um euch was zu lassen. Zum Entdecken. Wow, Kaufman hat selten schöner Worte aneinandergereiht. Und ihr: Geht den Rest des Weges allein. Was ich denke, habe ich euch schon eingepflanzt. Also beende ich diese Kritik. Abrupt? Konsequent? Zu spät?

"Vielleicht wusste ich es von Anfang an. Und es stand schon immer fest, dass es so enden würde."

«I’m Thinking of Ending Things» ist auf Netflix abrufbar.

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